Die Versicherheitlichung des Euros. Der Europäische Stabilitätsmechanismus und Fiskalvertrag
Zusammenfassung
Vor seiner Einführung wurden der ESM und auch der Fiskalvertrag von vielen Seiten kritisiert. Trotz der breiten gesellschaftlichen Kritik und Zweifel bei einigen Abgeordneten stimmte der Bundestag mit einer großen Mehrheit für das Gesetzespaket bestehend aus ESM und Fiskalvertrag. Vor der Abstimmung hielt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Rede im deutschen Bundestag, um die Abgeordneten von der Notwendigkeit der von ihr geforderten Rettungsmaßnahmen zu überzeugen und diese zur Zustimmung zu bewegen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Forschungsfrage und Theoriewahl
2. Securitization-Theorie
2.1 Überblick
2.2 Das Bezugsobjekt
2.3 Versicherheitlichung im ökonomischen Sektor
2.4 Der versicherheitlichende Akteur
2.5 Der Sprechakt
2.6 Die förderlichen Umstände
2.7 Das Publikum des Sprechaktes
3. Analyse der Rede
3.1 Der versicherheitlichende Akteur
3.2 Das Publikum
3.3 Die Bezugsobjekte
3.3.1 Die Finanzstabilität der Euro-Zone als Bezugsobjekt
3.3.2 Der Wohlstand in Europa als Bezugsobjekt
3.4 Die förderlichen Umstände
3.4.1 Internen Umstände
3.4.2 Externen Umstände
3.5 Die geforderten Notfallmaßnahmen
3.5.1 Der Europäische Stabilitätsmechanismus
3.5.2 Der Fiskalvertrag
3.6 Abstimmungsergebnis
4. Fazit
Bibliographie
1. Einleitung
Vor seiner Einführung wurde der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) und auch der Fiskalvertrag von vielen Seiten kritisiert. So bezeichnete der damalige Präsident des ifo- Instituts Hans-Werner Sinn diese als „ein unkalkulierbares Abenteuer“1 und auch der Präsident der deutschen Bundesbank Jens Weidemann äußerte sich negativ: „Mit diesen Beschlüssen erfolgt ein weiterer großer Schritt in Richtung gemeinschaftlicher Haftung und geringerer Disziplinierung durch die Kapitalmärkte, ohne dass im Gegenzug die Kontroll- und Einflussmöglichkeiten auf die nationalen Finanzpolitiken spürbar verstärkt werden“. Der Bund der Steuerzahler forderte den deutschen Bundestag dazu auf den ESM abzulehnen2 und der wissenschaftliche Dienst des Bundestages warnte davor, dass der ESM die Budgetrechte des Bundestages verletzen könnte.3
Auch Mitglieder des deutschen Bundestages übten Kritik an den geplanten Euro-Rettungsmaßnahmen. So lehnte zum Beispiel die Fraktion der Partei DIE LINKE den ESM geschlossen ab und forderte sogar eine Volksabstimmung über dessen Einführung.4 Und auch bei den anderen Parteien äußerten sich Abgeordnete kritisch. Dazu gehörten Peter Gauweiler (CSU), Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN), oder Frank Schäffler (FDP)
Trotz der breiten gesellschaftlichen Kritik und Zweifel bei einigen Abgeordneten stimmte der Bundestag am 29. Juni 2012 mit einer großen Mehrheit von 79,52 Prozent für das Gesetzespaket bestehend aus ESM und Fiskalvertrag. Vor der Abstimmung hielt die deutsche Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel eine Rede im deutschen Bundestag um die Abgeordneten von der Notwendigkeit, der von ihr geforderten Rettungsmaßnahmen zu überzeugen und diese zur Zustimmung zu bewegen.
