Inwiefern eignen sich Hegemonieprojekte zur Analyse des Konfliktes zwischen dem fossil-nuklearen und dem erneuerbaren Energieregime? Unter allen Sektoren ist der Stromsektor größter Verursacher von Emissionen. Für das Gelingen der Energiewende erweist sich der Stromsektor also als größte Stellschraube und steht infolgedessen unter einem starken Regulierungsdruck. Bei der Herausbildung und Weiterbildung von Regelungen, Gesetzen und Normen auf Bundes-, Länder- und EU-Ebene sind eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Akteuren beteiligt. Diese staatlichen und privaten Akteure besitzen hinsichtlich der Frage, welche Energieträger in welcher sozialen Form die Energieversorgung sicherstellen sollen, oft konfliktive Interessen und Wertevorstellungen. Insofern stellt sich die Frage, wie sich die Partikularinteressen dieser Vielzahl von Akteuren analytisch ordnen lassen. Hierfür wird in dieser Arbeit auf die analytische Konzeption des Hegemonieprojekts zurückgegriffen.
Bei Hegemonieprojekten handelt es sich um die meist unbewussten und indirekten Verknüpfungen einer Vielzahl unterschiedlicher Taktiken und Strategien, die sich auf konkrete politische Projekte beziehen. Durch diese analytisch herausgearbeiteten Abstraktionen lassen sich eine tendenziell unendliche Anzahl von Handlungen und Taktiken ganz unterschiedlicher Akteure, die auf ähnlichen Interessen und Wertevorstellungen basieren, bündeln.
Regulation ist, wie viele andere politische Konzepte, nicht eindeutig zu definieren. Der Begriff besitzt keine allgemeingültige Bedeutung und wird als Ausdruck für eine Vielzahl diskursiver, theoretischer und analytischer Zwecke verwendet. In seiner weiteren Bedeutung kommt dem Begriff der Regulation vor allem in den folgenden drei Wissenschaftszweigen eine besondere Relevanz zu: In Disziplinen wie Biologie und Kybernetik, in denen Regulation mit der allgemeinen Systemtheorie assoziiert wird. Zum anderen handelt es sich um den Wissenschaftszweig der ökonomischen Theorie. Eine zentrale Bedeutung spielt der Begriff auch in den Rechtswissenschaften. In der Rechtsordnung der Europäischen Union kennzeichnet Regulation eine von fünf Rechtsformen.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Gang der Untersuchung und Eingrenzung des Forschungsgegenstandes
2. Theoretische Zugänge
2.1 Eine regulationstheoretische Governance-Perspektive
2.2 Regulation und Hegemonie im integralen Staat
3. Operationalisierungsansatz zur Analyse energiepolitischer Hegemoniekonflikte
3.1. Zielsetzung
3.2 Analyseebenen
3.2.1 Kontextanalyse
3.2.2 Akteursanalyse
3.2.3 Prozessanalyse
4. Analyse ausgewählter Hegemoniekonflikte im Kampf um Strom
4.1 Grünes und graues Hegemonieprojekt
4.2 Energiepolitische Hegemoniekonflikte zwischen dem grauen und grauen Hegemonieprojekt
4.2.1 Streitfall Atomausstieg
4.2.2 Konflikte um die Förderung von Erneuerbaren Energien
4.2.3 Vergleichende Perspektiven
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2: Erneuerbare Energien in Bürgerhand
Abbildung 3: Entwicklung der Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien
Abbildung 4: Strompreise für private Haushalte, zweites Halbjahr 2017
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Akteure des grauen und grünen Hegemonieprojekts 14
1. Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
