Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung
Inwiefern kann der pädagogische Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung zur Verwirklichung von Inklusion in Kindertageseinrichtungen beitragen?
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Hauptteil
2.1 Inklusion als Herausforderung für die (früh-)pädagogische Praxis
2.1.1 Was ist Inklusion?
2.1.2 Die aktuelle empirische Situation
2.1.3 Aufgaben inklusiver (früh-)pädagogischer Praxis
2.2 Der Ansatz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung
2.2.1 Was ist vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung?
2.2.2 Entwicklungspsychologische Grundlagen
2.2.3 Förderung von Inklusion durch vorurteilsbewusste
Bildung und Erziehung
III. Schlussteil
Literaturverzeichnis 18
I. Einleitung
„Das größte Manko der Gesellschaft ist, das Anderssein nicht verstehen zu können. Aus dem Nichtverstehen heraus etikettiert man.“ (Pablo Pineda, 2009)[1]
Von Anfang an sammeln Kinder durch den Kontakt zu anderen Menschen Erfahrungen mit sozialer Vielfalt. Sobald sie in der Lage sind, Gemeinsamkeiten und Unterscheide zwischen Menschen wahrzunehmen, bemerken sie auch, dass besonderst Unterschiede gesellschaftlich bewertet werden. Kinder lernen schnell, ihre eigenen Schlüsse aus den Positionen ihres sozialen Umfelds zu ziehen und nehmen schon früh selbst Katego-risierungen und Bewertungen anhand bestimmter Identitätsmerkmale vor: Sie argumen-tieren als Junge oder Mädchen, mit ihrem Alter oder äußern sich in Bezug auf Herkunft, Religion und Behinderung. Die Art und Weise wie Kinder soziale Diversität in ihrem privaten Umfeld aber auch im öffentlichen Raum, wie beispielsweise in pädagogischen Einrichtungen, erleben, nimmt Einfluss auf die Bildung ihrer Identität, ihre moralische Entwicklung und ihren Lernerfolg in Bildungsinstitutionen.
Umso relevanter scheint es, dass die Kindertageseinrichtung ein Ort ist, wo sich jedes Kind unabhängig von seiner Herkunft, Familie und seinen Fähigkeiten willkommen fühlt und wo die Anerkennung gesellschaftlicher Vielfalt mit dem Abbau von Bildungs-barrieren verknüpft wird. (vgl. Wagner 2017, S. 10, 27ff.) Insbesondere im Kontext der Flüchtlingswelle 2015 und im Rahmen des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Vereinte Nationen) ist der kompetente Umgang mit Diversität durch Fachkräfte in deutschen Kindertageseinrichtungen wichtiger denn je. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 hat sich Deutschland zur Verwirklichung von Inklusion im Bildungswesen verpflichtet und so mit dem Ziel übereingestimmt, die Teilhaberechte und Chancengleichheit behinderter Menschen zu erhöhen. Betrachtet man die empirische Ausgangslage zeigt sich, dass bis zur Erfüllung dieses Ziels im Elementarbereich[2] allerdings noch viel Arbeit geleistet werden muss. Hinsichtlich dessen kann wissenschaftliche Forschung über die Bedingungen, die sich begünstigend oder erschwerend auf die Umsetzung einer inklusiven pädagogischen Praxis auswirken, zur Implementierung von Inklusion im Elementarbereich beitragen. Betrachtet man den aktuellen Forschungsstand aus erziehungswissenschaftlicher Per-spektive fällt auf, dass zwar eine Vielzahl an Literatur zur Thematik der Inklusion existiert, diese sich jedoch oft durch Vagheit und Abstraktion auszeichnet und es daher an tragfähigen pädagogischen Praxiskonzepten mangelt (vgl. Borke & Keller 2014, S. 93f.).
Ein Praxiskonzept, welches den Umgang pädagogischer Fachkräfte mit Pluralität im Elementarbereich aufgreift und das Recht auf Bildung mit dem Recht auf Schutz vor Diskriminierung verbindet, nennt sich vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung. In der vorliegenden Hausarbeit soll untersucht werden, inwiefern der pädagogische Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung die Verwirklichung von Inklusion in Kindertageseinrichtungen fördern kann. Damit soll ein wissenschaftlicher Beitrag dazu geleistet werden, auf der einen Seite realitätsnahe Kriterien für die erfolgreiche Imple-mentierung von Inklusion in (früh-)pädagogischen Einrichtungen zu identifizieren und andererseits Barrieren aufzuspüren, welche der Realisierung einer inklusiven pädago-gischen Praxis im Wege stehen. Methodisch soll hierfür die einschlägige Forschungs-literatur inhaltsanalytisch ausgewertet werden. Literatur zum Ansatz der vorurteils-bewussten Bildung und Erziehung findet sich im deutschsprachigen Raum vor allem bei Petra Wagner - weiterhin sind im internationalen Kontext die Werke von Louise Derman-Sparks, die als Begründerin des Anti-Bias-Approach gilt, relevant. Der Arbeit liegt die hypothetische Annahme zugrunde, dass neben politisch-rechtlichen und administrativen Faktoren die institutionelle Ausgestaltung von Kindertageseinrich-tungen wie auch das konkrete pädagogische Handeln maßgeblichen Einfluss auf die Verwirklichung von Inklusion nehmen.
