Geheimnisvoll, melancholisch, seltsam, ein wenig traurig und sensibel, isoliert und doch zusammengehörig, regungslos und zugleich umherziehend, heimatlos: So oder so ähnlich ließe sich der erste Eindruck beim Betrachten Picassos Gemälde "Les Saltimbanques" beschreiben. Bei längerer Betrachtung stellen sich dem Betrachter vielerlei Fragen: Wer sind diese Figuren? Woher kommen sie? Weshalb finden sie sich in dieser leeren Landschaft wieder und wohin gehen sie? Wie ist das Werk entstanden? Was wollte Picasso mit diesem Gemälde ausdrücken?
Die vorliegende Hausarbeit im Rahmen des Hauptseminars "Der frühe Picasso: Vom Fin-de-siècle bis zum Beginn des Kubismus (1900 – 1909)" versucht, diesen und weiteren Fragen mitunter durch den Blick auf die Entstehungsgeschichte und den Werkprozess sowie einer kunstgeschichtlichen Einordnung des Motivs gerecht zu werden. Im Vordergrund steht darüber hinaus auch die Analyse der von Picasso eingesetzten bildnerischen Mittel, um vom Bild ausgehende Wirkungen auf den Betrachter direkt am Bild zu belegen.
Somit baut sich diese Arbeit wie folgt auf: Zu Beginn des Hauptteils steht die charakterisierende Beschreibung des Gemäldes. Darauf folgt eine schwerpunktmäßige Analyse der bildnerischen Mittel. Als nächstes werden unter Berücksichtigung von Vorstudien und Skizzen Stationen des Werkprozesses des Gemäldes vollzogen. Ein kurzer Blick auf die bedeutsamen gemäldetechnologischen Untersuchungen von E. A. Carmean eröffnen dabei einen aufschlussreichen Blick auf die unter dem heutigen Gemälde liegende Malschichten.
Dieser Teil der Arbeit endet mit der Interpretation des Bildes, bevor im darauffolgenden Teil um die ikonographische Einordnung des Bildmotivs behandelt wird. Durch Klärung der Begrifflichkeiten und dem Blick auf die Herkunft des Zirkus- und Akrobatenmotivs in der bildenden Kunst soll dem Leser Picassos Begegnung mit der Welt des Zirkus und der Akrobaten verständlich gemacht werden. Der Vergleich mit ausgewählten Zirkus- und Akrobatendarstellungen rundet dieses Kapitel durch Anschaulichkeit ab.
Als nächstes zeigt ein Exkurs exemplarisch die Rezeption von Picassos Gemälde bei seinen Zeitgenossen Guillaime Appollinaire und Rainer Maria Rilke auf. Den Abschluss bildet ein resümierendes Fazit und ein kurzer Ausblick auf Picassos weiteres Schaffen nach dem Gemälde Les Saltimbanques. Ziel dieser Arbeit ist es darüber hinaus, einen Überblick über bisherige Forschungsergebnisse zu dem Werk zu bieten.
Inhalt
1. Einleitung
2. Les Saltimbanques (1905)
2.1. Charakterisierende Beschreibung und Wirkung des Dargestellten
2.2. Analyse bildnerischer Mittel
2.3. Bildinterpretation
2.4. Werkprozess: Skizzen, Vorstudien, Grafiken & Bezugswerke Picassos
3. Picasso und die Welt der Zirkusleute: zeitgeschichtliche Einordnung
3.1 Kurzüberblick: Herkunft, Begrifflichkeiten und Traditionslinien des Zirkus in Frankreich
3.2 Ikonographie: Zirkus- und Akrobatendarstellungen des 18. und 19. Jahrhunderts in Frankreich
4. Exkurs: Rezeption des Gemäldes
4.1. Literatur: Appollinaire
4.2. Literatur: Rainer Maria Rilkes 5. Elodie
4.2.1 Rilke und Picasso
4.2.2 Rilkes Begegnung mit den Saltimbanques und deren weiterer Verbleib
5. Zusammenfassung
6. Quellen- und Literaturverzeichnis
7. Abbildungen
8. Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung
Geheimnisvoll, melancholisch, seltsam, ein wenig traurig und sensibel, isoliert und doch zusammengehörig, regungslos und zugleich umherziehend, heimatlos: So oder so ähnlich ließe sich der erste Eindruck beim Betrachten Picassos Gemälde Les Saltimbanques beschreiben. Bei längerer Betrachtung stellen sich dem Betrachter vielerlei Fragen: Wer sind diese Figuren? Woher kommen sie? Weshalb finden sie sich in dieser leeren Landschaft wieder und wohin gehen sie? Wie ist das Werk entstanden? Was wollte Picasso mit diesem Gemälde ausdrücken? Die vorliegende Hausarbeit im Rahmen des Hauptseminars Der frühe Picasso: Vom Fin-de-siècle bis zum Beginn des Kubismus (1900 – 1909) versucht diesen und weiteren Fragen mitunter durch den Blick auf die Entstehungsgeschichte und den Werkprozess sowie einer kunstgeschichtlichen Einordnung des Motivs gerecht zu werden. Im Vordergrund steht darüber hinaus auch die Analyse der von Picasso eingesetzten bildnerischen Mittel, um vom Bild ausgehende Wirkungen auf den Betrachter1 direkt am Bild zu belegen. Somit baut sich diese Arbeit wie folgt auf: Zu Beginn des Hauptteils steht die charakterisierende Beschreibung des Gemäldes. Darauf folgt eine schwerpunktmäßige Analyse der bildnerischen Mittel. Als nächstes werden unter Berücksichtigung von Vorstudien und Skizzen Stationen des Werkprozesses des Gemäldes vollzogen. Ein kurzer Blick auf die bedeutsamen gemäldetechnologischen Untersuchungen von E. A. Carmean eröffnen dabei einen aufschlussreichen Blick auf die unter dem heutigen Gemälde liegende Malschichten. Dieser Teil der Arbeit endet mit der Interpretation des Bildes, bevor im darauffolgenden Teil um die ikonographische Einordnung des Bildmotivs behandelt wird. Durch Klärung der Begrifflichkeiten und dem Blick auf die Herkunft des Zirkus- und Akrobatenmotivs in der bildenden Kunst soll dem Leser Picassos Begegnung mit der Welt des Zirkus und der Akrobaten verständlich gemacht werden. Der Vergleich mit ausgewählten Zirkus- und Akrobatendarstellungen rundet dieses Kapitel durch Anschaulichkeit ab. Als nächstes zeigt ein Exkurs exemplarisch die Rezeption von Picassos Gemälde bei seinen Zeitgenossen Guillaime Appollinaire und Rainer Maria Rilke auf. Den Abschluss bildet ein resümierendes Fazit und ein kurzer Ausblick auf Picassos weiteres Schaffen nach dem Gemälde Les Saltimbanques. Ziel dieser Arbeit ist es darüber hinaus, einen Überblick über bisherige Forschungsergebnisse zu dem Werk zu bieten.
2. Les Saltimbanques (1905)
Um 1904/05 zeichnet sich ein umfassender Umbruch im künstlerischen Schaffen Picassos bezüglich Themenwahl und formaler Umsetzung ab.2 Picasso entfernt sich nach und nach von der blauen Farbigkeit der sogenannten blauen Periode 3 und er bereichert seine Farbpalette wieder mit wärmeren Farbtönen. Mit der Zeit entwickeln sich die Wirkung der „von Überdruß und düsterer Ergebung geprägten Gaukler aus der blauen Periode“ hin zu „ernster und geheimnisvoller Gelassenheit“.4 Der Dichter Charles Morice bewertet Picassos Schaffen zu dieser Zeit als „leuchtende Wandlung seines Talents“5 und spielt damit vermutlich auf eine seiner Meinung nach einkehrende leuchtende Farbigkeit an. Höhepunkt dieser Schaffensperiode stellt das Gemälde Les Saltimbanques (Abb. 1) dar, welches im Herbst des Jahres 1905 entstanden ist.6 Die dargestellte Akrobatengruppe wird zudem als „Höhepunkt seiner sensibelsten und wahrscheinlich lyrischsten Periode“ beschrieben.7
Diese in verschiedenen Quellen positiv nachzuweisende Auffassung des Werkes deutet darauf hin, dass Picassos künstlerisches Werk durch die großformatige Akrobatenfamilie in formaler und thematischer Hinsicht mehr Resonanz erhielt und künstlerische Reife markiert.8 Auch für Müller gelten die Saltimbanques von 1905 als Hauptwerk in Picassos Werk dieser Zeit9. Darauf lässt für Müller auch das große Format schließen, welches bis dato sein größtes Werk ist, was auch Philippot feststellt10.