„Unsere Energiewende: sicher, sauber, bezahlbar.“ [1] Mit diesem Slogan wirbt und informiert das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) für eine grundlegende Umstellung der Energieversorgung in Deutschland, weg von nuklearen und fossilen Brennstoffen, hin zu regenerativen Energien. Dabei bildete nicht etwa, wie so oft behauptet, das Reaktorunglück von Fukushima den Startpunkt der Energiewende, sondern die Ereignisse der Öl-, Atom- und Umweltkrise der 1970er und 1980er Jahre. Diese Ereignisse führten in weiten Teilen der Gesellschaft zu einem Bewusstseinswandel und waren der Auslöser für das starke zivilgesellschaftliche Engagement sowie für strukturelle Veränderungen im Energieversorgungssystem.[2] Die Politikwissenschaftlerin Dörte Ohlhorst (2018) resümiert:
„ Das Thema der Energieversorgung wurde zum Brennpunkt kritischer Auseinandersetzungen mit der bisherigen Energiepolitik und system-oppositioneller Forderungen nach einem Gegenentwurf: dem Ausstieg aus der Kernenergie, Energieeinspar- und Energieeffizienzkonzepten sowie dem konsequenten Umstieg auf die Nutzung regenerativer Energien.“ [3]
Unter allen Sektoren ist der Stromsektor größter Verursacher von Emissionen. Für das Gelingen der Energiewende erweist sich der Stromsektor also als größte Stellschraube und steht infolgedessen unter einem starken Regulierungsdruck. Bei der Herausbildung und Weiterbildung von Regelungen, Gesetzen und Normen auf Bundes-, Länder- und EU-Ebene sind eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Akteuren beteiligt. Diese staatlichen und privaten Akteure besitzen hinsichtlich der Frage, welche Energieträger und in welcher sozialen Form die Energieversorgung sicherstellen sollen, oft konfliktive Interessen und Wertevorstellungen. Insofern stellt sich die Frage, wie sich die Partikularinteressen dieser Vielzahl von Akteuren analytisch ordnen lassen. Hierfür wird in dieser Arbeit auf die analytische Konzeption des Hegemonieprojekts zurückgegriffen.
Bei Hegemonieprojekten handelt es sich um die meist unbewussten und indirekten Verknüpfungen einer Vielzahl unterschiedlicher Taktiken und Strategien, die sich auf konkrete politische Projekte beziehen.[4] Durch diese analytisch herausgearbeiteten Abstraktionen lassen sich eine tendenziell unendliche Anzahl von Handlungen und Taktiken ganz unterschiedlicher Akteure, die auf ähnlichen Interessen und Wertevorstellungen basieren, bündeln. Konkret bezogen auf das politische Projekt der Transformation des deutschen Systems der Stromerzeugung soll in dieser Arbeit die folgende Forschungsfrage untersucht werden: Inwiefern eignen sich Hegemonieprojekte zur Analyse des Konfliktes zwischen dem fossil-nuklearen und dem erneuerbaren Energieregime?
1.2 Gang der Untersuchung und Eingrenzung des Forschungsgegenstandes
Der theoretische Teil dieser Arbeit ist in zwei Kapitel unterteilt. Zunächst wird in Kapitel 2.1 Bezug auf das Verhältnis zwischen Regulation und Governance genommen. Hinsichtlich der Frage, wie sich das Verhältnis von Staat und Gesellschaft erklären lässt, wird in Kapitel 2.2 auf das Hegemoniekonzept des italienischen Theoretikers Antonio Gramsci eingegangen. Als Operationalisierungsansatz zur Analyse von Hegemoniekonflikten im deutschen Stromsektor dient in dieser Arbeit die Kontext-, Akteurs- und Prozessanalyse (Kapitel 3).
In Kapitel 4 erfolgt eine Analyse ausgewählter Hegemonieprojekte im deutschen Stromsektor. Um den grundlegenden energiepolitischen Auseinandersetzungen im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie eine Form zu geben und sie damit analytisch fassbar zu machen, wird in Kapitel 4.1 zunächst eine Klassifizierung in ein grünes und graues Hegemonieprojekt vorgenommen. Es werden die politischen Ziele beider Hegemonieprojekte gegenübergestellt und die zentralen Akteure beider Hegemonieprojekte benannt. In Kapitel 4.2 werden mit der Laufzeitverlängerung der Atomkraft und der Förderung von Erneuerbaren Energien anschließend zwei Konflikte analysiert, die die Entwicklung des deutschen Strommarktes wesentlich geprägt haben.
