Kann Kiezdeutsch mit dem Begriff Jugendsprache definiert werden? Was ist eine Jugendsprache und welche Merkmale weißt diese auf? Diesen Fragen widmet sich die Autorin in der folgenden Arbeit.
Angesichts der Mehrsprachigkeit, die durch die verschiedenen Kulturen in Deutschland vorhanden ist, hat sich eine neue Art der Sprache entwickelt, die unter dem Begriff Kiezdeutsch bekannt ist. In dieser neuen Form der deutschen Sprache zeigen sich sowohl grammatikalische Veränderungen wie "ischwör"oder "lassma"als auch neue Sätze wie "Machst du rote Ampel"oder "Ich frag mein Schwester". Diese Art der Sprache wird Kiezdeutsch genannt, da sie besonders stark in mehrsprachigen Gebieten genutzt wird. Wie ist diese Sprache entstanden und was zeichnet sie aus? Ist Kiezdeutsch etwas vollkommen Neues, entstanden durch mehrsprachige Einflüsse oder ist diese Sprache typisch deutsch?
Um diesen Fragen zu beantworten wird dabei zunächt Kiezdeutsch und Jugendsprache anhand ihrer grammatikalischen Auffälligkeiten voneinander abgegrenzt, bevor näher auf ihren Verwendungszweck eingegangen wird. Die jeweiligen Merkmale werden dann nochmals zusammengefasst, bevor eine abschließende Stellungnahme zur eingangs gestellten Forschungsfrage abgegeben wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Was ist Kiezdeutsch?
2.1. Kiezdeutsch in städtischen multiethnischen Wohnvierteln
2.2 Mehrsprachige Einflüsse in Kiezdeutsch
2.3. Grammatikalische Auffälligkeiten
3. Sprache mit System – Ist Kiezdeutsch typisch deutsch?
4. Begriffsklärung von Jugendsprache
4.1 Jugend
4.2 Jugendsprache
5. Welche Funktionen erfüllt die Jugendsprache?
5.1 Warum spricht die Jugend anders?
5.2 Betrachtungsweisen der Jugendsprache
5.2.1 Abgrenzung
5.2.2 Protest
5.2.4 Bessere Verständigung
5.2.5 Innovation und Spiel
5.2.6 Aggressionsabbau
5.2.7 Unsicherheit
6. Merkmale von Jugendsprache
7. Handelt es sich bei Kiezdeutsch um eine Jugendsprache?
8. Zusammenfassung
Literatur- und Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Angesichts der Mehrsprachigkeit, die durch die verschiedenen Kulturen in Deutschland vorhanden ist, hat sich eine neue Art der Sprache entwickelt, die unter dem Begriff Kiezdeutsch bekannt ist. In dieser neuen Form der deutschen Sprache zeigen sich sowohl grammatikalische Veränderungen wie „ischwör“ oder „lassma“ als auch neue Sätze wie „Machst du rote Ampel“ oder „Ich frag mein Schwester“. Diese Art der Sprache wird Kiezdeutsch genannt, da sie besonders stark in mehrsprachigen Gebieten genutzt wird.
Wie ist diese Sprache entstanden und was zeichnet sie aus? Ist Kiezdeutsch etwas vollkommen Neues, entstanden durch mehrsprachige Einflüsse oder ist diese Sprache typisch deutsch? Kann Kiezdeutsch mit dem Begriff Jugendsprache definiert werden? Was ist eine Jugendsprache und welche Merkmale weißt diese auf? Diesen Fragen werden wir uns in der folgenden Arbeit widmen.
Zunächst klären wir, was Kiezdeutsch genau ist, wie diese Sprache entstanden ist und wo sie zu finden ist. Dazu stellen wir die grammatikalischen Eigenschaften der Sprache vor und beantworten somit auch die Frage, ob hinter der Sprache ein System steckt, oder ob diese willkürlich entstanden ist. Danach beschäftigen wir uns intensiver mit der Jugendsprache an für sich und versuchen eine Definition für diesen Begriff zu finden. Wir widmen uns kurz der Geschichte von Jugendsprache, um uns dann mit der Funktion von Jugendsprache und ihren Merkmalen zu beschäftigen. Mit diesem Wissen versuchen wir die Frage zu beantworten, ob es sich bei Kiezdeutsch um eine Jugendsprache handelt.
