Die Bildungsantinomie der stationären Jugendhilfe. Der Spagat zwischen formeller und informeller Bildung
Zusammenfassung
EinleitungDie Bildungsantinomie der Sozialen Arbeit, in deren Spannungsfeld sich die stationäre Jugendhilfe mit ihrer speziellen, herausfordernden Klientel zwischen der informellen Bildung und der vom Staat und seinen Institutionen geforderten formellen Bildung bewegt, ist Thema dieser Hausarbeit. Welcher Pol der Bildungsantinomie für eine eigenständige Lebensführung bedeutsamer ist und daher verstärkt in der stationären Jugendhilfe zur Erfüllung ihres Bildungsauftrags gefördert werden muss, ist eine der aufkommenden Fragen. Diese mögliche Erkenntnis gibt Anlass zu überlegen, warum und ob der andere Pol der Bildungsantinomie ebenfalls beachtet werden sollte. Um dies zu erforschen, werden nach den themenspezifischen Definitionen die Forderung nach formeller Bildung, sowie die Bedeutung von informeller Bildung dargestellt, deren Umsetzungen in der stationären Jugendhilfe herausfordern. Im Fazit wird dargelegt, welche Konsequenzen der Spagat in dieser Antinomie in der Jugendhilfe sowie für die Schule nach sich zieht.
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definitionen
2.1. Auftrag und Klientel der stationären Jugendhilfe
2.1. Bildungsantinomie
3. Gesetzliche Forderung formeller Bildung
4. Bedeutung informeller Bildung für eine selbstständige Lebensführung
5. Herausforderung bei der Umsetzung in der stationären Jugendhilfe
6. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Bildungsantinomie der Sozialen Arbeit, in deren Spannungsfeld sich die stationäre Jugendhilfe mit ihrer speziellen, herausfordernden Klientel zwischen der informellen Bildung und der vom Staat und seinen Institutionen geforderten formellen Bildung bewegt, ist Thema dieser Hausarbeit. Welcher Pol der Bildungsantinomie für eine eigenständige Lebensführung bedeutsamer ist und daher verstärkt in der stationären Jugendhilfe zur Erfüllung ihres Bildungsauftrags gefördert werden muss, ist eine der aufkommenden Fragen. Diese mögliche Erkenntnis gibt Anlass zu überlegen, warum und ob der andere Pol der Bildungsantinomie ebenfalls beachtet werden sollte. Um dies zu erforschen, werden nach den themenspezifischen Definitionen die Forderung nach formeller Bildung, sowie die Bedeutung von informeller Bildung dargestellt, deren Umsetzungen in der stationären Jugendhilfe herausfordern. Im Fazit wird dargelegt, welche Konsequenzen der Spagat in dieser Antinomie in der Jugendhilfe sowie für die Schule nach sich zieht.
2. Definitionen
Im Folgenden werden die themenspezifischen Definitionen aufgeführt um einerseits zu klären, mit welchem Klientel die stationäre Jugendhilfe arbeitet und damit das Handlungsfeld festzulegen, in dessen Rahmen sich diese Hausarbeit bewegt, und andererseits einen Einblick in die Theorie des Spannungsfelds der Bildungsantinomie zu erlangen.
2.1. Auftrag und Klientel der stationären Jugendhilfe
Im § 34 SGB VIII ist geregelt, dass die stationäre Jugendhilfe als familienersetzende Hilfe zur Erziehung, sofern die Rückführung in die Herkunftsfamilie oder die Unterbringung in einer anderen Familie nicht möglich sind, „eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten“ (§ 34 SGB VIII). Ebenso sollen diese Jugendliche „in Fragen der Ausbildung und Beschäftigung sowie der allgemeinen Lebensführung beraten und unterstützt werden“ (§ 34 SGB VIII).
Anspruch auf Hilfen zur Erziehung haben laut § 27 SGB VIII Abs. 1 Kinder oder Jugendliche, deren Personensorgeberechtigte ihr Wohl nicht gewährleisten und bei denen die Hilfe für ihre Entwicklung geeignet und notwendig ist. Art und Umfang sind laut § 27 SGB VIII Abs. 2 Einzelfallentscheidungen.