In dieser Analyse wird auf Grundlage der Kontext-, Akteurs- und Prozessanalyse jeweils untersucht, ob und inwiefern es einem der beiden Hegemonieprojekten gelungen ist, ihre Strategien durchzusetzen und so hegemonial werden zu lassen. Anschließend erfolgt eine vergleichende Betrachtung der beiden Hegemoniekonflikte. Die Motive und Entwicklungsdynamiken beider Konflikte werden einander gegenübergestellt, um dadurch grundsätzliche Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten zwischen beiden Konflikten identifizieren zu können. Abschließend erfolgt im Kapitel 5 eine Zusammenfassung der Ergebnisse und es wird eine Antwort auf die Forschungsfrage dieser Arbeit gegeben.
2. Theoretische Zugänge
2.1 Eine regulationstheoretische Governance-Perspektive
Regulation ist, wie viele andere politische Konzepte, nicht eindeutig zu definieren. Der Begriff besitzt keine allgemeingültige Bedeutung und wird als Ausdruck für eine Vielzahl diskursiver, theoretischer und analytischer Zwecke verwendet.[5] In seiner weiteren Bedeutung kommt dem Begriff der Regulation vor allem in den folgenden drei Wissenschaftszweigen eine besondere Relevanz zu: (1) In Disziplinen, wie Biologie und Kybernetik, in denen Regulation mit der allgemeinen Systemtheorie assoziiert wird. (2) Zum anderen handelt es sich um den Wissenschaftszweig der ökonomischen Theorie. (3) Eine zentrale Bedeutung spielt der Begriff auch in den Rechtswissenschaften.[6] In der Rechtsordnung der Europäischen Union kennzeichnet „Regulation“ eine von fünf Rechtsformen.
Angesichts der unterschiedlichen Fachrichtungen wäre es vergeblich und nicht zielführend, eine allumfassende Definition des Regulierungsbegriffs anzubieten, der über die Grenzen hinweg gilt. Zu dieser Annahme kommt auch Julia Black (2001) und schlägt stattdessen eine Unterteilung zwischen funktionalistischen, essentialistischen und konventionellen Definitionen der Regulation vor. Eine funktionalistische Definition basiert auf der Funktion, was „Regulation“ in der Gesellschaft leistet, oder was es tut (z.B. Risikominimierung und wirtschaftliche Kontrolle). In der essentialistischen Definition werden Elemente identifiziert, die eine analytische Beziehung zum Konzept haben, um notwendige und hinreichende Bedingungen zu bestimmen. So ist Regulation unter essentialistischen Aspekten zum Beispiel eine Form institutioneller Norm (Durchsetzung). Wohingegen eine konventionalistische Definition sich auf die Art und Weise, wie der Begriff in der Praxis verwendet wird, fokussiert.[7]
Zur Präzisierung des Regulationsbegriffes nehmen Baldwin et al. (1998) eine Klassifizierung in drei Kreise vor, die von der engsten (I) bis zur weitesten Bedeutung von Regulation (III) reichen. Im engsten und einfachsten Sinne wird Regulation betrachtet als “the promulgation of an authoritative set of rules, accompanied by some mechanism, typically a public agency, for monitoring and promoting compliance with these rules”. [8]
Die zweite Bedeutung von Regulation umfasst “all the efforts of state agencies to steer the economy” [9] . Demnach nehmen staatliche Behörden durch regulatorische Maßnahmen erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung im Staat. An der zweiten Kategorie ist allerdings zu kritisieren, dass Baldwin et al. Regulation mit allen Formen der staatlichen Intervention, die dazu eingesetzt werden die Wirtschaft zu kontrollieren und zu lenken, gleichsetzt. In diesem Sinne ist es wichtig hervorzuheben, dass rule-making ein wichtiges Element von Regulation ist, das von anderen politischen Instrumenten, die dem Staat zur Steuerung der Wirtschaft zur Verfügung stehen, insb. Besteuerung, Subvention oder Public Ownership, abzugrenzen ist.[10]