1.1 Forschungsfrage und Theoriewahl
Mit dieser Rede beschäftigt sich auch die forschungsleitende Frage dieser Hausarbeit: Wie gelingt es der Bundeskanzlerin die Abgeordneten der Regierungsparteien und von großen Teilen der Opposition davon zu überzeugen dem Gesetzespaket, bestehend vorrangig aus ESM und Fiskalvertrag zuzustimmen?
Zur Beantwortung der Forschungsfrage eignet sich besonders die Securitization-Theorie von Barry Buzan, Ole Waever und Jaap H. de Wilde.
Die Securitization-Theorie bietet einen guten Erklärungsansatz dafür, wie ein Akteur, mittels Darstellung einer potentiellen Sicherheitsbedrohung, Akzeptanz für, von ihm gewollte, außergewöhnliche politische Maßnahmen erzeugen kann. Dieser Vorgang wird als Versicher- heitlichung bezeichnet.
Untersucht wird, ob die Bundeskanzlerin in ihrer Rede eine Versicherheitlichung vornimmt und ob diese die Abgeordneten bei ihrer Abstimmung beeinflusst hat für die Rettungsmaßnahmen zu stimmen.
Die Securitization-Theorie wird vor allem geprägt von Buzan, Waever und de Wilde die mit ihrem Buch „Security. A New Framework for Analysis“ eine sehr ausführliche Beschreibung der Theorie und ihrer einzelnen Komponenten liefern. Eine vertiefte Beschreibung der einzelnen Sektoren und Ebenen der Securitization-Theorie bietet Daase in seinem Aufsatz „Der erweiterte Sicherheitsbegriff“. Stahl bietet in seinem Buch „Internationale Politik verstehen“ einen groben Überblick über die Theorie, welcher einen guten Einstieg und ein gutes Grundverständnis liefert. Sein Fokus liegt dabei besonders auf dem Irakkrieg. Einen Tieferen Einblick in das Thema Versicherheitlichung während der Euro-Krise gibt Robin Lucke in seinem Aufsatz „Die Versicherheitlichung des Euros durch EU-Akteure“. In diesem konzentriert er sich aber vor allem auf die einzelnen Sprechakte der EU-Akteure Jean-Claude Juncker. Jean-Claude Trichet und Jose Manuel Barroso.
2. Securitization-Theorie
2.1 Überblick
Zunächst soll ein grober Überblick über die Securitization-Theorie gegeben werden. In der Securitization-Theorie gibt es ein Bezugsobjekt (referent object) welches durch eine potentiell existentielle Bedrohung (existential threat) gefährdet wird. Diese Bedrohung wird von einem versicherheitlichendem Akteur (securitizing actor) wahrgenommen, welcher daraufhin versucht das Bezugsobjekt in einem Akt der Versicherheitlichung (securitizing move) zu versicherheitlichen. Dazu führt der Akteur einen Sprechakt (speech act) durch, mit dem er sein Publikum (audience) davon überzeugen möchte, dass besondere Maßnahmen, die einen Regelbruch zum politischen Alltag darstellen, notwendig sind, um das Bezugsobjekt zu sichern. Hierbei ist es nicht entscheidend, ob die Gefahr für das Bezugsobjekt wirklich eine Bedrohung darstellt, oder real existent ist, sondern, dass sie von dem versicherheitli- chendem Akteur so dargestellt wird. Werden die von dem versicherheitlichendem Akteur geforderten Notfallmaßnahmen vom Publikum akzeptiert hat eine erfolgreich Versicherheit- lichung stattgefunden.
