In dieser Arbeit soll untersucht werden, wie sich die Religiösität in zwei europäischen Ländern, Deutschland und Spanien, in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.
Die Diskussion um das Aufhängen von Kreuzen in bayrischen Behörden, die von CSU-Politiker Markus Söder im Frühjahr 2018 eingeleitet wurde, zeigt, dass die soziale Bedeutung von Religion nach wie vor ein zentrales Thema in Deutschland ist. Gerade die wachsende Zuwanderung nach Europa in den letzten Jahren hat die Brisanz des Themas Religion in den deutschen Medien, aber auch in Gesellschaft und Politik und in anderen europäischen Staaten verstärkt. So schwor in Spanien der neue Ministerpräsident Pedro Sánchez den Eid auf die Verfassung erstmals ohne Bibel und Kruzifix, was wiederum eine erhöhte Präsenz der Thematik in den spanischen Medien zur Folge hatte.
Auf der einen Seite steht also eine Zunahme der Beschäftigung der Gesellschaft mit Religion, auf der anderen Seite jedoch zeigen empirische Studien, dass die gesellschaftliche Bedeutung von Religion in Europa abnimmt.
Inhalt
1. Einleitung
2. Forschungsstand und theoretischer Rahmen
2.1 Säkularisierungstheorie
2.2 Individualisierungsthese des Religiösen
2.3 Definition der Begrifflichkeiten
2.4 Operationalisierungsmöglichkeiten anhand der EVS
2.5 Empirische Erwartungen
3. Methoden und Daten
4. Ergebnisse
4.1 Kirchliche Praxis und Gottesglaube in Spanien
4.2 Kirchliche Praxis und Gottesglaube in Westdeutschland
4.3 Ländervergleich
4.4 Kohortenanalyse
5. Diskussion und Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
Die Diskussion um das Aufhängen von Kreuzen in bayrischen Behörden, die von CSU- Politiker Markus Söder im Frühjahr 2018 eingeleitet wurde, zeigt, dass die soziale Bedeutung von Religion nach wie vor ein zentrales Thema in Deutschland ist. Gerade die wachsende Zuwanderung nach Europa in den letzten Jahren hat die Brisanz des Themas Religion in den deutschen Medien, aber auch in Gesellschaft und Politik und in anderen europäischen Staa- ten verstärkt. So schwor in Spanien der neue Ministerpräsident Pedro Sánchez den Eid auf die Verfassung erstmals ohne Bibel und Kruzifix, was wiederum eine erhöhte Präsenz der Thematik in den spanischen Medien zur Folge hatte. Auf der einen Seite steht also eine Zu- nahme der Beschäftigung der Gesellschaft mit Religion, auf der anderen Seite jedoch zeigen empirische Studien, dass die gesellschaftliche Bedeutung von Religion in Europa abnimmt. In dieser Arbeit soll nun untersucht werden, wie sich die Religiosität in zwei europäischen Ländern, Deutschland und Spanien, in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.
Die Annahme, dass die soziale Bedeutung von Religion in sich modernisierenden Gesell- schafen abnimmt, wird von der Säkularisierungstheorie vertreten (vgl. Pickel 2011, S. 138). Ihre Anfänge liegen in den 60er Jahren und sie wird bis heute von ForscherInnen verschie- denster Disziplinen vertreten und auch auf andere gesellschaftliche Phänomene angewen- det. Dabei gilt grundsätzlich: Je größer die Widersprüche zwischen Modernisierung und Re- ligion innerhalb einer Gesellschaft sind – das heißt je weiter vorangeschritten soziale Phä- nomene wie Rationalisierung, funktionale Differenzierung, Industrialisierung, Demokratisie- rung, Bürokratisierung, Urbanisierung, Individualisierung und Pluralisierung sind – desto ge- ringer ist die Bedeutung der Religion (vgl. Pickel 2011, S. 139ff). Der Bedeutungsverlust von Religion wurde empirisch vor allem für Westeuropa und Deutschland sowie für einige osteu- ropäische Länder mit höherem Entwicklungsstand belegt (vgl. Pickel 2017, S. 44ff).
Die Tatsache, dass Religion jedoch auch weiterhin ein wichtiges Thema für Menschen in modernen Gesellschaften darstellt, gibt Anlass zum Zweifel an der Säkularisierungstheorie. VertreterInnen einer neueren Theorie, der „Individualisierungsthese des Religiösen“, stim- men dem Bedeutungsverlust der Religion zwar zu, beziehen dies aber hauptsächlich auf den öffentlichen Raum. Sie vertreten die Ansicht, dass es eine Transformation des Religiösen von der Öffentlichkeit hin zum Privaten gibt und damit die Religiosität einzelner Personen in der Gesellschaft nicht zurückgeht.