Baldwins et al. dritte Kategorie ist noch umfassender und schließt alle Mechanismen der sozialen Kontrolle, einschließlich unbeabsichtigter und nichtstaatlicher Prozesse ein. Diese Definition erstreckt sich auf alle Mechanismen, die nicht das Ergebnis staatlicher Aktivität sind, wie etwa die Entwicklung sozialer Normen und die Auswirkungen von Märkten auf Verhaltensänderungen. Damit wird der Begriff der Intentionalität bezüglich der Entwicklung von Normen fallen gelassen, und alles, was Auswirkungen auf das menschliche Verhalten hat, kann als regulatorisch betrachtet werden. Darüber hinaus könnte ein weites Spektrum von Aktivitäten, die rechtliche oder quasi-rechtliche Normen beinhalten, jedoch keine Überwachungs- und Durchsetzungsmechanismen (mechanisms for monitoring and enforcement) enthalten, in die Definition fallen.[11] Bezugnehmend auf die Klassifizierungen, die von Black und Baldwin et al. vorgeschlagen wurden, formuliert Levi-Faur (2010) zusammenfassend:
“All in all, while recognizing pluralism and its strength, we suggest that regulation is the promulgation of prescriptive rules as well as the monitoring and enforcement of these rules by social, business, and political actors on other social, business, and political actors.” [12]
Beim Vergleich von Regulation und Governance ist es maßgeblich Wörter von Konzepten zu unterscheiden. Etymologisch betrachtet reichen beide Wörter bis ins mittelalterliche Latein und darüber hinaus. Während Regulation jedoch in verschiedenen Kontexten Bedeutung gewann, wurde Governance weniger häufig genutzt und weitgehend vom synonym verwendeten Begriff Government verdrängt.[13] Seit Mitte der 70er-Jahren zählen Regulation und Governance in den Sozialwissenschaften und anderen Disziplinen zu den wichtigsten Konzepten zur Analyse der heutigen Welt. Die Wiederbelebung des Begriffs Governance kann auf eine wachsende Unzufriedenheit unter Politikwissenschaftlern mit einer starren öffentlich-privaten Unterscheidung in staatszentrierten Analysen der Politik und der damit verbundenen Top-down-Darstellung der Ausübung der Staatsmacht zurückgeführt werden.
Im Zentrum der Analyse stand vor allem die Rolle verschiedener Formen politischer Koordination, die nicht nur die konventionelle Kluft zwischen öffentlichen und privaten Einrichtungen umfasste, sondern den Fokus auch auf verwickelten Hierarchien, parallelen Machtnetzwerken oder anderen Formen komplexer wechselseitiger Abhängigkeit zwischen der Regierung sowie institutionellen und zivilgesellschaftlichen Akteuren legte.[14] Governance steht demnach für alle Formen und Mechanismen der Koordinierung zwischen Akteuren, deren Handlungen interdependent sind.[15] Bezugnehmend auf die obige Definition von Levi-Faur wird Regulation in dieser Arbeit verstanden als spezifische Governance-Form, die auf einer Koordination zwischen staatlichen und privaten Akteuren zum Zwecke der Herstellung und Implementierung kollektiv verbindlicher Regeln beruht, verstanden.
Hinsichtlich der Frage, wie die Koordination zwischen staatlichen und privaten Akteuren gelingt, ist es erforderlich, handlungstheoretische sowie politisch-ideologische Dimensionen der Regulation genauer zu erfassen und die Strategien, Denk- und Handlungsweisen der Akteure stärker in die Analyse miteinzubeziehen.[16] Einen theoretischen Rahmen hierfür bietet das Hegemoniekonzept Antonio Gramscis. Bevor im nächsten Abschnitt ergründet wird, in welchem Verhältnis Regulation und Hegemonie zueinanderstehen stehen, wird zunächst Bezug auf den Begriff des integralen Staats genommen.
