In dieser Arbeit sollen die beiden Zuspitzungen der Machtkämpfe von 1991 und 1993 analysiert werden, Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede in ihrer Struktur sowie im Vorgehen festgestellt und deren Ergebnisse und Folgen aufgezeigt werden.
Besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der Position des Militärs. Welche Rolle haben die Streitkräfte bei den Putschversuchen gespielt, wann und wieso wurde die Neutralität, die einem Militär innenpolitisch zustehen kann, aufgegeben und was bedeutet dies für das russische Militär in der Zeit nach diesen Krisen.
Zuerst wird der Augustputsch 1991 untersucht. Um eine Einschätzung der Beziehungen, speziell zwischen Präsident und Militär zu erhalten, wird die politische Situation der Sowjetunion Ende der 80er Jahre und Anfang der 90er Jahre kurz beleuchtet. Hierbei wird in der Arbeit besonders auf die Ereignisse eingegangen, die den Putsch im August 1991 einleiteten.
Im nächsten Abschnitt wird der Verlauf des Staatsstreichs beschrieben. Welche Akteure waren in die Vorkommnisse verwickelt und welches Verhalten führte dazu, dass der Putsch nach drei Tagen einen solchen Misserfolg erleiden musste? Im darauffolgenden Absatz wird hierbei auf das Vorgehen des Militärs eingegangen. Die Beziehungen vor dem Putsch, die Involvierung hoher militärischer Berater und Generäle sowie das Verhalten der einfachen Streitkräfte stehen dabei im Mittelpunkt. Die direkten Folgen für das Militär nach dem Putsch werden dann kurz beleuchtet.
Im zweiten Teil der Arbeit wird die Verfassungskrise 1993 analysiert. Auch hier werden zuerst die Ursachen untersucht. Den Hauptteil stellt die Beschreibung und Interpretation der Ereignisse, sowie die militärische Haltung in der Krise dar. Besonders wird hierbei auf das Verhältnis der beiden Streitparteien zu den militärischen Spitzen eingegangen. Welche Folgen, speziell mit Blick auf die zivilmilitärischen Beziehungen, daraus entstanden, werden nachfolgend aufgezeigt.
Zum Schluss werden Gemeinsame Nenner, sowie wesentliche Unterschiede der Ereignisse dargelegt und mit Blick auf die heutige Politik unter Wladimir Putin interpretiert.
Gliederung
1. Einleitung
2. Augustputsch 1991
2.1 Vorgeschichte
2.2 Verlauf
2.3 Das Verhalten des Militärs
2.4 Folgen
3. Verfassungskrise 1993
3.1 Vorgeschichte
3.2 Verlauf
3.3 Die Haltung des Militärs in der Krise
3.4 Folgen
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis:
1. Einleitung
Die Weltordnung, die nach dem zweiten Weltkrieg durch ein bipolares System mit den beiden Großmächten USA und der Sowjetunion geprägt war, fand zu Beginn der 90er Jahre ein jähes Ende. Der Zerfall der UdSSR am 21. Dezember 1991 war das Resultat vieler innenpolitischer Probleme, welche die Sowjetunion in den vorangegangenen Jahren zu bewältigen hatte. Diese politischen Unruhen fanden im Sommer 1991 in Form eines Putschversuchs ihren Höhepunkt. Nur wenige Wochen später wurde die Alma-Ata-Erklärung bestätigt und die 15 Unionsrepubliken zu unabhängigen Staaten erklärt. Doch auch in den folgenden Jahren konnte in Russland, dem Rechtsnachfolger der Sowjetunion, keine innere Stabilität erzeugt werden. Machtkämpfe zwischen Parlament und Präsident, Amtsenthebungen und innenpolitischer Streitigkeiten standen an der Tagesordnung. Dies mündete 1993 in einem weiteren, sehr blutigen Konflikt. Die russische Verfassungskrise sollte in seinem Ausgang die Weichen des Systems auf eine Präsidialherrschaft stellen, welche sich bis heute in Russland noch um ein vielfaches stärker zeigt.