Beide Theorien sollen im Folgenden für die beiden europäischen Länder Spanien und Deutschland mithilfe einer Kohortenanalyse geprüft werden (die Auswahl der Länder wird in Kapitel drei begründet). Grundlage für die Analyse stellt die European Value Study dar.
2. Forschungsstand und theoretischer Rahmen
2.1 Säkularisierungstheorie
Das zentrale Konzept zur Erklärung religiöser Entwicklungen in der Moderne ist die Säkulari- sierungstheorie. Dabei wäre es falsch, von einer einheitlichen oder geschlossenen Theorie zu sprechen, da es viele unterschiedliche Ansätze zum Konzept der Säkularisierung gibt. Die meisten Ansätze bauen auf den Klassikern der Religionssoziologie auf, darunter vor allem Max Weber und Emile Durkheim (vgl. Pickel 2011, S. 138). Die Säkularisierungstheorie und ihre empirische Überprüfung fanden vor allem ab den 60er Jahren, beginnend mit L. Berger, viele Befürworter. Einig waren sich die Theoretiker darin, dass Säkularisierung den „Prozess des Verlustes der sozialen Bedeutung von Religion in sich modernisierenden Gesellschaf- ten“ beschreibe und auf ein Spannungsverhältnis zwischen Modernisierung und Religion zurückzuführen sei (Pickel 2011, S. 137f). Durch die funktionale Ausdifferenzierung ver- schiedener gesellschaftlicher Teilbereiche (oder Funktionssysteme), wie etwa die Teilberei- che der Wirtschaft, des Rechts, der Wissenschaft oder der Erziehung, verlor die Religion als sehr früh ausdifferenziertes System ihre Vorrangstellung. Laut Berger büßten die Kirchen Kontrolle und Einfluss auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche ein, die ehemals allge- meingültigen Weltdeutungen des Christentums verloren innerhalb dieser Bereiche ihre Glaubwürdigkeit und die Menschen handelten mehr und mehr nach Maximen der Vernunft (Rationalisierung) (vgl. Berger 1973). Durch die Industrialisierung wurde Arbeit zum dominie- renden Element in der Lebensführung der Menschen und Religion verlor an Bedeutung. Die hierarchische Organisationsstruktur der Kirche wurde mit dem Prozess der Demokratisierung immer mehr in Frage gestellt und Forderungen nach Mitsprache und Kontrolle von Autoritä- ten kamen auf (vgl. Pickel 2011, S. 140). Zusätzlich führten gerade die Prozesse der Plurali- sierung von Gesellschaften und der Individualisierung dazu, dass kulturelle Vielfalt und Teil- habe an gesellschaftlichen Entscheidungen wuchsen und, wie bereits erwähnt, die traditio- nell verankerten Weltdeutungen und Problemlösungen der Kirchen an Bedeutung verloren (vgl. Meulemann 2015, S. 38; Pickel 2011, S. 142).
Empirische Befunde zum Thema Säkularisierung bestätigen, dass in über 30 europäischen Ländern Christentum und Kirche an Bedeutung verloren (vgl. Meulemann 2012, S. 61ff). Während manche Studien sich auf einzelne Länder beziehen, verfolgen andere Studien ei- nen länderübergreifenden Ansatz, um einzelne Entwicklungen zu vergleichen. So veröffent- licht die Bertelsmann Stiftung beispielsweise regelmäßig den Religionsmonitor, der religiöse Entwicklungen sowohl in Deutschland als auch in Spanien untersucht. Je nachdem, in wel- chen Dimensionen (religiösen Denkens oder Handelns) Säkularisierung gemessen wird, fal- len die Ergebnisse unterschiedlich aus, zudem setzt jede Studie ihre eigenen Schwerpunkte. Im Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung für Spanien im Jahr 2008 wird postuliert, dass das Land im europäischen Vergleich zwar immer noch überdurchschnittlich stark religiös geprägt ist, verglichen mit katholischen Ländern wie Polen oder Italien jedoch ein weniger religiöses Land darstellt. Seit den 1960er Jahren lässt sich eine tiefgreifende Säkularisierung der spanischen Gesellschaft feststellen, die Konfessionszugehörigkeit der Gesellschaftsmit- glieder nimmt ebenso ab wie religiöse Praktiken und Glaube (vgl. Bertelsmann Stiftung 2008, S. 4). Auch für Deutschland stellt der Religionsmonitor 2013 fest, dass Religion in ihrer tradi- tionellen Form an Relevanz verliert (vgl. Bertelsmann Stiftung 2013, S. 54). Dies bestätigen auch andere Studien, wonach religiöse Praxis gerade von Katholiken und Protestanten in Deutschland stark zurückgeht (vgl. Pollack 2016, S. 16).