2. Was ist Kiezdeutsch?
2.1. Kiezdeutsch in städtischen multiethnischen Wohnvierteln
Vor allem in den sogenannten Brennpunktvierteln mit einem hohen Migrantenanteil hat sich Kiezdeutsch herauskristallisiert. Der Ursprung dieser sprachlichen Entwicklung geht vermutlich auf die 60er Jahre zurück, in denen viele Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Naheliegend wäre somit der Schluss, dass sich die Sprache deshalb entwickelt hat, weil viele der Migranten fehlerhaftes Deutsch sprechen würden. Die zweite und die dritte Generation der Migranten sind oft in Deutschland geboren und aufgewachsen, jedoch würden sie mit der obigen Annahme kein einwandfreies Deutsch sprechen, weil sie es entweder nicht richtig gelernt haben oder weil sie sich nicht richtig in die Gesellschaft integrieren können. Demnach würden sich viele Jugendliche isolieren und nur noch mit anderen Migranten kommunizieren. Dass dies aber nicht der Fall ist, da auch viele Jugendlichen mit deutschen Wurzeln Kiezdeutsch sprechen, werden wir später noch genauer sehen.
In diesen multikulturellen Vierteln hat sich Kiezdeutsch über die Jahre hinweg so sehr etabliert, dass man eigentlich nicht davon ausgehen kann, dass Jugendliche Kiezdeutsch sprechen würden, weil ihre Großeltern beispielsweise aus der Türkei stammen. Der Migrationshintergrund ist für das Sprechen von Kiezdeutsch unerheblich, denn es sind vorwiegend alle Jugendlichen eines Viertels, die untereinander Kiezdeutsch sprechen, egal welcher Herkunft sie sind (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 14). In den Interviews, die Wiese zu Forschungszwecken zur Verfügung standen, haben die Jugendlichen ihrer Sprache den Namen „Kiezdeutsch“ selbst gegeben. Denn es das Deutsch, welches im Kiez gesprochen wird (vgl. Wiese, 2012, 2012, S.15).
Wiese (2012, S. 14) bestätigt in ihrem Buch, dass es auch Jugendliche mit deutschen Wurzeln gibt, die diese Sprache sprechen, weil sie in den Vierteln aufwachsen, in denen Kiezdeutsch gesprochen wird. Kiezdeutsch-Sprecherinnen und -Sprecher1 beherrschen meist nicht nur eine einzige Sprache. Die meisten von ihnen sprechen vor allem mit Erwachsenen kein Kiezdeutsch. Daneben wachsen viele von ihnen zweisprachig auf, was auf die verschiedenen Kulturen in den Vierteln zurückzuführen ist. Aus Wieses Studien geht hervor, dass es vor allem Jugendliche eines bestimmten Alters sind, welche Kiezdeutsch sprechen. Da Erwachsene kein Kiezdeutsch sprechen, kann man wohl davon ausgehen, dass es sich hierbei um eine Art der Jugendsprache handelt. Aber dazu später mehr.
2.2 Mehrsprachige Einflüsse in Kiezdeutsch
Vor allem der Einfluss verschiedener Sprachen hat die Entwicklung von Kiezdeutsch begünstigt. Jugendliche mit Migrationshintergrund sprechen mit ihren Eltern und/oder Großeltern eine andere Sprache als Deutsch. Da innerhalb der Familien teilweise mehr als eine Muttersprache existiert, wachsen die Jugendlichen sogar zwei- und mehrsprachig auf. Auch Jugendliche, die nur eine Sprache sprechen, bringen Fremdwörter mit ins Kiezdeutsch ein, da sie diese von Freunden mit Migrationshintergrund gelernt oder in ihrem Viertel mitbekommen haben (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 36).
