Ziel dieser Arbeit ist es, ausgehend von den Definitionen für „Gesellschaftsroman“ und „Liebesroman“ wichtige Themen in „Anna Karenina“ anzuschneiden und zu versuchen, ein Leitmotiv des Werkes herauszuarbeiten.
Lew Tolstojs (1828-1910) Roman „Anna Karenina“ (1877) ist neben „Madame Bovary“ (1856) von Gustave Flaubert (1821-1880) und „Effi Briest“ (1894/95) von Theodor Fontane (1819-1898) ein dritter großer Roman, der ein Frauenschicksal thematisiert. Alle drei behandeln das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr verschwiegene gesellschaftliche Problem des Ehebruchs. Doch genau hier liegt das Problem, vor dem sich die Schriftsteller sahen: Soll mein Roman nun von Ehebruch, Liebe und Familie handeln, oder soll er zu einem Abbild der Gesellschaft, zu einer Kritik an den sozialen Verhältnissen werden?
Und so schwierig diese Frage für den Schriftsteller gewesen sein muss, so schwierig ist sie auch für den Leser. Im konkreten Fall der „Anna Karenina“ bedeutet das: Handelt es sich hier um einen Gesellschaftsroman, der einerseits das in den beschriebenen Kreisen übliche Phänomen des Ehebruchs und andererseits die sozialen Verhältnisse in der Großstadt und auf dem Land beschreibt oder handelt es sich um einen Liebesroman, der verschiedene Formen der Liebe zwischen zwei Menschen gegenüberstellt und einen moralischen Sinn erfüllen soll?
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. „Anna Karenina“ als Gesellschaftsroman
3. „Anna Karenina“ als Liebesroman
4. Schuld und Rache
5. Der Sinn des Lebens
6. Schlussfolgerungen
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Lew Tolstojs (1828-1910) Roman „Anna Karenina“ (1877) ist neben „Madame Bovary“ (1856) von Gustave Flaubert (1821-1880) und „Effi Briest“ (1894/95) von Theodor Fontane (1819-1898) ein dritter großer Roman, der ein Frauenschicksal thematisiert. Alle drei behandeln das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr verschwiegene gesellschaftliche Problem des Ehebruchs. Doch genau hier liegt das Problem, vor dem sich die Schriftsteller sahen: Soll mein Roman nun von Ehebruch, Liebe und Familie handeln, oder soll er zu einem Abbild der Gesellschaft, zu einer Kritik an den sozialen Verhältnissen werden?
Und so schwierig diese Frage für den Schriftsteller gewesen sein muss, so schwierig ist sie auch für den Leser. Im konkreten Fall der „Anna Karenina“ bedeutet das: Handelt es sich hier um einen Gesellschaftsroman, der einerseits das in den beschriebenen Kreisen übliche Phänomen des Ehebruchs und andererseits die sozialen Verhältnisse in der Großstadt und auf dem Land beschreibt oder handelt es sich um einen Liebesroman, der verschiedene Formen der Liebe zwischen zwei Menschen gegenüberstellt und einen moralischen Sinn erfüllen soll?
Ziel dieser Arbeit ist es, ausgehend von den Definitionen für „Gesellschaftsroman“ und „Liebesroman“ wichtige Themen in „Anna Karenina“ anzuschneiden und zu versuchen, ein Leitmotiv des Werkes herauszuarbeiten.
2. „Anna Karenina“ als Gesellschaftsroman
Laut dem Sachwörterbuch der Literatur ist der Gesellschaftsroman ein
„Roman, der weniger in ereignisreichem Handlungsverlauf um 1-2 Hauptfiguren mit zeitl. Nacheinander als in breiter Zustandsschilderung bei zeitl. Nebeneinander vieler Handlungsstränge das ganze Gesellschaftsleben einer Zeit und die daraus entstehenden Konflikte zeichnet. Er ist meist weltgläubig und teils selbst Verkörperung des Gesellschaftsgeistes [...], teils gesellschaftskritisch oder regt durch sachl. Darstellung zur krit. Analyse der Gesellschaft an. Obwohl ep. Form der sozialen Dichtung ist der G. nicht identisch mit Sozialroman oder sozialem Roman, da er sich wesentlich auf die tragenden oder führenden Schichten der Gesellschaft konzentriert, ihre Situation und ihre Probleme in breiten, objektiven Milieuschilderungen und Parallelhandlungen mit psycholog. Differenzierung der gleichberechtigten Figuren und Darlegung der wirkenden soz. Kräfte, doch ohne Tendenz oder soz. Anklage vorführt, die Unterschichten dagegen eher als soz. Folie benutzt.“[1]
Von Wilpert zählt in oben genanntem Artikel Tolstoj zu einem Hauptvertreter des Gesellschaftsromans in Russland.