Ausgehend von dieser Hypothese setzt sich der erste Abschnitt des Hauptteils zunächst einführend mit dem Konzept der Inklusion auseinander, um darauf aufbauend die aktuelle empirische Situation in Deutschland hinsichtlich der Umsetzung einer inklu-siven Pädagogik in Kindertageseinrichtungen zu beleuchten und um die konkreten Aufgaben einer (früh-)pädagogischen Praxis genauer zu definieren. Wichtig für das korrekte Verständnis der Arbeit ist es, dass Inklusion hier als pädagogisches Konzept verstanden wird, welches alle Formen der gesellschaftlichen Pluralität einbezieht und sich nicht nur auf die Verbesserung der Rechte behinderter Menschen konzentriert wie es von der öffentlichen Meinung oftmals angenommen wird. Im zweiten Teil des Hauptteils wird das pädagogische Konzept der Inklusion mit dem Ansatz der vorur-teilsbewussten Bildung und Erziehung verknüpft. Zu Beginn wird hierfür vorurteils-bewusste Bildung und Erziehung als pädagogisches Praxiskonzept genauer definiert, indem die traditionellen Wurzeln wie auch die inhaltlichen, methodischen und didak-tischen Prinzipien des Ansatzes genauer konkretisiert werden. Der darauf folgende Abschnitt widmet sich basierend auf den entwicklungspsychologischen Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung den Fragen, welche Auswirkungen Aus-grenzung und Benachteiligung auf die Entwicklung von Kindern haben und wodurch Vorurteile und Diskriminierung unter Kindern in pädagogischen Einrichtungen ver-mieden werden können. Von diesen Ausführungen ausgehend kann die Forschungsfrage im letzten Abschnitt des Hauptteils beantwortet werden: Der pädagogische Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung bietet hinsichtlich der Verwirklichung einer inklusiven pädagogischen Praxis Orientierung und Anleitung für pädagogische Fach-kräfte sowie für Träger und Leitung von pädagogischen Einrichtungen und lässt sich mit seinen inhaltlichen, methodischen und didaktischen Grundlagen als bereits in der Empirie erprobte Arbeitshilfe verstehen. Vor allem auf der Ebene der Kinder, der Ebene der pädagogischen Fachkräfte und auf der Ebene der pädagogischen Einrichtung kann vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung zur Implementierung von Inklusion in Kindertageseinrichtungen beitragen. Der sich anschließende Schlussteil vollendet die Arbeit, fasst nochmals die wesentlichsten Ergebnisse zusammen und weist auf noch offene Fragen hin.
II. Hauptteil
2.1 Inklusion als Herausforderung für die (früh-)pädagogische Praxis
2.1.1 Was ist Inklusion?
Der Begriff der Inklusion zeichnet sich durch seine Mehrdeutigkeit aus und wird im Rahmen interdisziplinärer Forschung vielfältig diskutiert. Aufgrund des begrenzten Rahmens wie auch des thematischen Kontexts wird Inklusion in dieser Hausarbeit ausschließlich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive betrachtet, auch wenn hier ebenfalls keine einheitliche Definition des Begriffs existiert. (vgl. Joyce-Finnern 2017, S. 15)
Der pädagogische Ansatz der Inklusion hat sich in Deutschland aus der Tradition der Integrationspädagogik der 1970er Jahre entwickelt, weshalb Inklusion in der einschlä-gigen Literatur oft nicht trennscharf vom Prinzip der Integration abgegrenzt wird (vgl. ebd.). Während Integration aber vor allem auf die Teilhabe von Menschen mit Behin-derungen in Bildungsinstitutionen abzielt, die sonst von Ausgrenzung bedroht wären, bezieht sich das Konzept der Inklusion auf alle Dimensionen der gesellschaftlichen Vielfalt, welche als bereichernd für die Gemeinschaft und als Teil derer anerkannt werden. Eine heterogene Gesellschaft wird als wünschenswert verstanden, woraus sich die Notwendigkeit des Wandels des Bildungssystems hin zu einer Pädagogik der Vielfalt ergibt, um den individuellen Bedürfnissen aller Mitglieder der Gemeinschaft gerecht werden zu können sowie um das Ziel der Bildungsgerechtigkeit anzustreben. (vgl. Albers 2011, S. 13f.)
Im Gegensatz zur Integrationspädagogik werden Menschen beim inklusiven Ansatz nicht in Gruppen mit und ohne Förder- und/oder Therapiebedarf unterteilt, sondern trotz ihrer Individualität als gleichermaßen wertvoll betrachtet. Während in integrativen Einrichtungen vom einzelnen Kind und dessen teils von der Norm abweichenden Bedürfnissen ausgegangen wird, steht bei der Inklusion die Frage im Fokus, wie eine pädagogische Einrichtung gestaltet werden muss, damit diese für alle Kinder gleicher-maßen zugänglich ist und die besten Bildungsbedingungen für alle schafft. (vgl. Borke & Keller 2014, S. 93) Das bedeutet nicht, dass nach dem Konzept der Inklusion alle Menschen gleich sind, sondern impliziert vielmehr das Verständnis, dass alle Indi-viduen trotz ihrer Diversität die gleichen Rechte innehaben sollten.