Was genau wird von anderen Sprachen in diese neue Art des Deutschen aufgenommen? Auffällig bei Kiezdeutsch ist die Menge an Fremdwörtern, die in diese Sprache integriert sind. Einige Beispiele haben wir hier zusammengefasst. Das eher negativ benutzte Wort „lan“ bedeutet ungefähr „Typ“ oder „Mann“ und stammt aus dem Türkischen; „muruk“, was ebenfalls aus dem Türkischen stammt, bedeutet „Alter; das arabische Wort „wallah“ steht für „Echt!“ und das Wort „abu“, welches ebenfalls aus dem Arabischen stammt wird mit „Ey!“ übersetzt (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 39). Dies ist lediglich eine kleine Auswahl an Fremdwörtern, die ins Kiezdeutsch übernommen wurden und mittlerweile ihren festen Platz in dieser Sprache haben. Diese neuen Fremdwörter stehen oft am Satzanfang oder am -ende, werden häufig als Anrede benutzt. Zudem können sie entweder bekräftigend oder beleidigend wirken (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 39).
Neben den fremden Wörtern werden teilweise auch die Satzstellung oder die phonetischen Laute aus anderen Sprachen ins Kiezdeutsch übernommen und dem Deutschen angepasst. Das bekannteste Beispiel ist wohl „isch“, in welchem aus dem „ch“ ein „sch“ wird. Ein weiteres Phänomen ist die sogenannte Vokalisierung, die stattfindet, indem aus einem [er] ein [a] wird, wie beispielsweise in „lecka“ oder in „Spiela“ (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 37).
Auf die weiteren Änderungen gehen wir im nächsten Unterkapitel genauer drauf ein, denn neben den erwähnten Neuerungen gibt es eine Vielzahl von grammatikalischen Veränderungen. Wir werden noch sehen, dass es sich hierbei um etwas typisch Deutsches handelt.
2.3. Grammatikalische Auffälligkeiten
Eine Vielzahl von grammatikalischen Merkmalen tauchen in Kiezdeutsch auf. Daher möchten wir uns in diesem Unterkapitel mit diesen grammatikalischen Neuerungen beschäftigen, die so häufig auftreten, dass man schon beinahe von festgeschriebenen Regeln sprechen könnte. Wir befassen uns nun mit Verkürzungen, neuen Aufforderungswörtern, mit der Veränderung von Nominalphrasen, mit dem Funktionsverbgefüge, mit der Wortstellung an sich und das Wort „so“ spielt auch eine Rolle.
Artikel und Präpositionen werden in Kiezdeutsch häufig weggelassen. Wir hören dann Sätze wie „Wir gehen Görlitzer Park“ oder „Ich werde zweiter Mai fünfzehn“ (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 53/57). Das Weglassen von Präpositionen ist kein Phänomen, das explizit nur bei Kiezdeutsch-Sprechern auftritt, denn auch bei anderen Jugendlichen, die diese Sprache nicht sprechen, werden Präpositionen weggelassen. Wiese hat in diesem Zuge mit ihren Studenten eine Studie durchgeführt, in der die Studenten Wegbeschreibungen im öffentlichen Personenverkehr einholen sollten. Sie befragten überwiegend Personen, die äußerlich nicht den Eindruck erweckten, Kiezdeutsch zu sprechen. Dies waren vor allem Personen mittleren Alters, die zur mittleren oder höheren Bildungsschicht zählen. Bei dieser Studie kam heraus, dass gerade bei den Wegbeschreibungen die Präpositionen und Artikel weggelassen werden. „Das einzig Besondere ist hier, dass es bei allen Beispielen für diese Konstruktionen um Haltestellen ging, während wir sie in Kiezdeutsch bei Ortsangaben generell beobachtet haben“ (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 54 f.).
Durch das Weglassen von Endungen, wie in „ich frag mein Schwester“ oder auch von ganzen Wörtern wie „München weit weg, Alter“, treten als Verkürzung auf (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 61). In dem Beispiel „Ich frag mein Schwester“ wird das „e“ sowohl von „frage“ als auch von „meine“ einfach gestrichen, während im zweiten Beispiel das Wort „ist“ einfach komplett weggelassen wird. Hier fällt auf, dass besonders Wörter und Kasusendungen weggelassen werden, die wenig Inhalt haben und kaum für das Verständnis wichtig sind. Auch der unbestimmte Artikel entfällt immer mehr (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 61).
Vermehrt fallen auch Wendungen wie „lassma“, „ischwör“ oder „musstu“ auf, die als Aufforderungswörter benutzt werden. Hier werden aus zwei Wörtern ein Einziges, welches in einem Satz jemanden zu etwas auffordert oder um einen Vorschlag zu machen. Das Pronomen fällt dabei häufig weg (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 63 f.).