Auch Thomas Mann beschäftigte sich eingehend mit dem vorliegenden Roman, schrieb er doch eine Einleitung zu einer amerikanischen Ausgabe von Tolstoj. In dieser Schrift, die er 1939 im Exil in Nordwijk verfasste, nennt er „Anna Karenina“ den „größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur.“[2] Einige Absätze später konkretisiert er diesen Satz:
„Was ich ungescheut den größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur nannte, ist ein Roman gegen die Gesellschaft, - schon das biblische Motto: „Die Rache ist mein, spricht der Herr“, kündigt es an. Der moralische Antrieb zu dem Werk war ohne Zweifel, die Gesellschaft zu geißeln für die kalte, ausstoßende Grausamkeit, mit der sie den Liebesfehltritt einer im Grunde edelsinnigen und stolzen Frau bestraft, statt die Vergeltung für ihre Sünde Gott anheim zu geben - was sie nur zu unbesorgt tun könnte, denn zuletzt sind es doch wieder die Gesellschaft und ihre unumstößlichen Gesetze, deren auch Gott sich bedient, um Vergeltung zu üben.“[3]
Jedoch wird der Leser nur durch die Geschichte um Anna sich nicht vor einem gesellschaftsfeindlichen Roman sehen. Erst Lewin, Tolstoj selbst[4], „macht durch sein Schauen und Denken, die eigentümliche Kraft und Insistenz seines kritischen Gewissens und Eigensinnes den großen Gesellschaftsroman eigentlich zu einem gesellschaftsfeindlichen Werk.“[5]
Mann sieht also die Gesellschaft als Instanz, die, und da ist wieder das Liebesmotiv, eine liebende Frau, die auf diesem Weg einen gesellschaftlichen Fehler begangen hat, richtet. Etwas überspitzt könnte man also der Gesellschaft die Schuld an Annas Selbstmord geben. Denn wenn diese Gesellschaft auf Gott vertrauen würde, dann könnte die Sünderin Anna in Gottes Hände gegeben werden und dieser würde die Sünde vergelten.
Jedoch muss der Begriff „Gesellschaft“ an dieser Stelle differenziert werden: „Handelt es sich bei „Anna Karenina“ um einen Gesellschaftsroman, dann, so zeigen Milieu und Schauplatz, um einen Roman der guten Gesellschaft. Eine solche Einschränkung schloß die Öffnung gegenüber der Zeitsituation und die Aufnahme der bezeichneten Zeitproblematik keineswegs aus.“[6]
Auch dies entspricht der obigen Definition, denn ohne Zweifel handelt es sich hier um eine bestimmte Schicht der Gesellschaft, nennen wir sie Aristokratie, wobei die anderen sozialen Schichten (in diesem Fall die der Bauern auf dem Land) nicht vernachlässigt werden.
Betrachten wir einzelne Motive und Thematiken, um eine gesellschaftskritische Lesart in Tolstojs Roman festzustellen. Vor Allem die Kinder und Bauern veranschaulichen das dem Roman zugrunde liegende Menschenbild:
„Tolstojs Mensch ist an sich gut, doch werden seine positiven Anlagen durch falsche gesellschaftliche Konventionen, insbesondere in den privilegierten Kreisen, verschüttet und vernichtet.“[7]
Hodel führt auch das Motiv der Eisenbahn als gesellschaftskritischen Moment an, denn sowohl der Muzik am Anfang des Romans,8, 9 als auch Anna am Ende des siebten Buches[10] werden vom Zug überrollt. Darin sieht Hodel, dass die russische Gesellschaft in Form von Anna (Aristokratie) und des Muzik (Volk) von der „privilegierten, dekadenten und verwestlichten Gesellschaft überrollt“ werden.[11] Auch Lewin, der meist die Meinung des Autors widerspiegelt, sieht die Eisenbahn als Zeichen einer „aufgepfropften äußeren Zivilisation“.12, 13
Wie aber waren die gesellschaftlichen Verhältnisse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland, besonders bezogen auf die Ehe, und daraus folgend auf den Ehebruch?