In dieser Arbeit sollen die beiden Zuspitzungen der Machtkämpfe von 1991 und 1993 analysiert werden, Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede in ihrer Struktur sowie im Vorgehen festgestellt und deren Ergebnisse und Folgen aufgezeigt werden. Besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der Position des Militärs. Welche Rolle haben die Streitkräfte bei den Putschversuchen gespielt, wann und wieso wurde die Neutralität, die einem Militär innenpolitisch zustehen kann, aufgegeben und was bedeutet dies für das russische Militär in der Zeit nach diesen Krisen.
Zuerst wird der Augustputsch 1991 untersucht. Um eine Einschätzung der Beziehungen, speziell zwischen Präsident und Militär zu erhalten, wird die politische Situation der Sowjetunion Ende der 80er Jahre und Anfang der 90er Jahre kurz beleuchtet. Hierbei wird in der Arbeit besonders auf die Ereignisse eingegangen, die den Putsch im August 1991 einleiteten. Im nächsten Abschnitt wird der Verlauf des Staatsstreichs beschrieben. Welche Akteure waren in die Vorkommnisse verwickelt und welches Verhalten führte dazu, dass der Putsch nach drei Tagen einen solchen Misserfolg erleiden musste? Im darauffolgenden Absatz wird hierbei auf das Vorgehen des Militärs eingegangen. Die Beziehungen vor dem Putsch, die Involvierung hoher militärischer Berater und Generäle sowie das Verhalten der einfachen Streitkräfte stehen dabei im Mittelpunkt. Die direkten Folgen für das Militär nach dem Putsch werden dann kurz beleuchtet.
Im zweiten Teil der Arbeit wird die Verfassungskrise 1993 analysiert. Auch hier werden zuerst die Ursachen untersucht. Den Hauptteil stellt die Beschreibung und Interpretation der Ereignisse, sowie die militärische Haltung in der Krise dar. Besonders wird hierbei auf das Verhältnis der beiden Streitparteien zu den militärischen Spitzen eingegangen. Welche Folgen, speziell mit Blick auf die zivil-militärischen Beziehungen, daraus entstanden, werden nachfolgend aufgezeigt.
Zum Schluss werden Gemeinsame Nenner, sowie wesentliche Unterschiede der Ereignisse dargelegt und mit Blick auf die heutige Politik unter Wladimir Putin interpretiert.
2. Augustputsch 1991
2.1 Vorgeschichte
Die Sowjetunion bekannte sich seit Mitte der 80er Jahre unter der Leitung von Michail Gorbatschow zu einer Reform, die dem Kommunismus abschwor. Das Wettrüsten mit den Vereinigten Staaten hatte die UdSSR an den Rand ihrer finanziellen Möglichkeiten getrieben. „The result, by the early 80s, was a military establishment too expensive for the Soviet economy, and organized to deal with a non-existent threat of an attack by NATO by fighting and winning an unwinnable nuclear war.“1 1991 machten die Militärausgaben 9,4% des Bruttosozialprodukts in Russland aus. Westlichen Schätzungen zufolge sollen es jedoch eher 15-16% gewesen sein. Das amerikanische Militär hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 6-7% Anteil am Bruttosozialprodukt.2 Gorbatschow wollte neben dem Militär außerdem Reformen im Wirtschaftssektor, aber auch Modernisierungen in Gesellschaft und Politik. Der seit 1986 eingeleitete Prozess der Perestoika verfolgte unter anderem die Ziele, Teile der Wirtschaft zu privatisieren, das Militär in seiner Größe zu verringern und die Struktur zu ändern sowie Maßnahmen zur Demokratisierung einzuleiten.