2.2 Regulation und Hegemonie im integralen Staat
Der Begriff „integraler Staat“ wurde vom Soziologen Antonio Gramsci geprägt. Vor dem Hintergrund der Oktoberrevolution 1917 in Russland, wo es zu einer revolutionären Übernahme der Macht kam, ergründete Gramsci, warum ein Gewaltakt der Staatsmacht in anderen europäischen Ländern, die ebenso mit ökonomischen Krisen konfrontiert waren,[17] ausblieb. Die Antwort fand Gramsci in der Rolle der Zivilgesellschaft bzw. bürgerlichen Gesellschaft, die sich in fortgeschrittenen Staaten zu einer sehr komplexen und widerständigen Struktur entwickelte.[18]
Dem klassisch-marxistischen Verhältnis von Politik, Ideologie, Kultur und Ökonomie in Basis und Überbau[19] widersprach Gramsci. Stattdessen sah er den Überbau einer Gesellschaft im integralen Staat, dessen zwei großen Ebenen für ihn die Zivilgesellschaft und der Staat waren. Seine Überlegungen verdichtete Gramsci in der Formel „Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, das heißt Hegemonie, gepanzert mit Zwang“ [20] . Mit dieser Formel drückte Gramsci aus, dass Herrschaft in der bürgerlichen Gesellschaft nicht allein durch Staatsgewalt, sondern durch den Konsens der Zivilgesellschaft abgesichert wird.
Die politische Gesellschaft war für Gramsci gleichbedeutend mit dem Staat im engeren Sinne, worunter er alle institutionalisierten, politischen, juristischen und militärischen Machstrukturen und -instrumente, wie die Regierung, die Bürokratie, die Gerichte, die Polizei und die Armee subsumierte.[21] Die Zivilgesellschaft bezeichnete Gramsci als erweiterten Staat, worunter der nichtstaatliche Teil der Gesellschaft gemeint ist. Hierzu zählen alle Institutionen und Organisationen, die die sozialen, kulturellen oder religiösen Beziehungen und Aktivitäten der Menschen regeln, u.a. die Medien, die Parteien, Bildungseinrichtungen, die Kirche oder Kultur- und Sportvereine.[22] Unter der Ebene der Zivilgesellschaft verstand Gramsci keineswegs eine homogene Klasse, sondern einen umkämpften Raum, der das Terrain der hegemonialen Auseinandersetzungen bildet und sich zwischen Ökonomie und Staat entfaltet.[23]
Der Begriff Hegemonie richtet sich in Gramscis Hegemoniekonzept nach der alt-griechischen Bedeutung des voran sein, führen, vorangehen. Hegemonie basiert Gramsci zufolge nicht allein auf erzwungener Unterwerfung, sondern auf der aktiven Zustimmung der Subalternden zu ihrer Unterwerfung, also Zwang und Konsens. Für Gramsci bedeutet Hegemonie,
„dass die herrschende Gruppe sich auf konkrete Weise mit den allgemeinen Interessen der untergeordneten Gruppen abstimmen wird und das Staatsleben als ein andauerndes Formieren und Überwinden von instabilen Gleichgewichten zu fassen ist […], von Gleichgewichten, in denen die Interessen der herrschenden Gruppen überwiegen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt, d.h. nicht bis zu einem engen ökonomisch-korporativen Interesse.“ [24]
Gramsci verbindet mit Hegemonie also die ständige Suche nach Kompromissen zwischen der herrschenden Gruppe und den Subalternden. Gelingt es der herrschenden Klasse durch die Einbeziehung der Subalternden, Kompromisse zu erzielen, entsteht ein geschichtlicher Block. Dieser umfasst „ eine Einheit aus einer bestimmten Akkumulationsstrategie, einem konkreten Ensemble von Klassenverhältnissen und sozialen Formen, und einer bestimmten hegemonialen Struktur. “[25] Misslingt es jedoch einen Kompromiss zu erzielen, kommt es zu einer Autoritäts- bzw. Hegemoniekrise, die durch Blockade, Stillstand oder Politikverweigerung gekennzeichnet ist.[26] Gramsci weist darauf hin, dass in diesem geschichtlichen Block als Träger von Hegemonie, die Interessen aller gesellschaftlichen Gruppen miteingeschlossen sind, wodurch „ sozio-ökonomischer Inhalt und ethisch-politische Form […] identisch“ [27] werden. Auf Grundlage dieser Überlegungen weist Hans-Joachim Hirsch einem hegemonialen Verhältnis die folgenden drei Dimensionen zu:
- eine ideologische, d.h. alle durchgesetzten Wert- und Ordnungsvorstellungen, die in einer Gesellschaft als dominierend wahrgenommen werden;
- eine politische, d.h. die Fähigkeit, breitere Volksschichten von den Wert- und Ordnungsvorstellungen zu überzeugen und diese in der Praxis zu realisieren;
- eine institutionelle, die auf die Bestimmung der institutionellen Terrains und Zugangsregeln für politische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse Bezug nimmt.[28]
Festhalten lässt sich, dass es sich beim Hegemoniebegriff nach Gramsci im Kern um einen Modus bürgerlicher Herrschaft handelt, in dem die herrschende Klasse die Zustimmung der Subalternen ersucht, um ihre eigenen Interessen zu universalisieren. Die Zustimmung der Subalternden erhält die herrschende Klasse, indem sie verschiedene gesellschaftliche Gruppen über Bündnisprozesse herrschaftsförmig einbezieht oder den Subalternden materielle Zugeständnisse macht. Regulation beruht nicht allein auf dem Einsatz staatlicher Gewalt, sondern bedarf immer eines gewissen gesellschaftlichen Konsenses und einer Folgebereitschaft, um einigermaßen dauerhaft zu sein.[29]
Mit Blick auf die Transformation des deutschen Systems der Stromerzeugung bietet die um das Hegemoniekonzept Gramscis erweiterte regulatorische Perspektive eine dynamische Betrachtungsweise der Auseinandersetzungen, die sich im Spannungsfeld von Ökonomie und ökologischer Modernisierung zwischen den zivilgesellschaftlichen Akteuren und den Staatsapparaten im engeren Sinne, also dem politisch-administrativen System, abspielen. Mit Gramcis integralen Staatsverständnis lässt sich das Terrain der Auseinandersetzungen um staatliche Policies gut differenzieren bzw. abstecken. Die Zivilgesellschaft wird nicht als homogene Klasse, die die gleichen Interessen verfolgt, idealisiert, sondern als umkämpftes, von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen durchzogenes und strukturiertes Feld konzipiert.[30]
Darüber hinaus ermöglicht der Bezug auf Gramscis Hegemoniekonzept ein konkretes Verständnis des gesellschaftlichen Wandels, der mit der Energiewende einhergeht. Auch umgekehrt ist dies der Fall, denn gleichzeitig bestimmen die hegemonialen Auseinandersetzungen im integralen Staat die sozio-ökonomischen und technischen Entwicklungen, die sich im Rahmen der Energiewende abspielen. Denn die von der Zivilgesellschaft artikulierten materiellen Interessen und Wertvorstellungen beeinflussen die Entscheidung, welche Energieträger und in welcher sozialen Form die Energieversorgung sicherstellen, maßgeblich.[31]
Um die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und spezifischen energiepolitischen Akteurskonstellationen, und damit die Entstehung und Reproduktion konkreter Policies, empirisch fassbar zu machen, wird im folgenden Kapitel ein methodischer Ansatz entwickelt, der auf einer Kontext-, Akteurs- und Prozessanalyse basiert und politikfeldspezifische Analysefaktoren berücksichtigt.[32]
3. Operationalisierungsansatz zur Analyse energiepolitischer Hegemoniekonflikte
3.1. Zielsetzung
Mit ihren drei Analyseebenen ermöglicht die Kontext-, Akteurs- und Prozessanalyse (KAP-Analyse) ein strukturiertes Vorgehen zur Analyse von sozialen und politischen Konflikten bzw. Hegemoniekonflikten.[33] Bezogen auf die hegemoniepolitischen Konflikte im Strombereich zielt dieses Vorgehen darauf ab, (1) die historischen Entwicklungspfade einzelner Energieträger sowie die Kontextbedingungen, in denen diese Entwicklung stattgefunden hat, zu erfassen, (2) die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse innerhalb des Politikfelds Energie, mit ihren tendenziell unendlichen Akteurs- und Kräftekonstellationen sowie deren Taktiken und Strategien, analytisch fassbar zu machen, und schließlich (3) zu erklären, wie sich die Kontextbedingungen sowie Akteurs- und Kräftekonstellationen auf die Herausbildung einer bestimmten Policy ausgewirkt haben.