„Für die heiratsfähigen Mädchen des russischen Adels war die Eheschließung ,das höchste Glück’.
Keine der jungen Frauen denkt an eine andere Zukunft für sich als die der Ehefrau und Mutter. Eine solche wäre ihnen sowieso versperrt geblieben, da sie außer Hofdame keinen anderen Beruf ausüben könnten und dürften. Dafür mangelt es ihnen an höherer und fachbezogener Bildung und an Weltgewandtheit. [...]
Eine Scheidung war zugelassen und kam vor. Allerdings galt sie in der Gesellschaft aus Glaubensgründen zumindest als umstritten und konnte die Karriere des Mannes in der Atmosphäre des Skandals ruinieren. Praktiziert wurde ebenfalls eine Trennung der Gatten ohne offizielle Scheidung.“[14]
Womit wir wieder bei Mann wären, denn eine Scheidung von Anna wäre legitim gewesen, die Gesellschaft hätte ihren Frieden und könnte Gott nun walten lassen. Tolstoj lässt seine Figuren diese Möglichkeit auch erwägen, doch Anna befindet sich in einer Zwickmühle. Eine Scheidung würde bedeuten, ihren Sohn Serjosha endgültig zu verlieren, den sie aber in gleichem Maße wie Wronskij liebt.[15] Doch Tolstoj ist konsequent und lässt diesen Schritt nicht zu, auch wenn Anna sogar dazu animiert wird und die Gesellschaft wohl eher mit einer Scheidung als mit der unklaren Lage zufrieden wäre. Wie aber Anna mit dieser Situation und ihren Gefühlen umgeht hängt weniger von den sozialen Verhältnissen ab als von ihr selbst.[16] Und genau diese Unsicherheit und Ungeklärtheit ist ihr Dilemma:
„Wenn sich Anna der sie unterdrückenden Gesellschaft widersetzen will, macht sie das, ohne sich die Folgen zu überlegen, und scheitert kläglich. Sie hat keine Rückenstärkung von ihrem Partner, sie bespricht ihr Vorgehen nicht mit ihm. So erscheint ihre Beziehung nach außen hin unstabil und bestätigt nur das Urteil der Gesellschaft.“[17]
Auch die Idee der Familie in Tolstois Roman lässt sich auf die Gesellschaft anwenden. Neben der Familie von Kitty und Lewin wird ein weiteres positives Beispiel einer funktionierenden Familie gezeigt, nämlich die eines Bauern, den Lewin auf dem Weg zu Swijaschskij besucht (Tolstoi, L.: Anna Karenina. S. 390 ff; III, 25).[18] Dieser Bauer, ein ehemaliger Leibeigener, hat nur deswegen soviel Erfolg, weil er die ganze Familie mit einbezieht: „Trotz seines Gejammers merkte man ihm deutlich an, daß er mit Recht stolz auf seinen Wohlstand war, stolz auf seine Söhne und seinen Neffen, auf seine Schwiegertöchter [,..].“[19]
„Hier herrscht dementsprechend keine entfremdete Arbeit“[20], das eigene Interesse rückt in den Hintergrund und daraus resultieren „Natürlichkeit, Unbeschwertheit und Heiterkeit der Lebenshaltung“.[21]
Dabei kommt es immer auf Einsicht und Willen an und würden diese häufiger vorhanden sein, „wäre das, nach der ungesagten Schlußfolgerung Tolstojs, für die weitere Entwicklung Rußlands nützlich.“[22]
„Denn die Familie erscheint in „Anna Karenina“ auf keinen Fall als etwas Privates. Schon von ihrer Grundstruktur einer gemeinschaftsbildenden Einheit kann sie dies nicht sein. Darüber hinaus, so wird gezeigt, verlängert sie sich in Öffentlich-Allgemeine, um zu einer gesellschaftlichen Institution zu werden. Von dieser Institution erwartet Tolstoj - darin besteht die immanent utopische Dimension seines Gesellschaftsromans - die Erneuerung der russischen Gesellschaft: Bestände das ganze Land aus solchen selbstgenügsamen Familien-Einheiten, in denen jedes Mitglied wesentliche, produktive Arbeit leistet, weil alles den Fähigkeiten entsprechend aufgeteilt ist, bedeutet das einen Zuwachs an materiellem Wohlstand und ein Zurücktreten der Gruppeninteressen und Standesgegensätze.“[23]
Damit ist die Familie durchaus in der Lage, gesellschaftsverändernd zu wirken und Tolstoj selbst stellt sich damit gegen die „zeitgenössischen Vorstellungen über Liberalisierung, Reformierung und Industrialisierung.“[24] Doch muss klar gestellt werden, dass die Botschaft von Tolstoj nicht die ist, vollkommen auf Neuerungen aus dem Westen zu verzichten, sondern nur, sie im Einklang mit der Tradition einzuführen. Der oben genannte Bauer führt auch eine moderne Wirtschaft und auch Lewin muss einsehen, dass „die Verwandlung der alten Lebensform eine Tatsache ist.“[25]
[...]