Inklusive Pädagogik geht schlussfolgernd weit über das Konzept der Integration hinaus: Für die erfolgreiche Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems ist ein gesellschaft-liches wie auch bildungspolitisches Umdenken auf der Grundlage von Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt notwendig. (vgl. ebd., S. 15.; Groschwald & Rosen-kötter 2015, S. 9ff.)
2.1.2 Die aktuelle empirische Situation
Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 hat frischen Wind in die Inklusionsdebatte gebracht. Die Konvention beinhaltet sowohl das Ziel, die Diskri-minierung von Menschen mit Behinderung zu unterbinden als auch ihre Chancengleich-heit auf gesellschaftlicher Ebene zu fördern. Politische Entscheidungsträger wie auch Bildungsinstitutionen stehen nun vor der Herausforderung, die Nachfrage nach einem inklusiven Bildungssystem auch zu befriedigen. (vgl. Albers 2011, S. 14, 26f.)
Die aktuelle pädagogische Praxis im vorschulischen Bereich zeigt, dass bis dahin noch große Hürden zu überwinden sind: Zwar besuchen 95 Prozent der Kinder ab dem Alter von vier Jahren eine Kindertageseinrichtung (Stand 2014), jedoch wird bei genauerer Betrachtung der Zusammensetzung der Betreuungszahlen deutlich, dass das Risiko der Exklusion und Segregation für bestimmte gesellschaftliche Gruppen nach wie vor er-höht ist. Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf zwischen drei und sechs Jahren werden bundesweit noch in ca. ein Drittel der Fälle in separaten Settings betreut. (vgl. Joyce-Finnern 2017, S. 19) Behinderte Kinder und deren Familien können zudem erst dann von sonder- oder heilpädagogischen Unterstützungsmaßnahmen profitieren, wenn ein spezifischer Förderbedarf festgestellt wurde und sind dadurch mit einem durch Ver-waltungshürden erschwerten Alltag konfrontiert (vgl. Albers 2011, S. 14f.).
Eine weitere Auffälligkeit wird bei der Betrachtung der Betreuungsquote von drei bis sechsjährigen Kindern mit Zuwanderungshintergrund deutlich (Stand 2013): Deren Betreuungsquote in Tageseinrichtungen und Tagespflege lag 13 Prozent unter der Quote von Kindern ohne Zuwanderungshintergrund. Tendenziell lässt sich seit 2006 zudem eine leichte Verstärkung der Segregationstendenzen bei Kindern mit nicht deutscher Familiensprache beobachten. (vgl. Joyce-Finnern 2017, S. 19)
Gegenwärtig betreffen ungleiche Bildungschancen in Deutschland außerdem vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder Kinder alleinerziehender Eltern, Kinder mit Fluchterfahrung, Kinder aus Roma-Familien wie auch Kinder mit muslimischem oder jüdischem Glaubenshintergrund. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass soziale Zugehörigkeiten bereits im Kindesalter den Zugang zu relevanten gesellschaft-lichen Ressourcen wie Bildung beeinflussen - insbesondere für gesellschaftliche Min-derheiten oder Menschen in konfliktträchtigen Lebenslagen besteht deshalb ein erhöhtes Risiko, von Benachteiligung, Diskriminierung oder Ausgrenzung betroffen zu sein. (vgl. Wagner 2017, S. 15f.)
2.1.3 Aufgaben inklusiver (früh-)pädagogischer Praxis
Es stellt sich die Frage, wie pädagogische Prozesse zu gestalten sind, damit sie die verschiedenen Bedürfnisse aller Kinder berücksichtigen. Die empirische Erfahrung zeigt, dass bei Strategien, welche alle Kinder gleich behandeln, das Risiko besteht, dass bereits vorhandene Ungleichverhältnisse noch vergrößert werden können. Andererseits führt die Selektion „auffälliger“ Kinder, beispielsweise durch homogene Gruppen, häufig zu einer Verstärkung ihrer Sonderposition. (vgl. Wagner 2017, S. 14) Trotz der sich teils stark unterscheidenden Strukturen, Konzepte und Arbeitsweisen in deutschen Kindertageseinrichtungen ist es einerseits wichtig, Barrieren zu identifizieren, die einer effektiven inklusiven Praxis im Wege stehen können, wie auch andererseits Kriterien zu entwickeln, welche die Implementierung von Inklusion im Bildungssystem fördern und als hilfreiche Ansatzpunkte für Kitas und Fachpersonal fungieren können. (vgl. Joyce-Finnern 2017, S. 20)
[...]
[1] Zitat entnommen: Joyce-Finnern 2017, S. 9
[2] Elementarbereich: 1. Stufe im deutschen Bildungswesen. Fasst Institutionen der vorschulischen Förderung, Bildung und Betreuung von Kindern im nicht schulpflichtigen Alter zusammen.