Damit schafft es die KAP-Analyse, eine Policy-Analyse mit der Analyse von sozialen Verhältnissen in einem Nationalstaat zu kombinieren. Sie berücksichtigt, wie der Politikwissenschaftler Ulrich Brand mit Verweis auf die drei Dimensionen des Politikbegriffes treffend beschreibt, gleichermaßen die Dimensionen politics (gesellschaftliche und politische Kräfte und ihre Strategien, Konflikte und Kompromisse), polity (politische Institutionen und Regierungsstrukturen, d.h. der Staat in seinem engen und integralen Sinne) sowie polity (der konkrete Rahmen für die Umsetzung der institutionalisierten Politik).[34]
3.2 Analyseebenen
3.2.1 Kontextanalyse
Zentraler Forschungsgegenstand dieser Arbeit ist die Frage, inwiefern sich Hegemonieprojekte zur Analyse des Konfliktes zwischen dem fossil-nuklearen und dem erneuerbaren Energieregime eignen. Die Kontextanalyse hilft dabei, die Konflikte als spezifisch historische Situationen, auf die soziale und politische Kräfte unterschiedlich und gegensätzlich reagierten und die durch komplexe historische Bedingungen und Prozesse hervorgerufen wurden, darzustellen. Zunächst werden hierzu spezifische Probleme, auf die soziale und politische Kräfte unterschiedlich reagiert haben, identifiziert. Anschließend werden diese Probleme in ihrem breiteren historischen Kontext eingeordnet, um letztlich die zentralen historischen Bedingungen zu beleuchten, die zu den Problemen geführt haben.[35] Die Kontextanalyse erfolgt auf Grundlage der Auswertung wissenschaftlicher Literatur.
3.2.2 Akteursanalyse
Die Akteursanalyse basiert auf der Fragestellung, „wie und warum gesellschaftliche Kräfte und politische Akteur_innen unterschiedlich und gegensätzlich auf diese Situation, auf das in ihr angelegte ›Problem‹ reagiert haben.“ [36] Hinsichtlich der energiepolitischen Auseinandersetzungen ermöglicht eine Akteursanalyse , die konfliktiven Interessen und Wertevorstellungen unterschiedlicher Akteure zu erfassen. Angesichts der Vielzahl von Akteuren in der energiepolitischen Auseinandersetzung stellt sich die Frage, wie sich die Partikularinteressen analytisch ordnen lassen.
[...]
[1] BMWi: Unsere Energiewende, 2019, o.S.
[2] Vgl. Ohlhorst, Dörte: Akteursvielfalt und Bürgerbeteiligung, 2018, S.101.
[3] Ohlhorst, Dörte: Akteursvielfalt und Bürgerbeteiligung, 2018, S.101
[4] Vgl. Kannankulam, John/ Georgi, Fabian: Verdichtungen, 2012, S.35.