Das Gemälde wurde 1914 in einem Auktionskatalog zunächst mit dem Titel Les Bateleurs (zu Deutsch: Die Gaukler) betitelt11. Der aktuelle Titel Les Saltimbanques folgte erst später und eignet sich vermutlich besser, da Picasso im Februar 1905 selbst einige seiner Arbeiten mit dem Titel Les Saltimbanques bezeichnete.12
Der vorliegende Abschnitt widmet sich im Folgenden Picassos Gemälde Les Saltimbanques von 1905 und stellt dieses sowohl in den Fokus einer charakterisierenden Beschreibung als auch einer formalen Analyse der verwendeten bildnerischen Mittel. Außerdem wird durch Beleuchtung des Werkprozesses der Frage nachgegangen, wie das Werk entstanden ist und welche Etappen Picasso auf dem Weg zur Fertigstellung des Gemäldes zurückgelegt hat. Ein Interpretationsversuch eröffnet am Ende dieses Kapitels eine mögliche Deutung des Werkes.
2.1. Charakterisierende Beschreibung und Wirkung des Dargestellten
Das Bild (Abb. 1) zeigt sechs inmitten einer wüstenartigen Landschaft nah beieinanderstehende Personen unterschiedlichen Alters.
Der sich am oberen Bildrand befindliche Himmel weist eine lockere Malweise und verschiedene Hellblautöne, hellen Grün- und Violetttönen sowie abgestuften Weißtönen auf und nimmt etwa ein Viertel der Bildfläche ein. Die restliche Landschaft besteht aus leicht geschwungenen Hügeln, welche aufgrund der überwiegend hellbraunen Farbigkeit vermutlich aus Sand bestehen. In dieser Umgebung finden sich die zum Teil auffallend farbig und zirkusartig gekleideten Personen, die als Gruppe den größten Anteil der Bildfläche einnehmen. In der rechten oberen Ecke des Bildes jedoch öffnet sich der freie Blick auf die Sandhügellandschaft und den bewegten, scheinbar mit Wolken überzogenen Himmel.
Es fällt auf, dass die Personen in unterschiedliche Richtungen blicken und sich trotz geringer räumlicher Distanz nicht direkt ansehen oder miteinander kommunizieren, worauf die überwiegend geschlossenen Münder hinweisen. Die Augen erscheinen überwiegend dunkel und leer, sodass ein differenzierter Blick nicht festgestellt werden kann.
Ein Blick auf die Gestik bietet dem Betrachter eine vielfältige Variation der Handhaltungen. Obwohl die Personen im Bild statisch und still stehend erscheinen, gewinnt die Darstellung durch die unterschiedlichen Handhaltungen insgesamt an Bewegung. So hält der junge Mann im rautengemusterten Ganzkörperanzug ganz links im Bild seine linke, geöffnete Handfläche hinter seinem Rücken, als wolle er sich bald vor dem beleibten, etwas älteren Mann schräg nach rechts vor ihm verneigen, welcher im roten, eng anliegenden Ganzkörperanzug mitsamt einer zipfelartigen roten Mütze und einer Art Sack, den er lässig über die rechte Schulter nach hinten fallen lässt, auf die Bildfläche gesetzt wurde. Dessen linke Hand ruht entspannt auf dem kugelförmigen Bauch. Der junge Mann links im Bild hält an seiner rechten Hand die kleine Hand eines noch jungen Mädchens, welches mit ihrer rechten Hand sanft den Träger eines mit rötlichen Blüten besetzten Korbes berührt und ein rosafarbenes, ballettartiges Kleidchen mit schwarzem Bolerojäckchen darüber trägt. Mittig im Bild steht ein jugendlicher Junge, ebenfalls mit eng anliegender, nahezu hautfarbener Kleidung, der mit seiner rechten Hand eine Art Trommel auf seinem oberen Rücken bzw. seiner linken Schulter festhält. Seine linke Hand scheint seine linke Schulter zu berühren. Rechts neben ihm steht ein kleiner Junge in blauem Kostüm, der aufgrund seiner Körpergröße vermutlich im selben Alter des kleinen Mädchens ist. Seine Arme und Hände hängen locker am Oberkörper herab. Die Finger seiner linken Hand greifen das rote Halstuch, welches bereits langsam von seiner linken Schulter herabzurutschen scheint.
