Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Thematik der Gewalt in Heimerziehung. Nach kurzen Begriffserklärungen wird zunächst ein historischer Abriss gegeben. Hierbei werden sowohl die Umstände in Kinderheimen der 1950er und 60er Jahre als auch Proteste und Reformen sowie die Aufarbeitung und Traumabewältigung beleuchtet. Anschließend wird auf das Thema Gewalt in Kinderheimen heute eingegangen. Dazu werden rechtliche Grundlagen erörtert und Machtstrukturen in Heimerziehung dargestellt. Zuletzt werden einige Möglichkeiten der Gewaltprävention in stationärer Erziehungshilfe dargelegt. In einem abschließenden Fazit erfolgt dann die Beantwortung der Leitfrage und eine Beurteilung des pädagogischen Mehrwerts dieser Arbeit.
Inhaltsverzeichnis
1. Einfuhrung
2. Begriffserklarungen
2.1 Definition von Heimerziehung
2.2 Definition und Formen von Gewalt
3. HistorischerAbriss
3.1 Umstande in Kinderheimen der 1950er und 60er Jahre
3.1.1 Rahmenbedingungen
3.1.2 Formen der Gewaltanwendung
3.2 Proteste und Reformen
3.3 Aufarbeitung und Traumabewaltigung
4. Heimerziehung heute
4.1 RechtlicheGrundlagen
4.1.1 Kinderrechte
4.1.2 Kinder- und Jugendhilfegesetz...
4.1.3 Konsequenzen fur die Heimerziehung
4.2 Machtstrukturen in Heimerziehung heute
4.3 Gewaltpravention
5. Fazit
1. Einfuhrung
,,lch lief zu schnell und war zu laut im Treppenhaus. Darauf nahm die Schwester ihren Gurtel und schlug mich, bis ich blutete. Danach konnte man nicht mehr normal laufen" (Kirschstein & Hollstein, 2009).
Physische Gewalt, Erniedrigung und sexueller Missbrauch gehorten viele Jahre lang in deutschen Heimen zum Alltag. Obwohl sich die Kinderheimerziehung seit der Nachkriegszeit grundlegend verandert hat, ist der Begriff des Heims auch jetzt noch oft negativ konnotiert. Die Jahrzehnte der Gewalt, Unterdruckung und Repression sind noch immer in den Kopfen der Menschen prasent. Doch beschaftigt man sich naher mit der Thematik der Heimerziehung, so wird schnell klar, dass Heimer- ziehung heute nur sehr wenig mit den damaligen Strukturen und Verhaltnissen ge- mein hat. Das System unterlag einem solch gravierenden Wandel, dass man die Zustande und Bedingungen der jetzigen Zeit kaum mit fruher vergleichen kann (Wolf, 2010, S. 555).
Dennoch bleiben einige Probleme bestehen und neue kommen hinzu. Daher beschaftigt sich die vorliegende Arbeit mit der Frage, ob Gewalt in Kinderheimen wirk- lich uberwiegend als ein Phanomen der 1950er und 60er Jahre bezeichnet werden kann Oder ob eine entsprechende Problematik doch auch heute noch aktuell ist. Hierfur soil zunachst Heimerziehung definiert werden und der Begriff der Gewalt naher betrachtet werden. Weiter werde ich in einem historischen Abriss damalige Zustande und Lebensbedingungen in Heimen aufzeigen sowie einen Uberblick uber die Reformen und Wege der Aufarbeitung geben. In Kapitel vier beschaftige ich mich dann mit dem Thema Gewalt in Kinderheimen heute. Dazu werden rechtliche Grundlagen erortert und Machtstrukturen in der Heimerziehung dargestellt. Zuletzt werde ich einige Moglichkeiten der Gewaltpravention in stationarer Erziehungshilfe darlegen. In einem abschlie&enden Fazit erfolgt dann die Beantwortung der Leit- frage und eine Beurteilung des padagogischen Mehrwerts dieserArbeit.