Die folgenden Jahre brachten der Sowjetunion nicht den erhofften Aufschwung. Ganz im Gegenteil, das Land rutschte weiter in die Wirtschaftskrise. Ob nun das jahrelang etablierte Wirtschaftssystem Breschnews das Land zu weit heruntergewirtschaftet hatte und die Reformen deshalb nicht den gewünschten Effekt erzielten, oder die Perestroika selbst erst zu dieser Wirtschaftskrise führte, muss an anderer Stelle geklärt werden. Fest steht aber, dass durch den Systemwechsel neue Probleme hinzukamen, die eine Verschärfung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Not bedeuteten.3 Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung sowie in Militärkreisen und auch in den Parteien wuchs zu Beginn der 90er Jahre weiter. Schon 1990 wurden Stimmen laut, die Personen aus militärischen Kreisen nachsagten, einen Putsch gegen Gorbatschow zu planen. Diese Vorwürfe wiesen die betreffenden Personen, so beispielsweise Achromejew, Gorbatschows Militärberater, entschieden zurück.4 Am 24. April wurde das 9+1 Abkommen von Gorbatschow, Jelzin, sowie den Präsidenten verschiedener Republiken unterzeichnet, in welchem zum einen ein Entscheidungsrecht für die Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrages inbegriffen war, zum anderen politische und ökonomische Maßnahmen, wie beispielsweise die Forderung nach einem neuen Verfassungsentwurf geregelt wurden.5 Nicht nur den kommunistischen Hardlinern, die eine Öffnung der Sowjetunion kategorisch ablehnten, missfiel diese Politik, auch Jelzins Anhänger sowie weiteren hochrangigen Beamten des Sicherheitsapparates gingen die Zugeständnisse für die Republiken deutlich zu weit. „Kurz vor der Veröffentlichung des dritten Entwurfs kam es während einer Sitzung des Obersten Sowjets zu einer Art Generalprobe für den Putsch.“6 Der ausschlaggebende Punkt für den Putsch war dann aber der vierte Entwurf des Unionsvertrages, der am 23. Juli entworfen wurde. Neben den Annäherungen an die Republiken wurde nämlich ein Mittel zur Restriktion des Militärs in Form einer Kontrolle der Finanzmittel aufgenommen. Für die späteren Putschisten wurde spätestens hier klar, dass sie die Politik Gorbatschows aktiv bekämpfen mussten.7
2.2 Verlauf
Der Putsch begann mit dem Urlaub Gorbatschows und seiner Familie bei Foros, in der Ukraine. Die Rückreise nach Moskau war für den 19. August geplant, um dann in den folgenden Tagen die Unionsverträge zu unterzeichnen. In seinem Buch beschreibt Gorbatschow, dass er am 18. August noch an seiner Rede für die Unterzeichnung gearbeitet, sowie mit verschiedenen Persönlichkeiten Gespräche geführt habe, als ein unvorhergesehener Besuch das Haus des Präsidenten aufsuchte.8 „Es waren Boldin, der Leiter der Präsidialabteilung, Schenin, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der KPdSU, Baklanow, [sein] Stellvertreter im Verteidigungsrat und ehemals ZK-Sekretär. Der vierte von ihnen war Warennikow, Armeegeneral, […]“9 Diese Truppe stellte einen Teil des Kerns der Verschwörung dar. Weitere Hauptakteure auf Seiten der Putschisten waren der Vizepräsident Janajew, der Verteidigungsminister Jasow, der Vorsitzende des KGB Krjutschkow, der Premierminister Pawlow, sowie weitere Personen, teils aus dem näheren Umfeld Gorbatschows. Eine Verschwörung also, die sehr nah an den Präsidenten heran ging und von Militärstellen der obersten Machtpositionen unterstützt wurde.
