Die Perspektive des "momentan Gesunden", der über den "überspitzten Irren" und den "Depressiven" schreibt, ermöglicht eine Distanzierung vom Selbst und damit einen Text, der als Plädoyer, Erklärungsversuch, ja Entschuldigung gelesen werden kann. Der Erzähler verortet sich in der Gegenwart und im "momentan gesunden Geisteszustand", Rückbezüge hierauf dienen als Anker der Realität – auch im Paratext, indem die Voranstellung der Jahreszahl bei einzelnen Episoden eine Chronologie und eine Verknüpfung mit medial dokumentierten Auftritten des Autors ermöglichen.
Auch in Melles explizit formulierten Anspruch einer möglichst realistischen Darstellungsweise wird das Bemühen um eine Festschreibung der Wahrheit, der Normalität, deutlich. Diese Autoreflexion des Schreibens und der Literarisierung des Erlebten ist ein weiterer Distanzierungsmechanismus, dessen sich Melle im vorliegenden Text bedient.
Inhalt
1 Einleitung
2 Die Perspektive des Erzählers
2.1 Zeichen der Zuverlässigkeit
2.2 Das erzählte Ich und das erzählende Ich
2.3 ‚Free Indirect Style‘
3 Die selbstreflexive Literarisierung des Erlebten
3.1 In Werken vor Die Welt im Rücken
Raumforderung (2007)
Sickster (2011)
3000 EURO (2014)
3.2 In Die Welt im Rücken
4 Fazit
Literatur
Primär
Sekundär
1 Einleitung
„Das Verrückte ist: Ich bin nicht verrückt. Denn wovon man spricht, das hat man nicht, so Novalis. Und von nichts anderem spreche ich als vom Wahnsinn“1 (Melle 2007, 119), so Thomas Melles Positionierung sich selbst und seinen literarisch aufgearbeiteten Erlebnissen gegenüber.
Daniel Schreber, sozusagen der Urvater der psychotisch-autobiographischen Literatur, versuchte sich mit seinen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903) in die bürgerliche Gesellschaft zu reintegrieren, indem er sein Verhalten schriftlich reflektierte und vermeintlich wissenschaftlich zu erklären suchte. Ähnliches lässt sich über Melle und seine autobiographische „Chronik einer manisch-depressiven Erkrankung“2, Die Welt im Rücken (2016), sagen, wenn man die „bürgerliche Gesellschaft“ etwas weiter fasst und vor allem den deutschen Literaturbetrieb miteinschließt.
Die Perspektive des „momentan Gesunden“, der über den „überspitzten Irren“ und den „Depressiven“ (Melle 2016, 165) schreibt, ermöglicht eine Distanzierung vom Selbst und damit einen Text, der als Plädoyer, Erklärungsversuch, ja Entschuldigung gelesen werden kann. Der Erzähler verortet sich in der Gegenwart und im „momentan gesunden Geisteszustand“, Rückbezüge hierauf dienen als Anker der Realität – auch im Paratext, indem die Voranstellung der Jahreszahl bei einzelnen Episoden eine Chronologie und eine Verknüpfung mit medial dokumentierten Auftritten des Autors ermöglichen. Auch in Melles explizit formulierten Anspruch einer möglichst realistischen Darstellungsweise wird das Bemühen um eine Festschreibung der Wahrheit, der Normalität, deutlich. Diese Autoreflexion des Schreibens und der Literarisierung des Erlebten ist ein weiterer Distanzierungsmechanismus, dessen sich Melle im vorliegenden Text bedient.