Obwohl der Bedeutungsverlust der Religion in vielen Ländern empirisch nachgewiesen wer- den konnte, gibt es auch Ausnahmen, auf die die Säkularisierungstheorie nicht zutrifft. So weist beispielsweise die USA heute eine große religiöse Vitalität auf und auch in Osteuropa gewinnt die Religion wieder an Bedeutung. Auch die verstärkte Präsenz religiöser Themen gerade in europäischen Medien und in der Öffentlichkeit weist darauf hin, dass Religion auch in der Moderne noch eine bedeutende Rolle spielt (vgl. Pollack 2016, S. 7). Ein neu entstan- dener Religionsdiskurs in den letzten Jahren brachte alternative Erklärungen für den religiö- sen Wandel hervor: Die Individualisierungsthese des Religiösen, welche im Folgenden näher beleuchtet wird sowie das Marktmodell der Religiosität. Auf letzteres wird aufgrund des be- grenzten Umfangs der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen.
2.2 Individualisierungsthese des Religiösen
Die Individualisierungsthese des Religiösen, die unter anderem durch Thomas Luckmann (vgl. Luckmann 1991) vertreten wird, gilt als Gegenmodell zur Säkularisierungsthese. Die Überlegungen beruhen auf dem allgemeinen Konzept der Individualisierung, das vor allem durch Ulrich Beck in den 1980er Jahren geprägt wurde. Demnach tritt das Individuum aus der subjektiv für selbstverständlich erfahrenen gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Lebens- führung aus, während gleichzeitig der Einfluss äußerer Faktoren, wie z.B. gesellschaftliche Instanzen, auf das Leben des Einzelnen abnimmt. Durch die neu gewonnene Autonomie kann das Individuum zwischen verschiedensten Optionen wählen und zunehmend selbst bestimmen, wie es sein Leben gestaltet (vgl. Pickel 2011, S. 179f). Darauf aufbauend besagt die Individualisierungsthese des Religiösen, dass Religion in der Moderne nicht an Bedeu- tung verliert, sondern lediglich ihre Erscheinungsformen sich verändern. Es findet eine Transformation des Religiösen statt, Religion zieht sich von der Öffentlichkeit ins Private zu- rück, etablierte religiöse Institutionen verlieren an gesellschaftlicher Bedeutung, doch Religi- osität an sich bleibt bestehen. Wichtig für die Individualisierungstheorie ist die deutliche Un- terscheidung zwischen Kirchlichkeit und Glauben. So hat die sinkende Bedeutung der Kirch- lichkeit nicht etwa das Verschwinden von Religion zur Folge, vielmehr trägt ein zunehmend individualisierter Umgang mit Religion zu deren Fortbestehen bei. Die Verschiebung von Re- ligion von der Öffentlichkeit ins Private führt dazu, dass sie für die Öffentlichkeit „unsichtbar“ wird (vgl. Luckmann 1991).
Die empirische Überprüfbarkeit der Individualisierungsthese stellt sich jedoch aufgrund der uneinheitlichen Definition von Religion und Religiosität als problematisch dar. Religion im Privaten wurde bisher auf verschiedene Arten erfasst (vgl. Pickel 2011, S. 189). So wurde beispielsweise das zunehmende Aufkommen neuer Formen von Spiritualität als Beweis für die Transformation von Religiosität verwendet (vgl. Heelas et al. 2012). An anderer Stelle wird die intensive Freizeitbeschäftigung von Menschen (wie zum Beispiel in den Bereichen Sport oder Kultur) als zunehmend religiöse Erfahrung gewertet (vgl. Knoblauch in Luckmann 1991, S. 28ff). Diese Uneinigkeit hinsichtlich des Konzeptes Religiosität lässt wiederum Kritik von Säkularisierungstheoretikern laut werden. Im Folgenden wird dargelegt und begründet, welche Definition von Religion und Religiosität der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt und wie diese beiden Konzepte empirisch erfasst werden sollen.