„Partikeln sind Signalwörter, die eine gesprochene Sprache lebendiger machen. Sie wecken beim Zuhörenden ein Interesse oder machen ihn neugierig. Ein gesprochener Text kann mit Partikeln positiv oder negativ bewertet werden. Partikeln sind unveränderlich, nicht deklinierbar und können nicht erfragt werden“ (Bensch, 2016). Wenden wir diese Definition auf die oben genannten Aufforderungswörter an, könnten wir davon ausgehen, dass es sich dabei um Partikel handelt. Denn auch die neuen Wörter können nicht erfragt werden und sind nicht flektierbar. Der Sprecher drückt mit den Aufforderungswörtern eine Einstellung aus, wobei sich „lassma“ nicht nur auf den Hörer, sondern auch auf den Sprecher selbst bezieht, wohingegen „musstu“ nur auf den Hörer bezieht und den Sprecher ausschließt (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 64 f.).
Ein bekanntes Merkmal von Kiezdeutsch ist die Partikel „ischwör“, die den Wahrheitsgehalt einer Aussage hervorhebt. Bei dieser Partikel verschmelzen, genau wie bei den anderen beiden, zwei Wörter miteinander (das Personalpronomen „ich“ mit dem Verb „schwör(e)“). Manche sprechen abwertend oder ausgrenzend von einer „ischwör-Sprache“, dadurch wird Kiezdeutsch gemeinhin in ein negatives Licht gerückt. „Im Folgenden werden wir dagegen sehen, dass „ischwör“ ein sprachliches Phänomen ist, das auf eine interessante und typisch deutsche Entwicklung zurückgeht“ (Wiese, 2012, 2012, S. 70).
Es gibt eine Vielzahl von bekannten Sätzen aus dem Kiezdeutsch, wie beispielsweise „machst du rote Ampel“ oder „ich mach dich Messer“ (Wiese, 2012, 2012, S. 77). In der Sprachwissenschaft spricht man hier von einer semantischen Bleichung des Verbs. Dabei wird das Verb „machen“ in den Satz eingesetzt, wodurch der Satz ohne Zusammenhang nur wenig Sinn zu machen scheint. Durch die Bleichung steht das Verb in naher Verbindung zum Substantiv und hat ohne dieses nur wenig bis gar keine Aussagekraft. Wiese spricht hier von einem Funktionsverbgefüge, welches gebildet wird (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 78). Bei einem Funktionsverbgefüge ist das Nomen für die Bedeutung zuständig. „Es liefert den Hauptinhalt, ist aber grammatisch reduziert und tritt oft ohne Artikel oder mit festem Artikel auf. Das Verb leistet die wesentliche grammatische Arbeit und integriert das Nomen in den Satz, trägt aber dafür zur Bedeutung nur wenig bei“ (Wiese, 2012, 2012, S. 78). Da solche Sätze, wie „Machst du rote Ampel“ aus einem Kontext heraus entstehen und nicht zum Standardwortschatz des Deutschen gehören, sind sie stark an eine bestimmte Situation gebunden (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 81).
Das Kiezdeutsch hat eine auffällige Wortstellung, welche die standarddeutsche Abfolge von Subjekt, Verb und Objekt beibehält. Ein Beispiel dafür ist „Danach ich besuche dich“. Hier wird die Subjekt-Verb-Objekt-Reihenfolge nicht geändert, obgleich eine Umstellung von Nöten wäre. Bei Sprechern von Deutsch als Zweitsprache ist diese Besonderheit häufig zu beobachten. Sobald dem Satz eine adverbiale Bestimmung der Zeit oder des Ortes vorangestellt ist, taucht diese Standardabfolge von Satzgliedern in Kiezdeutsch auf. Auch in Kiezdeutsch sind mehrere Varianten im Satzbau möglich. „Dass wir in Kiezdeutsch auch Sätze wie „darum hab ich das auch gesagt“ finden, zeigt weiterhin, dass die Konstruktion mit Adverbial und Subjekt vor dem Verb (Adv SVO) nur eine von mehreren Optionen für die Wortstellung in Aussagesätzen darstellt“ (Wiese, 2012, 2012, S. 84).