Im Moskau wurde am 19. August verkündet, dass der Präsident Gorbatschow krank sei und derzeit die Regierungsgeschäfte nicht leiten könne. Der Vizepräsident Janajew, einer der Verschwörer, sollte das Amt des Präsidenten währenddessen verwalten. Über das Land wurde der Ausnahmezustand verhängt und durch Radio und Fernsehen, welches von den Putschisten kontrolliert wurde, verbreitet. Nur kurze Zeit später wurde das erste Dekret, welches „Aktivitäten politischer Parteien, sozialer Organisationen und Massenbewegungen, die <<eine Normalisierung der Lage verhindern>>[…]“10, verboten, veröffentlicht. Nun kam Boris Jelzin das erste Mal zum Vorschein und erklärte das Notstandskomitee, bestehend aus insgesamt acht Putschisten, für unzulässig. Außerdem rief er das Volk zum Generalstreik auf und forderte die Freilassung Gorbatschows.11 Dem Generalstreik kamen die Bürger zwar nicht nach, aber gegen die mittlerweile aufgefahrenen Panzer versammelten sich tausende Menschen vor dem Weißen Haus um Jelzin zu beschützen und gegen die Putschisten und die Gefangennahme Gorbatschows zu demonstrieren. Eine weltbekannte Rede Jelzins auf einem Schützenpanzer, sowie die klare Abneigung des Militärs auf die eigenen Leute zu schießen, ließen die Streitkräfte untätig bleiben. Einige Panzertruppen liefen gar über und verteidigten das Weiße Haus. In der Folge gerieten die Putschisten immer mehr unter Druck, das Militär schien trotz der versammelten Befehlsgewalt nicht ausreichend Folge zu leisten und das Volk sah in den Männern Verräter, statt Retter des Landes. Am Abend des zweiten Tages ignorierten tausende Menschen die verhängten Ausgangssperren und stellten sich erneut vor die Panzer. In der Folge zog sich das Militär weitestgehend zurück. Der Putsch war gescheitert, am dritten Tag wurden die Verantwortlichen des Putsches verhaftet, Gorbatschow wurde wohlbehalten nach Moskau eingeflogen und das sowjetische Militär als untätiger Akteur ruhmreich gefeiert.
2.3 Das Verhalten des Militärs
Die Perestroika und Glasnost hatten besonders am Militär ihre Spuren hinterlassen. Die Streitkräfte waren unzufrieden, die militärische Führung klagte nicht nur über die finanziellen Kürzungen und den Abbau der Armee, sondern sahen darin auch eine „gewissenlose Kampagne gegen das Militär, die die Rolle der Armee in der sowjetischen Geschichte verleumde und die Stabilität und Sicherheit des Landes untergrabe.“12 Schon zu Beginn des Jahres 1991 sprachen unterschiedliche Stimmen von Putschvorbereitungen durch die Militärführung, diese Behauptungen wurden jedoch zurückgewiesen. Ein signifikantes Ereignis, welches die prekäre Lage der Sowjetunion zu dieser Zeit aufzeigt, war ein Angriff des sowjetischen Militärs auf eine Fernsehstation in Vilnius am 12. und 13. Januar 1991. Bei dem Vorfall starben 14 Menschen und über 100 wurden verletzt.13 Interessant hierbei ist die Tatsache, dass nicht geklärt werden konnte, ob die Einheiten vor Ort tatsächlich auf den Befehl der Regierung hin gehandelt hatten. Dies wurde zwar im Nachhinein behauptet, doch wahrscheinlicher ist eine Handlung örtlicher Kommandeure, die ohne ausdrücklichen Befehl aus Moskau interveniert hatten.14 Dies unterstreicht nur das schlechter werdende Verhältnis des Präsidenten zur Militärführung. Auch offene Angriffe, beispielsweise durch Generalleutnant Makaschow, der Gorbatschow in einer Rede drohte, blieben nicht aus. Bei einem Treffen zwischen Gorbatschow und einigen militärischen Vertretern am 13. November 1990 wurden weitere Klagepunkte gegen die Politik hervorgebracht. So komme die Regierung nicht seiner Verpflichtung gegenüber der Armee nach und sorge für den Zusammenbruch von Recht und Ordnung im Land.15 Drastischer wurde dies von Kostin formuliert: „Heute müssen wir ganz offen fragen: Brauchen die Regierung, das Volk und Sie als Präsident die Armee oder nicht? Wenn die Antwort Ja ist, dann kann es nicht so weitergehen wie bisher.