In dieser Arbeit werden die Zeitbegriffe der westlichen Welt verglichen mit den Zeitkonzepten der Hopi und der in Bolivien und Peru lebenden Aymara. Dabei werden pragmatisch-linguistische wie auch kulturphilosophische Aspekte berührt und veranschaulicht, um folgende Fragen zu beantworten: Was verstehen wir unter "Zeit"? Und wie kann Zeit noch anders betrachtet werden? Wie kann es sein, dass die Hopi-Indianer ein vollständig anderes Konzept von Zeit und Raum haben als wir? Und weshalb liegt die lange zurückliegende Vergangenheit bei den Aymara-Indianern in unmittelbarer Zukunft?
Es gab wohl nur bei den wenigstens von uns, und mit "uns" meine ich die Menschheit insgesamt, einen Augenblick in der Kindheit, in der jemand uns erklärt hätte, was genau "Zeit" ist. Das Verständnis dieses Begriffs und des dahinterstehenden Konzepts hat sich von allein erschlossen, so wenig greifbar es auch war und ist. Zeit ist nicht greifbar, lässt sich nicht berühren oder gar festhalten, und dennoch hat jeder Mensch scheinbar intuitiv ein Gespür dafür, dass sie existiert und in irgendeiner Art und Weise vergeht, verrinnt, fortläuft.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Definitionen – oder: Merkmale von Zeit
3. Verschiedene Zeitkonzepte im Überblick
3.1 Westliche Welt
3.2 Das Zeitkonzept der Hopi-Indianer
3.3 Das Zeitkonzept der Quechua und Aymara
4. Fazit
Quellenverzeichnis
Literaturquellen
Videoquellen
1. Einleitung
Zeit ist ein weites Feld.
Es gab wohl nur bei den wenigstens von uns, und mit ‚uns‘ meine ich die Menschheit insgesamt, einen Augenblick in der Kindheit, in der jemand uns erklärt hätte, was genau ‚Zeit‘ ist. Das Verständnis dieses Begriffs und des dahinterstehenden Konzepts hat sich von allein erschlossen, so wenig greifbar es auch war und ist. Heute bin ich hier, gestern war ich an jenem Ort und morgen werde ich an einem anderen Ort sein, der mit gestern und heute zwar geografisch verbunden ist, also durch räumliche Konzepte definiert wird, jedoch nicht inhärent durch Zeit. Zeit ist nicht greifbar, lässt sich nicht berühren oder gar festhalten, und dennoch hat jeder Mensch scheinbar intuitiv ein Gespür dafür, dass sie existiert und in irgendeiner Art und Weise vergeht, verrinnt, fortläuft.
Erst später, meist irgendwann im Laufe des schulischen Physikunterrichts, erfahren wir, dass Zeit keineswegs linear ist: Bewegt man sich schnell, vergeht sie langsamer. Dieser Zusammenhang, bzw. eher die Koppelung von Raum und Zeit erschließt sich auf den ersten Blick nicht logisch. Dass Raum und Zeit miteinander zusammenhängen und tatsächlich ein Kontinuum bilden, ist eines jener Dinge, die sich außerhalb physikwissenschaftlicher Forschungsdiskussionen kaum begreifbar machen lassen. Gefaltete Räume, Zeit, die beschleunigt oder rückwärts läuft und durch extreme Schwerkräfte angezogen wird wie Materie – das alles sind Dinge, zu denen die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens kaum oder gar keinen Bezug haben. Es waren Gelehrte und Forscher wie Nikolaus Kopernikus, Issac Newton oder zuletzt Albert Einstein, die dieses nur scheinbar universelle Phänomen in Frage stellten. Während Newton Zeit nicht einmal definierte, weil er voraussetzte, dass jeder wüsste, was die Zeit sei, bewies Einstein vor 100 Jahren, dass Zeit relativ (und keineswegs universell) ist. Sie läuft nicht nur für jeden Menschen der individuellen Empfindung nach unterschiedlich schnell ab, sondern kann sich noch dazu dehnen und verkürzen – ganz objektiv und rational. Sogar eine Umkehrung des zeitlichen Ablaufs nach den Gesetzen der Thermodynamik, also im Grunde eine Zeitreise in die Vergangenheit, ist kürzlich im Labor erfolgreich geglückt – jedoch nur auf Partikelebene: „So wurden in einem Quantensystem lokal begrenzte
Verstöße gegen die Gesetze der Thermodynamik gemessen, die einer Umkehr des thermodynamischen Zeitpfeils entsprechen könnten.“1
In dieser Hausarbeit soll es nicht um Physik oder naturwissenschaftliche Phänomene gehen, sondern darum, wie verschiedene Kulturen sich Zeit als Konzept erklären – denn nicht nur Zeit ist nicht universell, sondern auch das Verständnis davon. Zu diesem Zweck werden zwei verschiedene Kulturen betrachtet, die von der westeuropäischen kaum weiter entfernt sein könnten, sowohl geografisch wie auch kulturell, soziologisch und nicht zuletzt philosophisch. Der Vergleich dieser Kulturen soll Aufschluss darüber geben, wie unterschiedlich Erklärungs- und Erfahrungsansätze gestaltet sein können, selbst wenn es um ein Phänomen geht, das jedem Menschen seit jeher kulturübergreifend geläufig ist.