2. Begriffserklarungen
2.1 Definition von Heimerziehung
Heimerziehung ist neben derfamilienorientierten Vollzeitpflege eine der klassischen Formen offentlicher Erziehungshilfe und versteht sich als eine stationare und grup- penorientierte Hilfe. Sie zeichnet sich aus durch die Unterbringung, Betreuung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen uber Tag und Nacht au&erhalb des El- ternhauses in einer Einrichtung, wo sie „durch eine Verbindung von Alltagserleben mit padagogischen und therapeutischen Angeboten" deren Entwicklung fordern soil (§ 34 SGB VIII). In der Regel ist dies zeitlich befristet, unter besonderen Umstanden jedoch auch auf Dauer moglich. Folgende mogliche Zielsetzungen werden im Sozi- algesetzbuch (§34 SGB VIII) ausdrucklich genannt:
- die Ruckkehr in die Herkunftsfamilie
- die Vorbereitung aufdie Erziehung in einer anderen Familie
- das Angebot einer auf langere Zeit angelegte Lebensform
- die Vorbereitung aufein selbststandiges Leben.
2.2. Definition und Formen von Gewalt
Um von einem solch vielschichtigen und normativ besetzten Begriff wie Gewalt in Bezug auf Heimerziehung sprechen zu konnen, mussen zu Beginn einige Abgren- zungen vorgenommen werden. Laut der Definition von Theunert (1987, S. 40) liegt Gewalt immer dann vor, wenn als Folge der Ausubung von Macht und/oder Herr- schaft einzelne Oder Gruppen von Menschen geschadigt werden. Prinzipiell wird in der Literatur unter anderem zwischen struktureller Gewalt, die von gesellschaftli- chen bzw. staatlichen Bedingungen ausgeht (z. B. Nationalismus, Rassismus, Se- xismus) und personaler Gewalt, welche direkt von Menschen ausgeubt wird, diffe- renziert. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf letztere Erscheinungsform. In Anlehnung an Imbusch (2002, zitiert nach Heitkotter, Holthusen, Laux, Luders, & Schafer, 2007, S. 20) wird Gewalt in Heimerziehung zudem vor allem unter zwei Aspekten naher betrachtet:
- Kinder und Jugendliche als einzelne Oder kollektive Opfer tatsachlicher Oder potenzieller Gewaltausubung. Hierunter fallt sowohl die Gewalt in der Peer- Gruppe als auch die Gewalt an Kindern durch padagogisches Personal wie Betreuern, PsychoIogen Oder padagogischen Fachkraften.
- Kinder und Jugendliche als Gewalt ausubende Oder potenziell gewalttatige Tater. Auch hier unterscheidet man zwischen der Gewalt an anderen Heim- kindern und der Gewalt an erwachsenen Mitarbeitern eines Heims.
Kaum ein Thema ist heute so stark in den Fokus der Offentlichkeit geruckt wie das der Kindeswohlgefahrdung. Der Begriff Kindeswohl meint grob umschrieben das gesamte Wohlergehen eines Kindes unter Berucksichtigung eines stimmigen Ver- haltnisses zwischen den Bedurfnissen eines Kindes und seinen Lebensbedingun- gen. Die Gefahrdung eines solchen Kindeswohls liegt vor, wenn das korperliche, seelische Oder geistige Wohl eines Kindes Oder dessen Vermogen gefahrdet wird und die Eltern nicht gewillt Oder in der Lage sind, diese Gefahr abzuwenden (§1666 Abs. 1 BGB). Galm, Herzig, Lillig und Stotzel (2007, S. 31-32) leiten daraus vier Formen der Gewalt ab:
1. Vernachlassigung-. Die andauernde Oder wiederholte Unterlassung fursorgli- chen Handelns von Seiten der sorgeverantwortlichen Personen. Dies kann sowohl bewusst als auch unbewusst stattfinden. Auch unterscheidet man emotionale, kognitive, korperliche und medizinische Vernachlassigung, so- wie unzureichende Beaufsichtigung.
2. Psychische Kindesmisshandlung-. Das andauernde Oder wiederholte Terrori- sieren, Ablehnen, Isolieren, vorsatzlich inkonsistente Erziehen sowie Kor- rumpieren von Kindern durch die sorgeverantwortlichen Personen.
3. Physische Kindesmisshandlung-. Die Anwendung korperlichen Zwangs Oder Gewalt, die zur physischen Oder psychischen Beeintrachtigung des Kindes und seiner Entwicklung fuhren konnen. Hierzu zahlen Schlage zum Beispiel oderverletzende Beruhrungen.