“16 Der letztlich ausschlaggebende Anstoß für den Putsch war dann der vierte Entwurf des Unionsvertrages. In den bisherigen Ausformulierungen ging es hauptsächlich um die Standpunkte der einzelnen Republiken und deren Unabhängigkeit in verschiedenen Bereichen, beispielsweise der Außenpolitik. Im vierten Entwurf sollte jedoch die Finanzierung des Militärs eine wichtige Rolle spielen. Bisher hatte das zentralistische Regime alleine über die militärischen Ausgaben entschieden, dies sollte mit der Unterzeichnung nun in eine gemeinsame Entscheidung der Unterzeichner-Staaten übergehen.17 Für die Armeeführung, die Nationalisten und die Verfechter des Kommunismus war dies wohl nicht mehr länger hinzunehmen.
Am 18. August 1991 suchten ausgewählte Putschisten, darunter unter anderem der KGB-Chef Plechanow, Gorbatschow in Foros auf und verlangten von ihm, seine Vollmachten als Präsident abzugeben. Um zu verhindern, dass eine Verbindung zur Außenwelt aufgenommen werden konnte, wurden alle Leitungen nach außen gestört.18 Nachdem Gorbatschow sich weigerte auf die Forderungen der Putschisten einzugehen, wurden er und seine Familie in seinem Haus festgehalten und von Plechanows Einheiten bewacht. Gorbatschow konnte ab diesem Zeitpunkt nur noch tatenlos abwarten, was die nächsten Tage bringen sollten.
Zunächst wurde der Ausnahmezustand verhängt und Panzer fuhren in Moskau ein. Erst am nächsten Tag trat das Staatskomitee, bestehend aus acht Personen, in einer Pressekonferenz, „auf der Janajew [Vizepräsident der UdSSR- Anm. d. Verf.] völlig überfordert und mit zitternden Händen eine Erklärung verlas“19, vor die Leute. Ein Auftritt, der weder das Volk, noch die Presse ernsthaft überzeugte. Auf Geheiß Jelzins, der eine flammende Rede geschrieben hatte und zum Widerstand aufrief, gingen tausende Menschen auf die Straße um gegen das Komitee, den Putsch und das Militär zu protestieren. In dieser Situation hätte es zu enormen Bürgerkriegssituationen kommen können, doch das Militär ging nicht gegen die Demonstranten vor. Die Putschisten hatten offenbar sowohl das Volk, als auch die Soldaten falsch eingeschätzt. Die Menschen waren, trotz der misslichen Lage im Land, nicht bereit diesen Putsch zu tragen und die Soldaten waren in großen Scharen ebenso wenig bereit „gegen das eigene Volk zu marschieren, ohne Rücksicht darauf, da[ss] ihnen das Militärgericht drohte.20 An anderer Stelle wird von „moralischer Entwaffnung“ der Soldaten geschrieben, die sich scheuten, auf ihre eigenen, unbewaffneten Mitmenschen zu schießen.21 Natürlich hätte ein ausdrücklicher Befehl des Komitees gegen die Demonstranten, aktiv mit Schießbefehlen vorzugehen, das Land in Chaos versetzen können, deshalb mussten das Komitee sehr vorsichtig vorgehen, um einen möglichen Bürgerkrieg zu verhindern. Mit einer klaren Abkehr der Streitmacht, sowohl von Offizieren und Soldaten, als auch von Sondereinheiten, hatten sie jedoch sicherlich nicht gerechnet.22
Das militärische Ziel war zu dieser Zeit das Weiße Haus, besetzt von Jelzin und von tausenden Bürgern durch Barrikaden verteidigt. Einem Angriff des Militärs hätte das Weiße Haus wohl trotzdem nicht standgehalten und man rechnete fest mit einem Einsatz der Truppen. Dieser blieb aber aus. Auch die KGB-Eliteeinheit Alpha verweigerte geschlossen den Angriffsbefehl auf das Staatsgebäude.