Der Blick auf seine fast im 90-Grad-Winkel positionierten Füße verrät im Vergleich zur entspannten Haltung der Arme und Hände eine Anspannung des Unterkörpers. Auch die Fußpositionen der anderen Figuren wirken angespannt und erinnern an Fußstellungen aus dem Ballett. Dies wirkt jedoch seltsam, da die Positionierung der Füße im Kontext der Wüstenlandschaft und der sich offensichtlich nicht in der Situation der Darbietung eines Kunststücks befindlichen Figurengruppe keiner bildimmanenten Logik folgt.
Ganz rechts im Bild sitzt eine junge Frau etwas abseits von der Gruppe. Es ist jedoch nicht ersichtlich, worauf sie sitzt. Sie trägt einen geschmückten Hut, der an einen Strohhut erinnert. Ihre Kleidung, bestehend aus einem langen, rotorangen Rock, einem bläulichen Oberteil mit V-Ausschnitt und einem darüber angezogenen, weißen Jäckchen, fällt locker. Ihre Arme hält sie nah am Körper, ihre linke Hand13 liegt locker auf ihrem Schoß, den anderen Arm hält sie abgewinkelt, sodass ihre Hand rechte Schulter berührt. Ihr Blick nach rechts erscheint leer und in sich gekehrt. Neben ihr und dem kleinen Jungen befindet sich ein bauchiger Tonkrug.
2.2. Analyse bildnerischer Mittel
Markus Müller beschreibt Picassos Komposition und Landschaft, in der sich die Personen befinden als ausgesprochen brach und verlassen. Dies unterstreicht Müller zufolge die „Heimatlosigkeit und das Vagabundieren der Gaukler in einer ungastlichen und fremden Welt.“14 Die melancholische Bildwirkung entsteht durch zurückgezogen und bewegungslos wirkende Personen und widerspricht der landläufigen Vorstellung eines heiteren Zirkuslebens.15 Fremd, verlassen, seltsam, geheimnisvoll, melancholisch – solche und andere Wirkungen, die vom Gemälde Les Saltimbanques ausgehen, begründen sich nicht nur in dem WAS dargestellt ist, sondern auch WIE es dargestellt wurde. Bemerkenswert ist hierbei insbesondere die Farbigkeit des Gemäldes, die Formsprache Picassos sowie die Berücksichtigung einer räumlichen Wirkung und soll Gegenstand dieses Abschnitts sein.16
Picasso verwendet gezielt Farbkontraste, um dem Bild trotz größtenteils gemischter, ungesättigter Braun- und Weißtöne Leuchtkraft zu verleihen. Dabei werden besonders die Kostüme inszeniert, die vor dem Hintergrund der hellbraunen, kargen Sandlandschaft durch Zinnoberrot (Anzug des beliebten Mannes) oder gesättigtem Türkis- und Kobaltblau (Kleidung des kleinen Jungens) leuchtend hervortreten und nahezu magisch wirken. Der eher dunkel und ungesättigt gehaltene Rautenanzug des jungen Mannes links im Bild wirkt gerade durch die vereinzelt rot- und blaufarbenen Rauten verspielt. Andererseits scheinen manche Personen durch farblich kaum zum Hintergrund abgesetzter Kleidung mit der Landschaft zu verschwimmen. So etwa der mittige Jüngling, dessen hautenger Anzug farblich fast mit der Farbe des sandigen Hintergrunds übereinstimmt. Die Gruppe hebt sich somit auf der einen Seite farblich und auch in der damit einhergehenden Abgrenzung der Formen deutlich vom Hintergrund ab, verzahnt sich und verschmilzt auf der anderen Seite aber wieder mit dem Hintergrund. Die Figuren wirken nicht einfach vor einen Hintergrund gesetzt. Vielmehr werden Figurengruppe und Hintergrund zu einer untrennbaren Einheit. Unterstützt wird dies durch die Darstellung des Hintergrunds und dessen Räumlichkeit. Zum einen wirkt die Figurengruppe durch Überschneidungen von Körperteilen in sich äußerst raumhaltig. Zum anderen verzichtet Picasso auf eine plastische Modellierung der Sandhügel und -täler, deren Wechselspiel überwiegend nur durch ganz feine Farbnuancen zu erkennen sind. Dies lässt den Hintergrund insgesamt eher flächig erscheinen. Am linken Bildrand wird durch deutlicheren Hell-Dunkel-Kontrast jedoch deutlich, dass es sich um mehrere Raumebenen handelt. Im Hinblick auf die Räumlichkeit handelt es sich also auch hier um ein Wechselspiel Picassos mit den Sehgewohnheiten des Betrachters. Picasso zeigt hiermit einen spannungsreichen Umgang mit Figur und Grund und erzeugt dadurch Bildflächenspannung. Zudem deutet dieser Umgang mit Farbe, Form und Räumlichkeit daraufhin, dass Picasso das Gemälde nicht angefangen beim Hintergrund und endend bei der vordersten Figur malte, sondern dieses immer wieder überarbeitet und an den verschiedenen Ebenen gleichzeitig gearbeitet haben könnte. In Ergänzung dazu wirken die Figuren durch die zarte Konturierung der Körperumrisse einerseits skizzenartig, grazil und flüchtig, andererseits aber auch geschlossen und flächig. Durch die Hell-Dunkel-Modellierung der Körpervolumina wirken die Körperformen der Personen plastisch. So beispielsweise die Beine des mittig stehenden Jünglings oder der runde Bauch des dicken Mannes. Auch hier spielt Picasso erneut mit dem Wechsel als plastisch und flächig wirkenden Formen, die sich ins Gesamtgefüge des Bildes einfügen und subtil mit der Raumwahrnehmung des Betrachters spielen.