„Based on a clear idea of the nature of security, securitization studies aims to gain an increasingly precise understanding of who securitizes, on what issues (threats), for whom (referent objects), why, with what results, and not least, under what conditions (i.e., what explains when securitization is successful).”5
2.2 Das Bezugsobjekt
Bei dem Bezugsobjekt handelt es sich um einen materiellen oder nicht materiellen Gegenstand, der existentiell bedroht ist und einen berechtigten Anspruch auf ihren Fortbestand hat. „[T]hings, that are seen to be existentially threatened and that have a legitimate claim to survival.”6 Traditionell handelt es sich hierbei um das Fortbestehen beziehungsweise die Unabhängigkeit eines Staates oder einer Nation. Der Sicherheitsbegriff kann jedoch auch auf andere Felder erweitert werden, so dass theoretisch jedes Objekt versicherheitlicht werden kann.7 Ob eine Versicherheitlichung gelingt, hängt auch von der Größe des Bezugsobjekts ab, so sind einzelne Individuen oder die gesamte Menschheit als Bezugsobjekte tendenziell eher ungeeignet, da sie nicht die benötigte Legitimität besitzen um eine Versicher- heitlichung zu rechtfertigen. Besser geeignet sind dagegen mittelgroße Objekte wie zum Beispiel Staaten, Nationen oder einzelne Zivilisationen. Diese erzeugen ein „Wir-Gefühl“ und stärken die Gemeinschaft des Publikums, wodurch dessen Akzeptanzbereitschaft für die Notfallmaßnahmen erhöht wird.8 Dies gilt auch für Objekte die vom Publikum und vom Akteur wertgeschätzt werden.9 Insgesamt gibt es fünf unterschiedliche Sektoren, in die ein Bezugsobjekt eingeordnet werden kann. Der militärische, der politische, der ökonomische, der gesellschaftliche und der ökologische Sektor. Jeder dieser Sektoren hat seine eigenen sektorenspezifischen Bedrohungen und Bezugsobjekte.10
2.3 Versicherheitlichung im ökonomischen Sektor
Der Europäische Stabilitätsmechanismus und der Fiskalvertrag lassen sich in den ökonomischen Sektor einordnen.
Seit dem Ende des „Kalten Krieges“ beherrschen vor allem liberale Ideen den ökonomischen Diskurs und drängen dabei die sozialistischen und nationalen Ideen immer mehr in den Hintergrund.11
Die liberale Theorie soll es eine größtmögliche Freiheit für die einzelnen Wirtschaftssubjekte vor. Der Staat soll dabei die einzelnen Marktprozesse nur so wenig wie möglich beeinflussen und stattdessen für stabile politische und rechtliche Rahmenbedingungen sorgen. Eingreifen soll der Staat nur, wenn die wirtschaftliche Stabilität des Systems gefährdet oder nicht mehr gewährleistet ist.12 „One peculiar characteristic of economic security under liberalism is that it is about the creation of stable conditions.“13
Die Benennung eines Bezugsobjekts im ökonomischen Sektor kann kompliziert sein. So haben einzelne Firmen nur sehr geringe Chancen versicherheitlicht zu werden, da das Verschwinden etablierter und die Entstehung neuer Firmen als Teil des Marktprozesses verstanden wird.14 So sollen sich besonders in einem marktwirtschaftlichen Umfeld die einzelnen Akteure wirtschaftlich herausgefordert und unsicher fühlen, da nur so der nötige Anreiz für Effizienzsteigerungen entsteht.15
Eine größere Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Versicherheitlichung besteht, wenn es sich bei dem Bezugsobjekt umdie Ordnung und Stabilität des internationalen Wirtschaftssystem selbst handelt16 oder der Verlust von Wohlstand droht.17 Auch systemrelevante Strukturen, wie zum Beispiel Währungen oder das Finanzsystem können zu einem Bezugsobjekt werden. Diese werden vor allem dadurch gefährdet, dass die sie erhaltende Regeln und Prinzipien von einzelnen Akteuren nicht eingehalten werden und dadurch das gesamte System instabil wird. Diese Instabilität kann so groß werden, dass es zu einer Systemkrise kommt.18 19
2.4 Der versicherheitlichende Akteur
Der versicherheitlichende Akteur ist der Initiator der Versicherheitlichung. „[A]ctors who securitize issues by declaring something-a referent object-existentially threatened.”20 Hierbei handelt es sich normalerweise umdie politische Führung eines Landes oder um Interessengruppen.