Im Gegensatz zu Schrebers Denkwürdigkeiten handelt es sich beim vorliegenden Werk um einen Text über eine Krankheit, bzw. einen Erkrankten, und kein Werk aus dem Wahn heraus und innerhalb dessen. Der (auch so benannte) Größenwahn der psychotischen Manie Melles wird in einem Modus des „Ich weiß jetzt, dass das nur der Wahn ist“ und der Unzuverlässigkeit thematisiert. Das erzählende Ich und das erzählte Ich bleiben heterogen, Ersteres beobachtet Letzteres: „Ich habe den Blick von innen und konnte dann trotzdem von außen draufschauen. […] Ich habe die Erzählzügel nie aus der Hand gegeben, hatte immer die Kontrolle, konnte in meine Vergangenheit hinein- und hinausschlüpfen wie in eine fremde Rolle.“3
Eben diese Distanzierung ist in ihrer Umsetzung, Wirkung und Funktion interessant und wird im Zuge dieser Hausarbeit herausgearbeitet und untersucht. Auch der Einsatz von während der Manie geschriebener Blogeinträgen ist zu beachten, denn aus der Kontrastierung der beiden Erzählstimmen ergibt sich erst die wahre Diskrepanz zwischen dem momentan gesunden, erzählenden Melle und seinem erzählten, psychotisch-manisch-depressiven Alter Ego.
2 Die Perspektive des Erzählers
Um die Perspektive des Erzählers im gegebenen Zusammenhang zu untersuchen, ziehe ich Peter Goldies The Mess Inside (2012) heran, da autobiographisches Denken maßgeblich zur Erzählweise beiträgt.
Nach traumatischen Erlebnissen wird in der Regel ein emotionaler Abschluss („closure“) angestrebt, der für das Individuum ebenso zentral ist wie Selbstvergebung –„We engage in narrative thinking about our future to self-forgiveness“ (Goldie 2012, x). Peter Goldies Betrachtungen sind insbesondere im Kontext von Melles Die Welt im Rücken beachtenswert, da „one’s narrative sense of self“ losgelöst von der Frage der persönlichen Identität („one’s numerical identity over time“) betrachtet wird. Goldie führt an, dass Ersteres Letzteres bedingt und nicht etwa andersherum.4 Außerdem wird die These aufgestellt, dass objektive Wahrheit in einer (autobiographischen) Erzählung als „a narrative whose content expresses a perspective which can be shared by all reasonable people“ nicht erreicht werden kann, da wir aufgrund der menschlichen Psychologie dazu neigen „to bestow our lives with a degree of narrativity which is often more appropriate to traditional fiction than it is to real life” (Goldie 2012, xi). Mit dieser Arbeitshypothese von Autobiographie und autobiographischem Erzählen wird nun die Erzählsituation in Die Welt im Rücken betrachtet.
Mehrfach wird verdeutlicht, mit welcher „verdrehten Logik und […] wirklichkeitsferne[r] Fantastik […] ein psychotischer Geist operiert“ (Melle 2016, 156). Und diesen „Unsinn“ (Melle 2016, 156) soll nun offen dargelegt werden, da, „jede fixe Idee eines Manikers […] eine Genealogie, eine zwar verrückte, nicht erklärbare, aber erzählbare Herkunft“ (Melle 2016, 156) hat.
2.1 Zeichen der Zuverlässigkeit
„Ich weiß jetzt, dass das nur der Wahn ist“ funktioniert in beide Richtungen: damals habe ich mich komisch verhalten, weil ich manisch war UND heute könnt ihr mir trauen, denn heute bin ich normal.
Die Zusicherung einer realistischen, d.h. realitätsgetreuen, wahrhaftigen Darstellung geschieht explizit:
„Hier geht es nicht um Abstraktion und Literatur, um Effekt und Drastik. Hier geht es um eine Form von Wahrhaftigkeit, von Konkretion, jedenfalls um den Versuch einer solchen. Es geht um mein Leben, um meine Krankheit in Reinform. […] Nichts soll dabei verklausuliert, überhöht, verfremdet sein. Alles soll offen und sichtbar daliegen, so weit das eben möglich ist“ (Melle 2016, 56)5.