[1] [Art.] Gesellschaftsroman. In: Sachwörterbuch der Literatur. Hrsg. von Gero von Wilpert. 8. Auflage. Stuttgart: Kröner 2001. S. 310 f.
[2] Mann, Thomas: Anna Karenina. Einleitung zu einer amerikanischen Ausgabe von Leo Tolstoi. In: Adel des Geistes. Zwanzig Versuche zum Problem der Humanität. Berlin: Aufbau 1956 (= Gesammelte Werke 10). S. 277.
[3] Ebd. S. 285.
[4] Ebd. S. 281.
[5] Ebd. S. 286.
[6] Zelinsky, Bodo: Tolstoj, Anna Karenina. In: Der russische Roman. Hrsg. von Bodo Zelinsky. Düsseldorf: Bagel 1979. S. 209. Anm.: Zelinsky schreibt, dass sich innerhalb der fünf Entwürfe, die Tolstoi anfertigt, eine Wandlung von der Ehebruchsgeschichte zum Gesellschaftsroman vollzieht. Vgl. Zelinsky, B.: Tolstoj, Anna Karenina. S. 213.
[7] Hodel, Robert: Ganzheitliches und Fremdes in ‘Anna Karenina’. In: Zeitschrift für Slawistik 50:2 (2005), S. 176.
[8] Im Folgenden wird Bezug genommen auf und zitiert nach: Tolstoi, Leo N.: Anna Karenina. Düsseldorf: Albatros 2007. Römische Ziffer bezeichnet das jeweilige Buch, arabische Ziffer bezeichnet das Kapitel.
[9] Ebd. S. 82f (I, 18)
[10] Ebd. S. 915f (VII, 31)
[11] Hodel, R.: Ganzheitliches und Fremdes in ‘Anna Karenina’. S. 176 f.
[12] Tolstoi, L.: Anna Karenina. S. 580 (V, 15)
[13] Zum Motiv der Eisenbahn in „Anna Karenina“ siehe auch: Harmat, Marta: Eisenbahnen - Zivilisationskritik und Kulturskepsis in Anna Karenina und Effi Briest. In: Europavisionen im 19. Jahrhundert. Vorstellungen von Europa in Literatur und Kunst, Geschichte und Philosophie. Hrsg. Von Wulf Segebrecht. Würzburg: Ergon 1999 (=Literatura 10). S. 190-198.
[14] Olejnik, Hanna: Ehebruch und gesellschaftliche Akzeptanz in Theodor Fontanes L’Adultera und Leo Tolstojs Anna Karenina. In: Studien zur Deutschkunde 26. Hrsg. von Lech Kolago. Warschau 2003. S. 738 f.
[15] Tolstoi, L.: Anna Karenina. S. 764 (VI, 24); „Du mußt doch verstehen, daß ich zwei Geschöpfe liebe, und zwar, wie ich glaube, mehr als mich selbst - Serjosha und Alexej. [.] Nur diese beiden Geschöpfe liebe ich, aber das eine schließt das andere aus.“
[16] Olejnik, H.: Ehebruch und gesellschaftliche Akzeptanz in Theodor Fontanes L’Adultera und Leo Tolstojs Anna Karenina. S. 739.
[17] Ebd. S. 742.
[18] Zelinsky, B.: Tolstoj, Anna Karenina. S. 220.
[19] Tolstoi, L.: Anna Karenina. S. 392 (III, 25).
[20] Zelinsky, B.: Tolstoj, Anna Karenina. S. 220
[21] Ebd.
[22] Ebd.
[23] Ebd. S. 220f.
[24] Ebd. S. 221.
[25] Egri, Peter: Die Keime der modernen bürgerlich-realistischen Darstellung in Tolstois Roman „Anna Karenina“. In: Littérature et réalité. Hrsg. von Béla Köpeczi und Péter Juhász. Budapest: Akadémiai Kiadó 1966. S. 162.