„Nach Auffassung vieler sprachanalytischer Philosophen verwirrt das Substantiv ‚Zeit‘ unser Denken und Ausführungen zur Zeit als solcher bekommen leicht etwas geheimnisvoll Raunendes“, schrieb der Historiker Rüdiger Graf 2012 in einem Beitrag zu interdisziplinären Zeitkonzeptionen.2 Es wurde hier versucht, dieses Raunen so gering wie möglich zu halten, jedoch haben sich gewisse mystisch- philosophische Schnittmengen – womöglich naturgemäß – nicht vermeiden lassen.
Die Betrachtungen zu den Hopi fußen im Wesentlichen auf Benjamin Whorfs Untersuchungen aus den 1930er Jahren, aus denen er seine ‚Linguistische Relativitätstheorie‘ ableitete. Einige dieser Schlussfolgerungen, speziell zum Zeitbegriff der Hopi, sind inzwischen obsolet und durch Gegendarstellungen3 relativiert worden, weshalb diese Abschnitte der vorliegenden Ausarbeitung im historischen Kontext betrachtet werden müssen und bezüglich der Sapir-Whorf- Hypothese nicht den aktuellen Forschungsstand wiedergeben.
In dieser Ausarbeitung wird bei Personen- und Gruppenbezeichnungen jeweils auf die männliche Form referiert, jedoch sind natürlich bspw. mit dem Begriff ‚Indianer‘ auch Indianerinnen gemeint, die feminine Form ist also jeweils implizit und explizit mit eingeschlossen.
2. Definitionen – oder: Merkmale von Zeit
Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache, das die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften digital herausgibt, definiert als ‚Zeit‘ die „Gesamtheit der ablaufenden Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Jahre“4. Schon hier, bei diesem allerersten Versuch einer Definition, wird sofort klar, wie kulturabhängig jeder Erklärungsansatz für Zeit zwangsläufig ist. Dass sich Tageslänge, Mondphasen und Jahreszeiten zyklisch wiederholen, ist zwar den meisten, wenn nicht allen Kulturen aufgefallen, aber die Einteilung in Zeitabschnitte, wie wir sie kennen, ist ebenfalls nicht universell. In den meisten Teilen der Welt sind die Zeitabschnitte eingeteilt in 60 Sekunden, 60 Minuten, 24 (bzw. zwei mal zwölf) Stunden, 30 oder 31 Tage und 12 Monate. Aber natürlich ist das nicht die einzige Variante, 365 Tage auf ein Jahr oder 1440 Minuten auf einen Tag aufzuteilen. Ein Tag könnte bspw. ebenso aus zehn Stunden zu 144 Minuten bestehen und ein Jahr aus 13 Monaten zu je 28 Tagen. Der Kalender, der in muslimischen Ländern verwendet wird, orientiert sich an den Mondphasen – ein neuer Monat beginnt jeweils an Neumond, was dazu führt, dass ein Jahr nur 354 Tage lang ist, wodurch sich die muslimischen Feiertage permanent verschieben. Dasselbe gilt für den jüdischen Kalender, der in einem 19-jährigen Zyklus sieben Schaltjahre mit einem 30-tägigen 13. Monat integriert, um den Lunarkalender wieder an das Sonnenjahr anzupassen. Die erwähnte Definition der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften arbeitet mit den Begriffen ‚Monat‘ und ‚Jahr‘, da sich diese Definitionen aber wiederum kulturell unterscheiden, ergibt sich, dass die Definition von ‚Zeit‘ abhängig von Kultur, Religion und anderen Faktoren ist. Auffällig ist, dass der Zeitbegriff nach dieser Definition unmöglich definiert werden kann, wenn eine Kultur nicht in Zeiteinheiten denkt, etwa weil sie, wie die Hopi, keinen Kalender hervorgebracht haben.