Wir widmen uns nun dem Wort „so“, welches in Kiezdeutsch scheinbar eine wichtige Rolle spielt. Die Partikel hat neben den Funktionen in der deutschen Standardsprache in Kiezdeutsch einige weitere Aufgaben. Das Wörtchen „so“ könnte in den Sätzen auch einfach weggelassen werden, da die Partikel nichts zur Bedeutung beiträgt. In Sätzen wie „Ich höre gern Alpa Gun, weil der so aus Schöneberg kommt“ scheint das Wörtchen „so“ zudem einen wichtigen Teil des Satzes einzuleiten. Für den Sprecher scheint es von besonderer Bedeutung zu sein, dass der Rapper aus Schöneberg kommt (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 93). Zu dieser Funktion kommt hinzu, dass es auch einfach als Lückenfüller gebraucht werden kann, ähnlich dem „ähm“. Dieses Phänomen lässt sich auch im gesprochenen Standarddeutsch immer öfter beobachten. Darauf gehen wir im nächsten Kapitel aber etwas genauer drauf ein.
Wir haben uns mit den grammatikalischen Eigenarten in Kiezdeutsch beschäftigt. Im nächsten Kapitel möchten wir zeigen, dass diese Eigenarten in ähnlicher Form auch im Standarddeutsch auftauchen.
3. Sprache mit System – Ist Kiezdeutsch typisch deutsch?
Im Folgenden möchten wir die Frage beantworten, ob Kiezdeutsch nun typisch deutsch ist, oder ob es sich bei Kiezdeutsch um etwas vollkommen Neues handelt.
Bevor wir diese Frag jedoch beantworten können, müssen wir zunächst klären, was wir unter typisch Deutsch verstehen. Nicht nur das Standarddeutsch macht unsere Sprache aus, auch die ganzen Dialekte fließen in unsere Sprache mit ein, denn erst gemeinsam entsteht unsere typische Sprache. Wiese spricht davon, dass auch das Hochdeutsch nur eine Varietät des Deutschen sei und die Dialekte der südlichen gebiete Deutschlands zusammenfasst, wobei das Norddeutsche eine Varietät des Nordens ist (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 50 f.).
Wenden wir uns noch einmal den Verkürzungen in Kiezdeutsch an, wo Buchstaben an Wortenden („dein“ statt „deine“) und direkt ganze Wörter weggelassen werden. Betrachtet man nun vergleichend das gesprochene Standarddeutsch, stellen wir fest, dass hier ebenfalls Verkürzungen auftauchen. Seit langem ist es selbstverständlich das Dativ-e in unserem Sprachgebrauch wegzulassen. Früher sagte man „mit einem Male“, „im Keime ersticken“ oder „auf freiem Fuße“. Uns kommen solche Formulierungen mit dem Dativ-e unweigerlich altmodisch oder sogar falsch vor, weil sie so selten gebraucht werden. Daneben ist auch das Genitiv-s ein Beispiel für Kasusendungen, die weggelassen werden. Des Weiteren hört man in der gesprochenen Sprache auch oft „ich hab“ statt „ich habe“. Hier wird die Personalendung bei dem Verb weggelassen. Im Prinzip passiert bei Kiezdeutsch nichts anderes als wir gerade festgestellt haben. Lediglich die Stelle, an der die Endungen weggelassen werden, ist anders, wie bei „ich frag mein Schwester“. Hier findet die Verkürzung an anderen Flexionsformen statt (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 61).
„So wird der unbestimmte Artikel „ein“ im gesprochenen Deutsch oft stark reduziert und an das vorangehende Wort gehängt, eine sogenannte Klitisierung“ (Wiese, 2012, 2012, S. 61). Ein Klitikon bezeichnet eine „phonetische/lautliche Verschmelzung eines Wortes mit einem Nachbarwort“ („Kleines linguistisches Wörterbuch“). Diese Klitisierung finden wir beispielsweise in Sätzen wie „Hast du’n Hnady?“ oder „Wo’s denn der Schraubenzieher schon wieder?“ Es gibt auch das Phänomen, wie bei dem Satz „Das’s ja interessant“, dass auch das „ist“ beinahe komplett verschwindet, da das vorangehende Wort bereits auf ein „s“ endet (vgl. Wiese, 2012, S. 61). Die Formen „musstu“ oder „kannste“, die wir bereits kennengelernt haben, sind ebenfalls Klitisierungen. Um zu dem Beispiel „Kannst dir vorstellen, ja?“ zu gelangen, ist noch eine weitere Kürzung notwendig. An dieser Stelle können wir also festhalten, dass Kiezdeutsch-Sprecher nichts anderes tun, als das, was wir auch im Standarddeutsch anwenden. Wiese geht davon aus, dass sie nur einen Schritt weiter gehen (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 62).