4. SexuellerMissbrauch-. Willentliche sexuelle Handlungen mit, an Oder vor Kindern, die gegen deren Willen vorgenommen werden Oder denen sie aufgrund korperlicher, seelischer, geistiger Oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wis- sentlich zustimmen konnen.
3. HistorischerAbriss
Zwar werden in der Definition von Heimerziehung (siehe Kapitel 2.1, S. 4) bereits viele Aufgaben und Ziele ihrerseits genannt, es ist allerdings anzumerken, dass diese Auffassung des Begriffs erst seit einigen Jahrzehnten angenommen werden kann. Spricht man von Heimerziehung im zeitlichen Kontext der Nachkriegs- zeit, so trifft eine solche Definition nicht zu.
Im Folgenden soil in einem kurzen Abriss auf die historische Entwicklung der Heimerziehung der Nachkriegszeit bis heute eingegangen werden. An dieser Stelle ist zu erwahnen, dass sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR Erziehungshilfe gepragt war von Gewalt und Repression. Da weitere Ausfuhrun- gen zur politisch-ideologischen Heimerziehung in der DDR den Rahmen dieser Arbeit uberschreiten wurden, konzentriert sie sich auf die Lebens- und Erzie- hungsverhaltnisse in westdeutschen Kinderheimen. Dabei soil ein besonderes Augenmerk auf die verschiedenen Formen der Gewalt, die in Heimen ausgeubt wurden, sowie die spater aufkommenden Verbesserungen gelegt werden. Um sich die damalige Lage zu vergegenwartigen, werden zunachst die Rahmenbe- dingungen nahergeschildert.
3.1. Umstande in Kinderheimen der 1950er und 60erJahre
3.1.1 Rahmenbedingungen
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatte man lange Zeit Probleme, der gro&en Zahl an heimatlosen und elternlosen Kindern angemessene Hilfeangeboten zu bieten. Hunderttausende, vom Krieg schwer gepragte und geschadigte Kinder und Jugendlichen mussten in den wenigen vorhandenen Heimen mit unausgebildetem Personal untergebracht werden (Gunder, 2015, S. 24). Folglich bemuhte man sich nicht urn Veranderung und setzte die traumatisierenden Lebens- und Erziehungs- bedingungen der NS-Zeit scheinbar ubergangslos fort. Ohne Kontrolle durch Regierung Oder Amter, konnten die meist geistlichen Betreuer und Heimleitungen der uberwiegend kirchlichen Einrichtungen weitgehend nach Belieben verfahren. In Folge dessen wurden Kinder auch nicht selten als billige Arbeitskrafte ausgenutzt (Wensierski, 2006, S. 62). Sie mussten stundenlang schweigend harte Arbeiten in der Wascherei, in der Nahstube Oder auf dem Feld verrichten. Das Prinzip von „bete und arbeite" erhielt zu dieser Zeit eine absurde und skandalose Renaissance. Auch schwere korperliche, psychische Oder sexualisierte Gewalt sowie Vernachlassigung gehorte in vielen Einrichtungen zum Alltag.
3.1.2 Formen der Gewaltanwendung
Vernachlassigung
Lautderoben genannten Definition (siehe Kapitel 2.2, S. 5) befanden sich damalige Heimkinder in einem chronischen Zustand sozialer Vernachlassigung. An einfuhl- samerZuwendung, Zartlichkeit und Wertschatzung fehlte es grundlegend. Padago- gische Konzepte basierend auf Drill, Disziplin und Unterwerfung lie&en keinen Platz fur Individuality, Privatsphare Oder Personlichkeitsentfaltung. Nur ganz vereinzelt erinnern sich Zeitzeugen an Erwachsene, zu denen sie tatsachlich eine Bindung aufgebaut haben: ,,lch glaube, ein Oder zwei Jahre haben wir mal Erzieherinnen gehabt, (...) die waren eigentlich nett" (Schafer-Walkmann, Stork-Biber, & Tries, 2011, S. 116). Wahrend in manchen Einrichtungen die Versorgung mit Kleidung, Nahrung und Sauberkeit - auf die zum Teil pedantisch geachtet wurde - weitestge- hend gegeben war, lie&en andere die Kinder hungern und verwahrlosen. Durch „harte Arbeit und einfache Kost" sollte ihnen die notige Demutshaltung vermittelt und das Ziel, den Willen zu brechen, erreicht werden (Wensierski, 2006, S. 59). So wurde ihnen mancherorts dasselbe Essen wie den Schweinen vorgesetzt und falls es ihnen hochkam, wurden sie gezwungen, das eigene Erbrochene zu essen (Kirschstein & Hollstein, 2009). Im Kinderheim in Honau bekamen die Zoglinge nichts zu trinken, urn nachts nicht ins Bett zu machen. In der Not tranken sie ihren eigenen Urin (Fuchs, 2018). Die medizinische Versorgung reduzierte sich meist auf Impftermine und zum Teil entwurdigende Untersuchungen auf Geschlechtskrank- heiten (Wensierski, S. 63).