Zur Klientel der stationären Jugendhilfe gehören entsprechend Kinder und Jugendliche, in deren Setting eine familienunterstützende oder -ergänzende Maßnahme, sowie eine Pflegschaft nach §§ 28 bis 33 SGB VII dies nicht gewährleisten können (vgl. Kunkel 2013, S. 84). Kinder und Jugendliche, die vernachlässigt, misshandelt, missbraucht, desorientiert und verwahrlost waren, deren Eltern-Kind-Beziehung massiv belastet oder deren Familienkonstellation zerfallen ist, die häusliche Gewalt erlebt haben oder bei denen die Eltern einen gravierenden Risikofaktor darstellen, die Schwierigkeiten ihre Emotionen zu regulieren haben oder die von einer Bindungsstörung oder FASD betroffen sind gehören zum typischen Klientel der stationären Jugendhilfe (vgl. Schmid 2007, S. 21ff.).
2.1. Bildungsantinomie
Die Bildungsantinomie bewegt sich zwischen den beiden Polen des pädagogischen Handelns und der Allgemeinbildung (vgl. Dummann u.a. 2016, S. 81). Sie ist eine Antinomie der zweiten Ebene nach von Hippel und damit eine konstitutive Antinomie (vgl. ebd. S. 78f.).
Formale Bildung ist die aus gesellschaftlicher Perspektive wissenswerte Allgemeinbildung (vgl. ebd. S. 81). Der Prototyp der formellen Bildung ist die Schule (vgl. Göppel 2012, S. 75f.). In ihr erfolgt das Lernen nach Gesetzen und Verordnungen; es herrscht Schulpflicht, es gibt Curricula, speziell ausgebildete Experten, alles ist methodisch-didaktisch geplant und kontrolliert, mit Noten und Zeugnissen sanktioniert und zertifiziert (vgl. ebd. S. 75f.).
Für das Leben relevante Wissensbestände werden nicht über formale Bildung erlernt, daher gibt es ergänzend die non-formale Bildung, in der ebenfalls Wissensbestände vermittelt und abgefragt werden, mit dem Unterschied, dass die Klienten in beispielsweise Familienbildung, Kursen oder offener Jugendarbeit mitbestimmen, welches Wissen vermittelt wird (vgl. Dummann u.a. 2016, S. 81).
In der informellen Bildung als Gegenpol der formellen Bildung im Sinne eines pädagogischen Handelns werden zwischen pädagogischer Fachkraft und Klientel keine Kontrakte über Wissensbestände hergestellt (vgl. ebd. S. 81). Die pädagogischen Fachkräfte gestalten ein Lernsetting, in dem soziales Miteinander trainiert und erlernt werden kann (vgl. ebd. S. 81). Integriert in den Alltag ist informelles Lernen oft kein bewusster Prozess (vgl. Overwien 2006, S. 43). In informellen Bildungsprozessen kann es auch um Anerkennung unter Gleichaltrigen durch Outfits oder Musik gehen (vgl. Göppel 2012, S. 75f.).
Die Allgemeinbildung und das pädagogische Handeln schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich zur Gesamtbildung (vgl. Dummann u.a. 2016, S. 81). In der fachlichen Vertretung der gewählten Bildungsformen für die Klienten besteht die Herausforderung des professionellen Handelns (vgl. ebd. S. 81).