2.3. Bildinterpretation
Die großformatige Gauklerfamilie muss bei einer Interpretation im Zusammenhang mit den damaligen Lebensverhältnissen des Künstlers werden. Dieses war geprägt war von Entbehrung, Unsicherheit und einem Leben als Außenseiter.17 Für Müller spiegelt auch die Akrobatenfamilie das entbehrungsreiche Dasein der außerhalb der Gesellschaft stehenden Zirkusleute wider, welches sich über Generationen hinwegzieht.18 So können die „professionellen Illusionisten“, wie Müller die Akrobaten nennt, als „Spiegel- und Zerrbilder des bildenden Künstlers selbst“ gedeutet werden.19 Diese Deutung findet sich ebenfalls bei Émilie Philippot:
„Der Zirkus-Zyklus, eine wahre Ode an die Schaffenskraft, unterstreicht die Doppelrolle jedes Künstlers, der einerseits zum gesellschaftlichen Aussenseitertum [sic] gezwungen ist, andererseits aber auch derjenige ist, der unsere Sicht der Welt verändert, indem er, sobald er im Rampenlicht steht, die ungeahntesten Talente entfaltet.“20
So schafft Picasso es „vorhandene Gegensätze zu einem bruchlosen Ganzen zu einen und in dynamischem, schwebendem Gleichgewicht zu halten.“21 In dem Gemälde Les Saltimbanques treten Regungslosigkeit und Melancholie an den Platz heiterer, bewegter Bildwelten22. Schlussendlich vereint Les Saltimbanques die beiden Bildsprachen der blauen und der rosa Periode: Auf der einen Seite begegnen dem Betrachter sowohl schmerzhafte als auch existentielle und deprimierende Vorstellungen des Akrobatenlebens. Auf der anderen Seite zeigen die Figuren auch eine gewisse Zuversicht und Optimismus.23
2.4. Werkprozess: Skizzen, Vorstudien, Grafiken & Bezugswerke Picassos
Da die Darlegung der Fülle des Materials hinsichtlich Picassos Werkprozess den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, werden im Folgenden die aus Sicht der Autorin wichtigsten Stationen kurz erläutert. Die Literaturrecherche zeigt, dass der Künstler längere Zeit am Motiv einer Akrobatengruppe arbeitete und durch eine große Zahl an Vorstudien verschiedene Figurenkonstellationen und Motive kombinierte, bis er zu schließlich zu einer „befriedigenden Formulierung des Themas gelangte“.24 So beinhaltet das Werk Les Saltimbanques Charaktere und Sujets, die der Künstler bereits im Vorfeld in einzelnen Darstellungen entwickelte.25 Laut Carmean fertigte Picasso eine Vielzahl individueller Figurenstudien für die finale Komposition des Gemäldes.26 Sein großes Interesse für den Pariser Cirque Médrano und das Zirkusmotiv mitsamt dessen Protagonisten in unterschiedlichsten Situationen führten Picasso zu einer Vielzahl an Radierungen, Zeichnungen und Malereien27, die retrospektiv als Vorstudien betrachtet werden können und in das großformatige Gemälde münden. Darunter finden sich Zeichnungen, Radierungen und Aquarelle, welche er zudem des Öfteren übermalte.28