2.3 Definition der Begrifflichkeiten
R eligion wir d in der Soziologie auf viele unterschiedliche Arten gedeutet und es gibt unzähli- ge Herangehensweisen, um Religion zu definieren. Dabei geht es in der Religionssoziologie niemals darum, zu bestimmen, ob eine Religion und ihre Inhalte wahr sind oder nicht, son- dern vielmehr darum, den Zustand von Religion in Gesellschaften zu erfassen. In den meis- ten Definitionen findet sich wieder, dass Religion bestimmte religiöse Überzeugungen und Praktiken umfasst und moralische Gemeinschaften entstehen lässt (vgl. Pickel 2011, S. 24). Allgemein gesprochen ist der Religionsbegriff jedoch sehr umstritten und es gibt keine ein- heitliche Definition, sondern Hunderte (vgl. Pollack et al. 2018, S. 19). Der Begriff Religiosität verweist auf die Religion auf Individualebene, also auf die religiöse Einstellung einzelner Personen.
Es lässt sich beispielsweise unterscheiden zwischen funktionalen und substantiellen Definiti- onen von Religion: Während sich die funktionale Definition von Religion auf die gesellschaft- lichen Leistungen von Religion bezieht, soll der substantielle Religionsbegriff Religion „von ihrem Wesen bzw. ihrer Substanz her […] erfassen“ (Pickel 2011, S. 21). So berufen sich Säkularisierungstheoretiker eher auf einen substantiellen Religionsbegriff, Individualisie- rungstheoretiker vertreten dagegen eher die funktionale Definition von Religion. Da in dieser Arbeit mit beiden Theorien gearbeitet wird, soll hier keine der beiden Definitionen eindeutig bevorzugt werden.
Einen weiteren Versuch, Religion als Untersuchungsgegenstand zu bestimmen, unternimmt die Dimensionsforschung. Grundsätzlich werden hier verschiedene „Bestandteile des Religi- ösen ausfindig [gemacht] und […] für die empirische Forschung [operationalisiert]“ (Pollack et al. 2018, S. 28). Dieser Versuch, Religion zu deuten, eignet sich für die quantitative For- schung am besten und soll auch in dieser Arbeit herangezogen werden. Die verwendeten Dimensionen werden im Folgenden erläutert.
2.4 Operationalisierungsmöglichkeiten anhand der EVS
Man kann sich unterschiedlichen Methoden bedienen, um die Entwicklung von Religion in Gesellschaften zu erfassen. So könnte beispielsweise die zunehmende Berichterstattung über Religion in den Medien auf einer Makroebene als ein Zeichen dafür gewertet werden, dass Religion in der Gesellschaft an Bedeutung gewinnt (vgl. Pollack 2016, S. 10). Dies wür- de allerdings noch nichts über tatsächliche Religiosität von Gesellschaftsmitgliedern aussa- gen. Deswegen soll Religiosität in dieser Arbeit auf Individualebene betrachtet werden. In Studien zur Säkularisierung werden häufig drei Dimensionen von Religiosität unterschieden und betrachtet:
Die erste Dimension beschreibt die religiöse Zugehörigkeit von Personen, die meist über deren Konfessionszugehörigkeit erfasst wird. Die Konzepte von Kirchenzugehörigkeit in Deutschland und Spanien sind jedoch unterschiedlich, so muss in Deutschland jede Person, die einer anerkannten Religionsgemeinschaft angehört, automatisch eine Kirchensteuer in Höhe von 8% der Einkommenssteuer (Stand 2018) bezahlen. In Spanien gibt es zwar auch eine Art Kirchensteuer (in Höhe von 0,7% des Einkommens), allerdings kann der oder die Steuerzahlende frei entscheiden, ob der Betrag an die katholische Kirche oder an eine ande- re nicht-religiöse soziale Institution geht (vgl. Bernecker 2006, S. 281). Die deutsche Vorge- hensweise bringt viele deutsche Kirchenangehörige dazu, aus der Kirche auszutreten, in Spanien jedoch existiert das Konzept des Kirchenaustritts in dieser Form gar nicht. Aus die- sem Grund soll Religiosität in dieser Arbeit nicht anhand der Konfessionszugehörigkeit ope- rationalisiert werden.
Eine zweite Dimension von Religiosität ist die religiöse Praxis, die mit der Kirchgangshäufig- keit gemessen werden kann und den Vergleich zweier Länder ermöglicht. In der European Value Study wurde dazu die Frage gestellt, wie oft die Befragten abgesehen von Hochzeiten und Beerdigungen Gottesdienste besuchten (vgl. European Value Study (EVS) 1981-2008). Diese Dimension wird in vorliegender Arbeit als Variable „kirchliche Praxis“ angewendet.
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