2.2 Das erzählte Ich und das erzählende Ich
Bei autobiographischen Erzählungen liegt der Sonderfall der Erzählsituation vor, dass – frei nach Goldie – jemand sowohl „internal to a narrative“ ist, als auch „the role of [an] external narrator“ (Goldie 2012, 26) innehat, was dazu führt, dass diese bewertenden Perspektiven sich einerseits unterscheiden, sich gleichzeitig aber auch vermischen. Eine Möglichkeit, zu beschreiben, was dann passiert, drückt Goldie mit der ‚ Dramatic Irony ‘ aus. Der Terminus meint, dass das Publikum (ergo Leser) etwas weiß, was einem oder mehreren Charakteren innerhalb des Geschehens noch verborgen ist. Um diesen Kniff wertschätzen zu können, so Goldie, muss der Leser beide Seiten verstehen: was die Charaktere für wahr halten und wie der Sachverhalt „in Wirklichkeit“ ist.6 Dies lässt sich auch für Melles Die Welt im Rücken nachweisen. Hier schlägt sich allerdings der Erzählende, Gesunde auf die Seite des Lesers, hat mit ihm den Wissensvorsprung gemein und beobachtet den ahnungslosen Manischen.7 Die von Goldie angesprochene ‚ false belief task‘, die der ‚ Theory of Mind‘ zugerechnet wird, sieht, auf Melles Erzählung angewendet, folgendermaßen aus: Dem Leser wird eröffnet, dass der Protagonist bipolar ist. Das Weltwissen des Lesers impliziert, dass die Wahrnehmungen der Figur andere sind, als die eines Gesunden. Schildert nun das so gekennzeichnete Ich den (sehr unwahrscheinlichen) Geschlechtsverkehr mit Madonna, der zudem noch lapidar als beinahe nebensächliche Alltäglichkeit eingeführt wird,8 so nimmt der Leser die ‚ Dramatic Irony ‘ und die Diskrepanz der beiden Ansichten wahr und wertschätzt die implizierte Verschiebung der Wirklichkeitserfassung.
Tatsächlich lässt sich eine Vielzahl von Perspektiven in Die Welt im Rücken aufzeigen, die teilweise gegensätzliche Weltsichten beinhalten: Es gibt zuallererst den extradiegetischen Autor Thomas Melle, dann das erzählende Ich, das sich ebenfalls Thomas Melle nennt und das erlebende Ich, das den gleichen Namen trägt. Hierbei ist zwar zu beachten, dass das erlebende und das erzählende Ich die gleiche Figur sind, aber aus unterschiedlichen Perspektiven sprechen. „To understand these possible divergences is part of what it is to understand and appreciate a novel” (Goldie 2012, 30), bemerkt Goldie und schreibt so dieser Aufsplitterung einen Teil des Lesevergnügens zu.
Die Unmöglichkeit von faktualen, autobiographischen Erzählungen, generell „[a]ll kinds of narrative, when concerned with people” wird herausgearbeitet, da sie „this special explanatory, revelatory, and expressive power” (Goldie 2012, 32) haben, die eine Fiktionalisierung des Stoffes beinhalten muss. Auch wenn man nicht so weit gehen möchte, dass es prinzipiell immer möglich ist „to grasp the reasons why the person chose to produce that particular narrative in that particular way and at that particular time” (Goldie 2012, 32), so kann doch im vorliegenden Fall sehr wohl dafür argumentiert werden, dass es sich um einen Erklärungs-, wenn nicht gar um einen Entschuldigungsversuch handelt, wie schon in der Einleitung bemerkt.9 Dabei ist natürlich immer mitzudenken, dass die Interpretationsansätze und Intentionsunterstellungen daraus resultieren, dass mit einem quasi-faktualen Werk eines realen Autors anders gearbeitet wird als mit einem fiktionalen, explizit als Roman gekennzeichneten Text.
Besondere Beachtung verdient hier das, was Goldie als ‚ framework ‘ bezeichnet, nämlich das „preferred set of cognitive, evaluative, and emotional responses to the story“ (Goldie 2012, 34), worauf im folgenden Kapitel eingegangen wird.