Hervorzuheben ist beispielsweise eine Serie an Kaltnadelradierungen aus der sogenannten Suite de Saltimbanques, welche 1905 erstmals in der Galerie Serrurier ausgestellt wurden29. Die genreartigen Darstellungen illustrieren das Alltagsleben des umherziehenden Gauklervolkes. 30 Auffällig aus dieser Serie ist eine Radierung, die eine nomadenhaft wirkende Zirkusfamilie inmitten einer kargen Landschaft zeigt, welche unterschiedlichen Tätigkeiten nachgeht (Abb. 2). Es handelt sich dabei wohl um einen weiteren Druck derselben Kupferplatte. Rechts im Bild zu sehen ist eine junge Akrobatin auf einer Kugel, die an ein früheres Gemälde von Picasso aus der Zeit um 1904-5 erinnert, das ebenfalls eine junge Akrobatin auf einer Kugel zeigt (Abb. 3). Zudem erinnert die Radierung an eine ebenfalls 1905 entstandene Gouache, auf der eine ähnliche Darstellung einer Zirkusfamilie zu sehen ist (Abb. 4). Es lassen sich abgesehen von der Kolorierung nahezu keine kompositorischen Unterschiede zu der genannten Radierung erkennen. Zudem fällt auf, dass Picassos Darstellungen in dieser Schaffensphase häufig karge Landschaften kennzeichnen.31 Es finden sich „Rudimente von Vegetationsformen vor trister Landschaftskulisse.“32
[...]
1 In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitberücksichtigt.
2 Vgl. Der Künstler als Gaukler, hsrg. von Markus Müller, Ausst.-Kat. Graphikmuseum Pablo Picasso Münster, Deutscher Kunstverlag München Berlin 2006, S. 40.
3 Auf die sogenannte blaue Periode wird in dieser Arbeit nicht näher eingegangen. Interessierte Leser finden hierzu jedoch eine Fülle an Literatur.
4 Vgl. Jean Starobinski, Jean, Porträt des Künstlers als Gaukler. Drei Essays. Frankfurt am Main 1985, S. 104.
5 Vgl. Pierre Daix; Georges Boudaille, Picasso. Blaue und Rosa Periode, München 1966, S. 72.
6 Vgl. Émilie Philippot, “Journal 1905”, in: Picasso. Blaue und Rosa Periode, hrsg. von Raphael Bouvier, Ausst.-Kat. Fondation Beyeler Basel, Berlin 2019, S.159-169, S. 163.
7 Vgl. Sir John Rothenstein, Hundert Meisterwerke der Malerei, Hamburg 1965, S. 188.
8 Vgl. E.A. Carmean, Picasso. The Saltimbanques. Washington 1980. S. 17.
9 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Müller 2006, S. 40.
10 Vgl. Philippot 2019, S. 159.
11 Dem dritten Kapitel dieser Arbeit ist eine genauere Begriffsdifferenzierung der Bezeichnungen bateleur/Gaukler und saltimbanque/Akrobat zu entnehmen.
12 Vgl. Carmean 1980, S. 18.
13 Die Beschreibungen beziehen sich auf die vom Betrachter gesehene Perspektive.
14 Müller 2006, S. 44.
15 Müller 2006, S. 45f.
16 Die Analyse beschränkt sich auf die wichtigsten bildnerischen Mittel aus Sicht der Autorin.
17 Vgl. Fernando 2011, S. 27.
18 Vgl. Müller 2006, S. 62.
19 Vgl. Müller 2006, S. 47.
20 Philippot 2019, S. 163.
21 Vgl. Rothenstein 1965, S. 188.
22 Vgl. Philippot 2019, S. 163.
23 Vgl. Fernando 2011, S. 27.
24 Vgl. Müller 2006, S. 42. & Philippot 2019, S. 159.
25 Vgl. Rothenstein 1965, S. 188.
26 Vgl. Carmean 1980, S. 47.
27 Vgl. Fernando Martín, “From the Blue of Hell to the Rose of Bateau-Lavoire. The Suite de Saltimbanques”, in: Picasso and the Circus. Fin-de-Siècle Paris and the Suite de Saltimbanques, hrsg. von Phillip J. Earenfight, Seattle, Washington 2011, S. 26-31, S. 30.
28 Philippot 2019, S. 166.
29 Vgl. Fernando 2011, S. 31.
30 Vgl. Müller 2006, S. 42.
31 Vgl. ebd. S. 43f.
32 Vgl. ebd. S. 44.