3. Gesetzliche Forderung formeller Bildung
Die Soziale Arbeit muss sich im demokratischen Sozial- und Rechtsstaat Deutschland an den verfassungsrechtlichen Grundlagen orientieren und die Rechtsvorschriften - wie das Recht auf Bildung - beachten (vgl. Borrmann u.a. 2016, S. 266). Im föderalistischen Deutschland ist Schule Ländersache (vgl. Köhler 1996, S. 49). Die Bundesländer sind nach § 30 GG für alle Gesetze zuständig, für die die Zuständigkeit nicht ausdrücklich beim Bund liegt. Aus § 70 GG ergibt sich, dass die Länder das Recht der Gesetzgebung haben. Im jeweiligen Schulgesetz des Landes wird festgelegt, in welchen Institutionen, mit welchen Methoden und mit welchen Inhalten die formelle Bildung vermittelt wird. Beispielsweise wird im § 2 NSchG der Bildungsauftrag der Schulen in Niedersachsen konkretisiert.
4. Bedeutung informeller Bildung für eine selbstständige Lebensführung
Die Schule vermittelt unter Umständen Wissen, das wenig mit den zentralen Problemen im Leben zu tun hat und vernachlässigt weiterführende theoretische und praktische Fähigkeiten (vgl. Baier 2007, S. 292). Das basale Bildungsverständnis nach der Lebensweltorientierung nach Thiersch beinhaltet die Lebensbewältigung mit dem Ziel eines gelingenden Lebens (vgl. Göppel 2012, S. 75). Um die benötigten Potenziale zu schaffen, junge Menschen gemeinschaftsfähig und selbstständig zu machen und gesellschaftliche Entwicklungen aufzufangen, ist die Schulbildung nicht ausreichend (vgl. Kreuznacht 2001, S. 84). Ziel der Jugendhilfe, aber auch der Schule, ist die Begleitung des Jugendlichen in seiner Entwicklung zu einem selbstständigen, gemeinschaftsfähigen, produktiven Individuum (vgl. ebd. S. 84). Die Erfahrung, etwas aus eigenem Antrieb zu können, hebt das Selbstwertgefühl und unterstützt wiederum die Motivation, sich weitere lebenspraktische Fertigkeiten anzueignen (vgl. Nds. Orientierungsplan 2011, S. 22). Wichtige Bestandteile im Bildungskonzepts sind also Kritikbereitschaft und -Fähigkeit, Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit,
Empathie, Bereitschaft und die Fähigkeit zum vernetzten Denken (vgl. Göppel 2012, S. 63). Selbstwert, Anerkennung und Orientierung finden Jugendliche nicht über die Schule, sondern über sich selbst und über die Gruppe (vgl. Reutlinger 2008, S. 192). Bildungsgüter wie Musik, Sport, Computerkenntnisse werden ebenfalls meist außerhalb etablierter Bildungsorte erworben (vgl. Rauschenbach 2009, S. 91). Weiterhin unterstützen und stabilisieren außerschulische Bildungsaktivitäten Bildungsbeflissene, können also gelingende Bildungsprozesse und entstehende soziale Differenz erklären (vgl. ebd. S. 91): Die Resultate von Alltagsbildung, wie zum Beispiel Ausdauer-, Konzentrations-, und Aufmerksamkeitsfähigkeit, ermöglichen wiederum formelle Bildungsprozesse (vgl. ebd. S. 90f.). Alltagsbildung erzeugt also die Kluft zwischen den privilegierten Bildungsgewinnern und den sozial benachteiligten Bildungsverlieren (vgl. ebd. S. 89). Die PISA-Studie 2002 besagt, dass der Bildungserfolg abhängiger von sozialer Herkunft ist (vgl. Schäfer 2009, S. 189) als von der Schulform (vgl. Rauschenbach 2009, S. 90). Mehr Kinderarmut führt demnach zu mehr Bildungsarmut und mehr Hauptschulabschlüssen oder Schülern ohne Abschluss (vgl. Schäfer 2009, S. 190).
Rauschenbach schreibt deutlich dazu, dass wer nur durch die Schule auf das Leben vorbereitet wird, im Leben scheitert (vgl. Rauschenbach 2009, S. 87). Alltagswissen - und damit die informelle Bildung - spielt also eine bedeutsame Rolle in der selbstständigen Lebensführung.