Die Putschisten erkannten nun, dass der Staatsstreich gescheitert war und ergaben sich.
2.4 Folgen
Der Putsch konnte zwar erfolgreich vereitelt werden, doch die Sowjetunion zerfiel innerhalb weniger Wochen. Immer mehr Republiken erklärten nach diesen Ereignissen ihre Unabhängigkeit. Erstaunlicherweise führte der Putsch, der eigentlich initiiert wurde, um die kommunistische Sowjetunion zu retten, zu ihrem Untergang.
Die Frage nach dem Verhalten des Militärs bei diesem Staatsstreich ist ambivalent zu bewerten. Zwar konnten die Putschisten das Militär letztendlich nicht dazu bringen, gegen die eigene Meute aufzumarschieren und den Befehlen Folge zu leisten, jedoch entstammte ein Großteil der Verschwörer selbst aus militärischen Kreisen und Machtzentren, die Gorbatschow sogar sehr nahe standen. Außerdem konnten sie „ein Maximum an Truppen, Panzern und anderer Waffentechnik auf die Straßen bringen – ohne Zustimmung seitens der höchsten gesetzgebenden Organe des Landes“23 In der Folge mussten also Reformen gefunden werden, die ein ähnliches Vorgehen in Zukunft unterbinden sollten. Gorbatschow schrieb dazu in seinem Buch, dass der Oberste Sowjet in seiner Position nicht ausreichend gehandelt habe. Man hätte von Seiten des höchsten gesetzgebenden Organs Schritte einleiten müssen, um gegen die Verschwörer vorzugehen.24 Auch Gorbatschow hielt sich nur noch einige Wochen an der Spitze, bis Jelzin, der sich in den Augusttagen hervorgetan hatte, die Macht übernahm.
3. Verfassungskrise 1993
3.1 Vorgeschichte
Bevor man sich die gewaltsamen Höhepunkte der Ereignisse der Verfassungskrise ansieht, müssen zuerst die Gründe, die zu dieser Situation geführt haben, erörtert werden. Die politische Diskussion in Russland war nach 1991 sehr angespannt. Nach der Absetzung Gorbatschows und der Machtübernahme Jelzins hatte dieser von Beginn an mit einer großen Opposition zu kämpfen. Die großen Reformpläne, welche auf die vier Zielbereiche Liberalisierung, Institutionenentwicklung, Privatisierung und Stabilisierung abzielten, schufen neue Probleme, die Jelzin politisch angreifbar machten. Die Privatisierung und die Freigabe von 80% der Produktionsgüter und 90% der Konsumgüter führten zu einer starken Inflation. Soziale Not eines Großteils der Bevölkerung stand einem enormen Reichtum von Wenigen gegenüber.25
Diese drastischen Neuerungen stießen bei dem reformabgeneigten Volksdeputiertenkongress mit seiner Spitze, dem Obersten Sowjet, auf vehementen Widerstand. Die Durchführung der Tagespolitik, sowie des Reformkurses wurde durch diese „Doppelherrschaft“ und ständigen Streitereien, Blockaden und Diskussionen erschwert. Im März 1993 konnte Jelzin einem Staatsstreich knapp entgehen, da dem Kongress die nötigen Stimmen für eine Zweidrittelmehrheit fehlten, doch die politische Lage spitzte sich weiter zu. Nach weiteren Blockaden seitens des Kongresses löste Jelzin am 21. September 1993 den Volkskongress sowie den Obersten Sowjet auf.26 Hierbei berief sich Jelzin auf eine Legitimationsgrundlage, welche weder in der Verfassung, noch laut der Auffassung des Parlaments gegeben war. „Der Oberste Sowjet habe durch sein reformfeindliches Verhalten insbesondere bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung den im Aprilreferendum dokumentieren Volkswillen nicht erfüllt.“27 Dies stellte eine Auslegung dar, welche die Legitimation vor die Legalität stellte28 und international, unter anderem bei Bundeskanzler Kohl, Zuspruch fand.