Im Standarddeutschen können wir etwas Ähnliches beobachten, wie in Kiezdeutsch. In beiden „Sprachen“ wird ein Verb zu einer Partikel. Wenn wir das Wort „bitten“ betrachten, finden wir in der ersten Person Singular ebenfalls eine Kürzung, die sich darin zeigt, dass es anstelle von „ich bitte“ nur noch „bitte“ heißt. Bei der Nutzung des Plurals entsteht ein interessantes Phänomen. In dem Beispiel, wenn Eltern ihr Kind auffordern, sein Zimmer zu putzen, dass würden sie wohl folgenden Satz benutzen: „bitte räume dein Zimmer auf“. Da es hier aber um den Plural geht, müsste der Satz mit „wir bitten dich“ beginnen. Das „bitte“ wird hier dennoch nicht verändert und es wird somit auch nicht flektiert. Kiezdeutsch-Sprecher machen genau dasselbe bei den Partikeln „lassma“ oder „musstu“, denn auch hier bleiben die Wörter sowohl im Singular als auch im Plural unverändert (vgl. Wiese, 2012, 2012, S. 65).
Bleiben wir noch einen Moment bei dem Beispiel „bitte räume dein Zimmer auf“. Neben der Verkürzung bei dem „bitte“ würde vermutlich eine weitere stattfinden. Die Eltern würden wohl anstelle von „räume“ einfach nur „räum“ sagen, was ein weiteres Beispiel für die Verkürzung von Personalendungen bei Verben ist.
Die Partikel „so“ benutzen wir im gesprochenen Standarddeutschen öfter als wir denken. Anstelle von Sprechpausen wird sie gerne als Lückenfüller genutzt, ähnlich wie das bekanntere „ähm“. Das „so“ wird darüber hinaus auch bei nicht-Kiezdeutsch-Sprechern als Fokusmarker genutzt. „Es trägt keine inhaltliche Bedeutung bei, sondern markiert stattdessen jeweils die Ausdrücke, die die wichtige, besonders hervorzuhebende Information liefert“ (Wiese, 2012, 2012, S. 100).
Ein fester Bestandteil unserer Sprache ist unter anderem das Funktionsverbgefüge, welches wir auch schon bei den grammatikalischen Auffälligkeiten angesprochen haben. Der wichtige Inhalt des Satzes kommt erst am Ende zum Ausdruck, um den Verlust der wichtigen Informationen vorzubeugen, da die Aufmerksamkeit des Zuhörers am Ende eines Satzes am größten ist. „Die Arbeitsteilung, die [dies ermöglicht], ist nicht nur ökonomisch, weil die grammaischen Aufgaben im Wesentlichen vom Verb erledigt werden und das Nomen auf die Bedeutung spezialisiert ist“ (Wiese, 2012, 2012, S. 79). Man kann sowohl sagen „sie macht ihm Angst“ als auch „sie ängstigt ihn“. In beiden Fällen wird dasselbe ausgedrückt, aber in der ersten Variante, dem Funktionsverbgefüge, wird der „Angst“ eine besondere Bedeutung zugeschrieben (vgl. Wiese, 2012, S. 79). In Kiezdeutsch passiert nichts anderes, doch dort wird zusätzlich eine semantische Bleichung benutzt.
In Kiezdeutsch kann man eine Vorgehensweise erkennen, welche bestimmten grammatikalischen Mustern zu folgen scheint, die im Standarddeutschen ebenfalls auftauchen. Daher können wir festhalten, dass Kiezdeutsch-Sprecher dieselben Phänomene anwenden, die teilweise über Generationen hinweg auch im typisch Deutschen angewendet werden. Die Frage, ob Kiezdeutsch nun typisch Deutsch ist, können wir mit „ja“ beantworten.
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1 Aus Gründen der Lesbarkeit beschränken wir uns in der weiteren Arbeit auf „Kiezdeutsch-Sprecher.