Betrachten wir eine andere Definition des Zeitbegriffs. Laut Aristoteles ist Zeit die teilbare „Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Frühere und das Spätere“5. Und weiter: „Das eine Stück der Zeit ist vorbei und ist nicht (mehr), das andere Stück kommt erst und ist noch nicht; und aus diesen Stücken besteht jedwede Zeit, ob die eine unendliche Zeit oder irgendein Zeitabschnitt.“6 Wichtig bei Aristoteles ist die Verknüpfung von Bewegung und Zeit. Zeit ist keine Bewegung an sich, sondern eine metaphysisch gedachte Aneinanderreihung von Phasen eines immer gleichen und doch verschiedenen „Jetztpunkts“, also der Gegenwart:
Wie die Bewegung eine Kette voneinander verschiedener Stadien darstellt, so ist auch die Zeit eine Kette voneinander verschiedener Abschnitte - im simultanen Querschnitt allerdings ist die Zeit in ihrer ganzen Breite jeweils identisch eine; denn der Jetztpunkt, als bloßes Substrat betrachtet, bleibt stets der nämliche und nur seiner Bestimmtheit nach gibt es da Verschiedenheit; und der Jetztpunkt trennt die Zeit lediglich im Sinne eines Nacheinander der Phasen.7
Diese Definition, die eher einer Merkmalsbeschreibung gleichkommt, bietet Ansatzpunkte für das nächste Kapitel, denn das Zeit in wie auch immer gearteter Hinsicht eine Entwicklung widerspiegelt, ist selbst im so wenig kongruent erscheinenden Konzept der Hopi enthalten.
3. Verschiedene Zeitkonzepte im Überblick
3.1 Westliche Welt
Neun Milliarden einhundertzweiundneunzig Millionen sechshunderteinunddreißig- tausendsiebenhundertsiebzig. Das ist die Zahl, die unsere Zeitrechnung definiert. So oft schwingt ein sogenannter „Hyperfeinstrukturübergang im Grundzustand von Cäsium 133“ binnen einer Sekunde, wenn er mit Energie beschossen wird.8
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1 Podbregar, Nadja: Physiker kehren die Zeit um. In: Scinexx - Das Wissensmagazin. (online), Düsseldorf 2019, URL: https://www.scinexx.de/news/technik/physiker-kehren-die-zeit-um/, eingesehen am 13.03.2019.
2 Graf, Rüdiger: Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte. In: Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam (Hrsg.): Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung. URL: http://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_ Version_2.0_R%C3%BCdiger_Graf, eingesehen am 13.03.2019.
3 Wesentlich durch Helmut Gipper, der die Hopi und ihre Sprache in den 60er Jahren noch einmal untersuchte, Whorfs These jedoch nicht bestätigt fand und seine größtenteils widerlegenden Erkenntnisse 1972 beim Fischer-Verlag unter dem Titel „Gibt es ein sprachliches Relativitätsprinzip? Untersuchungen zur Sapir-Whorf-Hypothese“ veröffentlichte.
4 Anonym: Lexikoneintrag zum Begriff ‚Zeit‘. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart. URL: https://www.dwds.de/wb/Zeit, eingesehen am 11.03.2019.
5 Aristoteles: Physikvorlesung. Übersetzt von Hans Wagner, Ost-Berlin 1967, 5. Auflage Berlin 2009, Band 11, S. 109.
6 Ebd.
7 Ebd., S. 113.
8 Vgl.: Anonym: Artikel zu ‚Zeitmessung‘. In: Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden, Bd. 30, Leipzig/Mannheim 2006, S. 499-501.