Im Normalfall ist der versicherheitlichende Akteur dabei nicht gleichzeitig auch das Bezugsobjekt, sondern bildet eine eigenständige Einheit. Daher kommt es nur selten vor, dass es sich bei dem versicherheitlichenden Akteur und dem Bezugsobjekt um dieselbe Sache oder Person handelt.21
2.5 Der Sprechakt
Um die Versicherheitlichung eines Themas zu erreichen führt der versicherheitlichende Akteur eine versicherheitlichende Maßnahme durch. Dies geschieht meistens in der Form eines Sprechakts.
In einem Sprechakt fordert der versicherheitlichende Akteur die Durchführung von Notfallmaßnahmen, um das Bezugsobjekt vor einer potentiell existentiellen Bedrohung zu bewahren. Die geforderten Notfallmaßnahmen stellen immer einen Regelbruch zum politischen Alltag dar, welcher allerdings mehrere Formen annehmen kann. Es muss sich hierbei nicht um einen direkten Gesetzesbruch handeln, sondern „[um] Maßnahmen [...] die unter gewöhnlichen Umständen vom Adressaten, der audience, nicht hingenommen [werden] würden [.]“22. Mit der Durchsetzung dieser Maßnahmen erweitert der versicherheitlichende Akteur seinen politischen Handlungsspielraum, da er von bestimmten Regeln des Systems nun nicht mehr eingegrenzt wird.23
[...]
1 Vgl. Handelsblatt (2010): Ifo-Institut verdammt Euro-Rettungsschirm, Online verfügbar unter: http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/nachrichten/fehlentscheidung-ifo-institut-verdammt-euro- rettungsschirm/3440846.html, zuletzt geprüft am 31.03.2016
2 Vgl. Bund der Steuerzahler Deutschland e.V. (2011): ESM verhindern statt vorziehen, Online verfügbar unter: http://www.steuerzahler.de/ESM-verhindern-statt-vorziehen/40451c48849i1p637/index.html, zuletzt geprüft am 31.03.2016
3 Vgl. Spiegel online (2012): Gutachten: Rechtsexperten des Bundestages warnen vor ESM, Online verfügbar unter: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/esm-koennte-laut-gutachten-des-bundestags-budgetrecht- verletzen-a-854828.html, zuletzt geprüft am 31.03.2016
4 Vgl. Tagesschau.de (2012): Linkspartei will Volksabstimmung zum Fiskalpakt, Online verfügbar unter: http://www.tagesschau.de/wirtschaft/fiskalpaktesm106.html, zuletzt geprüft am 31.03.2016
5 Buzan, Barry/Waever, Ole/de Wilde, Jaap H. (1998): Security. A New Framework for Analysis. Boulder, London: Rienner, S.32
6 Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 36
7 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 36
8 Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 36f.
9 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 40
10 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 21-23
11 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 96
12 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 95f.
13 Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 98
14 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 100
15 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 95
16 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 98
17 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 102
18 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 106f.
19 Eine detaillierte Beschreibung aller Sektoren würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen, weshalb hier nur die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevanten Bestandteile beschrieben werden. Für eine detaillierte Beschreibung aller Sektoren siehe: Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5) und Daase, Christopher (2010): Der erweiterte Sicherheitsbegriff, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt am Main, Online verfügbar unter http://www.sicherheitskultur.org/fileadmin/files/WorkingPapers/01-Daase.pdf, zuletzt geprüft am 31.03.2016
20 Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 36
21 Vgl. Buzan/Waever/de Wilde: a. a. O. (Anm. 5): S. 40
22 Stahl, Bernhard (2014): Internationale Politik verstehen. Eine Einführung, Opladen: Budrich 2014, S. 128
23 Vgl. Stahl: a.a. O. (Anm. 22): S. 128