2.3 ‚Free Indirect Style‘
Bei autobiographischen Werken entsteht die ‚ ironic gap ‘ des ‚ free indirect styles ‘ nicht zwischen den Perspektiven zweier Figuren, sondern zwischen den beiden Perspektiven der gleichen Entität, – „between you then, as someone […] who is internal to the narrative, and you now […] who is external to the narrative“ (Goldie 2012, 37), also zwischen Figur und Erzähler. Die hier ‚ ironic gap ‘ genannte Diskrepanz ergibt sich, wenn die Bewertung einer Situation, die Gefühle oder die Weltsicht beim Erzählen eine andere ist, als während der geschilderten Erlebnisse. Beim Erzählen nimmt das erzählende Ich also eine andere Bewertung des Geschehens vor, als es das erzählte Ich tut. Werden die beiden Perspektiven in der Erzählung explizit gemacht, so ist es dem Leser möglich, sowohl die jetzige Bewertung nachzuvollziehen, als auch die damaligen Empfindungen nachzuerleben.
Exemplarisch soll das an folgendem Abschnitt genauer untersucht werden. Es handelt sich um den Anfang der manischen Phase im Jahr 1999, geschildert in Die Welt im Rücken:
„‘Etwas stimmt nicht.‘
Darauf konnten wir uns einigen. Lukas meinte es zwar anders als ich. Aber er war klug und hielt den Satz so allgemein, dass auch ich ihm zustimmen konnte. Etwas stimmte also nicht. Ich meinte: mit der Welt. Er meinte natürlich: mit mir“ (Melle 2016, 21).
Um zu verdeutlichen, wie hier beide Bewertungen eingeschrieben sind, möchte ich, analog zu Goldies Ausführungen, eine Aufteilung in ‚Melle now‘ und ‚Melle then‘10 unternehmen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tab.1: Zuteilung der Erzählperspektive, ‚ free indirect style ‘.
Interessanterweise lassen sich die meisten Textstücke relativ eindeutig dem einen oder dem anderen zuordnen, nur eine Aussage ist beiden gemein, wenn auch in anderer Bedeutung: „Etwas stimmte also nicht“. Die unterschiedlichen Bewertungen der Bemerkung werden hier explizit gemacht. Während der paranoide Protagonist hier seine Ansicht, dass die Welt verrückt geworden ist, bestätigt sieht, stimmt der Erzähler – „natürlich“ – der Figur Lukas zu, dass etwas mit dem Protagonisten nicht stimme. Insbesondere die Verwendung des Adverbs „natürlich“ drückt hier die Selbstverständlichkeit aus, dass diese Deutung die (einzig) richtige ist.
[...]
1 MELLE, Thomas (2007): Raumforderung. S. 119.
2 Klappentext der gebundenen Erstausgabe von Die Welt im Rücken. Rowohlt, Berlin, 2016.
3 Im Interview Gerrit Bartels. http://www.tagesspiegel.de/kultur/thomas-melle-im-gespraech-ich-bin-nicht-der-maniker-der-nation/14695054.html [16.02.2017].
4 Vgl. dazu Goldie, Peter (2012): The Mess Inside. Oxford University Press. S. 117-148.
5 Hervorhebung durch mich.
6 Begriffsherkunft „Dramatic Irony“: Der Begriff stammt ursprünglich aus der Theaterwissenschaft. Und um Ironie schätzen zu können, muss man einerseits verstehen, was wörtlich gesagt wird und andererseits, was der Sprecher meint. Aus der Differenz von beidem, dem voneinander unabhängigen und einander kontrastierenden Verständnis, ergibt sich die Ironie. Vgl. Goldie 2012, 27.
7 Die Diagnose wird genannt, bevor die Krankheit gezeigt wird: „Also sagte ich ihr, […] dass ich bipolar sei“ (Melle 2016, 8).
8 „Als ich Sex mit Madonna hatte, ging es mir kurz gut“ (Melle 2016, 11).
9 Goldie führt als Beispiel an, dass man jemandem von seiner schlimmen Kindheit erzählt um Mitleid zu erwecken. Vgl. Goldie 2012, 32.
10 Wobei ‚Melle now‘ den temporär Gesunden meint, der erzählt, und ‚Melle then‘ den Erzählten, der manisch-psychotisch die Welt interpretiert. Die Benennung ist an Goldie angelehnt.