[5] Vgl. Jordana, Jacint / Levi-Faur, David: Regulatory Governance, 2010, S.2f..
[6] Vgl. Hübner, Kurt: Politische Ökonomie, S.27.
[7] Vgl. Black, Julia: Decentering Regulation, 2001, S.17.
[8] Baldwin, Robert et al.: Understanding Regulation, 1998, S.3
[9] Baldwin, Robert et al.: Understanding Regulation, 1998, S.3
[10] Vgl. Jordana, Jacint / Levi-Faur, David: Regulatory Governance, 2010, S.5.
[11] Vgl. Baldwin, Robert et al.: Understanding Regulation, 1998, S.4.
[12] Levi-Faur, David: Handbook of Regulation, 2010, S.10
[13] Vgl. Jessop, Bob: Regulation Approach, 1995, S.311.
[14] Vgl. Jessop, Bob: Regulation Approach, 1995, S.312.
[15] Vgl. Benz, Arthur et al.: Handbuch Governance, 2007, S.9.
[16] Vgl. Sablowski, Thomas: Strukturorientierte Theorien, 2013, S.95.
[17] Insb. in Gramscis Heimatland Italien, Deutschland oder den Ländern der zerfallenden Habsburgermonarchie.
[18] Vgl. Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, 1991, S.874
[19] Vgl. Marx, Karl/Friedrich Engels: Werke, 1958-1968, o.S.
[20] Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, 1991, S.783.
[21] Vgl. Nicoll, Norbert: Hegemoniale Strategie, 2012, S.73.
[22] Vgl. Nicoll, Norbert: Hegemoniale Strategie, 2012, S.73.
[23] Vgl. Candeias, Mario: Gramscianische Konstellationen, 2007, S.23.
[24] Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, 1991, S. 1584
[25] Hirsch, Joachim: State theory, 1984, S. 157
[26] Vgl. Haas, Tobias: Ökonomie der Energiewende, 2016, S.54.
[27] Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, 1991, S. 1251
[28] Vgl. Hirsch, Joachim: Materialistische Staatstheorie, 2005, S.97.
[29] Vgl. Hirsch, Joachim: Materialistische Staatstheorie, 2005, S.91.
[30] Vgl. Haas, Tobias: Ökonomie der Energiewende, 2016, S.
[31] Vgl. Haas, Tobias: Ökonomie der Energiewende, 2016, S.
[32] Dieses Vorgehen orientiert sich stark an dem Operationalisierungsansatz der historisch-materialistischen Policy-Analyse (HMPA), die vom Politikwissenschaftler Ulrich Brand konzipiert und als historisch-materialistische Politikanalyse von den Forschern des Staatsprojektes Europa weiterentwickelt wurde. Anders als Ulrich Brand und die Forscher des Staatsprojektes Europa geht der Autor nicht von der Materialität der gesellschaftlichen Praxis, die eine der wesentlichen Grundeinsichten des historischen Materialismus nach Karl Marx und Friedrich Engels ist, aus. Die Vorgehensweise der HMPA basiert auf einer Kontext-, Akteurs- und Prozessanalyse und bietet sich aus analytischen Gründen, die in Kap. 3.1 näher ausgeführt werden, als Operationalisierungsansatz an. Trotz der Bezeichnung HMPA ist eine Bezugnahme auf den historischen Materialismus nach Ansicht des Autors nicht erforderlich. Im Folgenden wird der Operationalisierungsansatz als Kontext-, Akteurs- und Prozessanalyse bezeichnet.
[33] Vgl. Kannankulam, John/ Georgi, Fabian: Analysing social and political struggles, 2014, S.63.
[34] Vgl. Brand, Ulrich: State, context and correspondence, 2013, S.426.
[35] Vgl. Kannankulam, John; Georgi, Fabian: Analysing social and political struggles, 2014, S.63.
[36] Buckel, Sonja et al.: HMPA, 2014, S.55