[...]
1 Tsypkin, Mikhail: Lessons not to learn, Post-communist Russia, in: Bruneau Thomas C. /Matei Florina Christiana (Hg.), The Routledge Handbook of civil-military relations, Cornwall 2013, S.110-122, hier S. 111.
2 Schröder, Hans-Henning: Die Verlierer der Perestrojka, Das Militär und die Rüstungsindustrie, in: Revolution in Moskau, hrsg. v. Schewardnadse Eduard/Gurkow Andrej/Eichwede Wolfgang u.a (Hg.) Hamburg 1991, S. 156-175, hier S. 161.
3 Vgl. Höhmann, Hans-Hermann: Der ökonomische Systemwechsel, in: Schewardnadse Eduard/Gurkow Andrej/Eichwede, Wolfgang u.a. (Hg.) Revolution in Moskau, Hamburg 1991, S. 207-224, hier S. 207.
4 Vgl. Holden, Gerhard: Von der Perestroika zum Putsch: Die Beziehungen zwischen Politik und Militär in der sowjetischen Krise, Frankfurt am Main 1992, S. 15.
5 Vgl. Ebd. S. 29.
6 Ebd. S. 29.
7 Vgl. Ebd. S. 31.
8 Vgl. Gorbatschow, Michail: Der Staatsstreich, München 1991, S. 16 f.
9 Ebd. S. 19.
10 Donath, Klaus-Helge: Drei Tage im August, in: Schewardnadse Eduard/Gurkow Andrej/Eichwede Wolfgang u.a. (Hg.) Revolution in Moskau, Hamburg 1991, S.37-48, hier S. 41.
11 Vgl. Ebd. S. 41.
12 Holden: Die Beziehungen zwischen Politik und Militär in der sowjetischen Krise, S. 2.
13 Vgl. Ebd. S. 2.
14 Vgl. Ebd. S 18.
15 Vgl. Ebd. S. 15.
16 Ebd. S. 15.
17 Vgl. Ebd. S. 31.
18 Vgl. Gorbatschow: Der Staatsstreich, S. 17.
19 Neidhard, Wolfram: Putsch 1991 in der Sowjetunion, Die letzte Schlacht der Dilettanten, unter: http://www.n-tv.de/politik/Die-letzte-Schlacht-der-Dilettanten-article18457096.html (Stand: 10.3.2017)
20 Ebd. S. 34.
21 Gosman, Leonid: Die Psychologie der Revolution, in: Schewardnadse Eduard/Gurkow Andrej/Eichwede Wolfgang u.a. (Hg.), Revolution in Moskau, Hamburg 1991, S.67-82, hier S. 72.
22 Vgl. Gorbatschow: Der Staatsstreich, S 34.
23 Ebd. S 47.
24 Vgl. Ebd. S. 48.
25 Vgl. Schröder, Hans-Henning: Russland in der Ära Jelzin, 1992-1999, unter: http://www.bpb.de/internationales/europa/russland/47924/russland-in-der-aera-jelzin-1992-1999?p=all (Stand: 10.3.2017)
26 Vgl. Ebd.
27 Tilling Heinrich/ Schröder Hans-Henning. Machtkrise und Militär, Die russischen Streitkräfte während des Machtkampfes zwischen Präsident und Parlament im Herbst 1993, Köln 1993, S. 10.
28 Vgl. Ebd.