5. Herausforderung bei der Umsetzung in der stationären Jugendhilfe
Die Theorien der Wissenschaftler sind für die in der Praxis tätigen Sozialarbeiter jedoch oftmals zu fern von der Realität (vgl. Borrmann u.a. 2016, S. 370). Je widersprüchlicher die Antinomien auftreten, desto paradoxer sind die von den Fachkräften zu meisternden Situationen (vgl. Dummann u.a. 2016, S. 81). Dies ist ein Baustein professionellen Arbeitens (vgl. ebd. S. 81).
Mögliche Fehlerquellen im fachlichen Handeln und der Positionierung durch Antinomien und Paradoxien sind eine einseitige Betrachtung zugunsten einer eindeutigen Position und Handlungsgewissheit und ein Vermeiden der anderen Seite durch Leugnung der Widersprüchlichkeit (vgl. ebd. S. 82). Die Bildung ist ein hier Schlüsselbegriff, denn in der Praxis gibt es häufig „veränderungs- oder bildungsresistente“
Menschen (vgl. Borrmann u.a. 2016, S. 370). Praktiker müssen für die komplexe Wirklichkeit praktikable Synthesemodelle entwickeln, dies wird von der Wissenschaft vernachlässigt (vgl. ebd. S. 370). Wie in Kapitel 2.2 angesprochen, besteht eine Aufgabe der Fachkräfte darin, die Bildungsformen im Sinne einer sozialen Bildung fachlich zu vertreten (vgl. Dummann u.a. 2016, S. 81).
Neben den bekannten Herausforderungen der Sozialen Arbeit wie die Integration von Migranten leben in der stationären Jugendhilfe Kinder, die besonders im Erleben von Diskontinuitätserfahrungen die Systeme sprengen, weil sie eine niedrige Resilienz haben (vgl. Baumann 2016, S. 177). Bedeutsame Aspekte sind dabei neben einer Symptomtoleranz, Deeskalationsstrategien der Mitarbeiter und Strukturen, die beides zulassen, auch ein Fallverstehen als Tragfähigkeit und Basis für Entscheidungen, die für alle Betroffenen transparent sind, sowie eine institutionsübergreifende Betreuung mit unterschiedlichen Systemen, also auch der Schule, die einen kommunikativen Raum für Verletztheit und Ängste bieten (vgl. ebd. 191f.). Schule muss also verstehen, dass die Klienten der Jugendhilfe oft andere dominierende Baustellen haben als im Lehrplan stehen, die formelle Bildungsprozesse beeinflussen oder sogar behindern können. Junge Menschen, die wegen Verhaltensschwierigkeiten und erzieherischen Defiziten Hilfe zur Erziehung erhalten, dürfen in ihren Bildungsansprüchen natürlich nicht vernachlässigt werden (vgl. Klein 2009, S. 197), sondern benötigen Bildung mit anderer Schwerpunktsetzung. Lediglich eine Schule zur Verfügung zu stellen genügt nicht, da von Regelangeboten entfernt oft nur besondere Formen greifen (vgl. ebd. S. 197).
Als gesetzliche Grundlage besagt § 27 SGB VIII, dass die Hilfe zur Erziehung Aus- bildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen einschließen sollen. Eine Verpflichtung zur Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule besteht laut § 81 SGB VIII (vgl. Schäfer 2009, S. 188). § 13 Abs. 2 SGB VIII ergänzt, dass sozialpädagogische Beschäftigungsmaßnahmen angeboten werden können, wenn die Ausbildung nicht durch andere Maßnahmen oder Organisationen sichergestellt ist (vgl. Klein 2009, S. 199). Der Bildungsanspruch bedeutet eine Verpflichtung der Träger, didaktisch-methodisch hochwertige Konzepte für die schulische Entwicklung anzubieten (vgl. ebd. S. 197). Erfahrungen aus einer Einrichtung mit interner Beschulung bestätigen die Erkenntnis in Kapitel 4: Attraktive schulische Bildungsangebote beschleunigen sozialpädagogische Arbeit in Wechselwirkung positiv (vgl. ebd. S. 197).
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