Physische Gewalt
Auch physische Gewalt stand in den stationaren Einrichtungen an der Tagesord- nung. Strafen wie mit nackten Beinen auf scharfkantigen Holzscheiten knien und beten, in einem zugebunden Kartoffelsack in einem dunklen Raum gestellt zu werden Oder Kniebeugen mit ausgestreckten Handen, aufdenen Bibeln liegen und bei Herabfallen einer der Heiligen Schriften Schlage mit dem Riemen zu erhalten, sind nur einige Beispiele fur den alltaglichen Horror. Nach den Erzahlungen eines Ehemaligen des katholischen Kinderheims Kallmunz beschreibt Wensierki (2006, S. 98.) die Reaktion einer Schwester auf den Fluchtversuch eines Heimkindes wie folgt:
Dort [auf der Toilette] sperrte sie sich mit ihm ein. Dann schlug sie mit der blofcen Faust seinen Kopf gegen die Wand. Seine Nase fing sofort an zu bluten. Weil das Blut die ganze Wand verschmierte, geriet die Er- zieherin erst richtig in Fahrt. Als sie endlich aufhorte, war der 13-Jahrige fast ohnmachtig.
In diesem kurzen Ausschnitt wird deutlich, mit welcher Brutalitat und Skrupellosig- keit viele Heimerzieher zur damaligen Zeit agierten. Unzahlige ahnliche Aussagen von Betroffenen lassen sich in zahlreichen Interviews Oder Berichten von Zeitzeu- gen finden.
Die Willkur der Strafpraxis und die Bevorzugungen bzw. Benachteiligungen durch die Erzieher schurten zudem die korperliche Gewalt der Kinder und Jugendlichen untereinander. Besonders altere Jungen setzten sich auch den Nonnen - z. B. mit Schlagen ins Gesicht - korperlich zu Wehr (Schafer-Walkmann et al., 2011, S. 173).
Psychische Gewalt
Ungeachtet dessen bezeichnen viele die zahlreichen verbalen Herabwurdigungen von fruh bis spat als deutlich subtiler und nachhaltiger wirkende Zuchtigungen als die korperlichen. Mit Bezeichnung wie ,,Du Kruppel, du Vorgartenzwerg, du Dackel" gaben die Erzieher ihren Schutzbefohlenen zu verstehen, dass sie fur sie Ab- schaum waren. Fortgefuhrt wurde die psychische Misshandlung auch durch den gezielten Einsatz sozialer Isolation als Mittel der Bestrafung. Die Kinder und Jugendlichen wurden dann tagelang in ein Zimmer eingesperrt und es wurde nicht mit ihnen gesprochen. (Wensierski, 2006, S. 88)
Aber nicht nur innerhalb der Einrichtungen hatten Heimkinder mit standiger Ableh- nung und Erniedrigung zu leben. Die Einweisung in ein Kinderheim wurde als ein klassischer staatlicher Eingriff in das Leben unterprivilegierter Menschen angese- hen. Heimkinder galten in der Gesellschaft als schwererziehbar, kriminell und zu nichts nutze. ,,Schau mail Die Heimkinder!" stehen stellvertretend fur die entwurdi- genden Zuschreibungen, mit denen sie zu kampfen hatten. (Wensierski, 2006, S. 124)
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