Ungarn galt lange Zeit als Vorzeigemodell für den osteuropäischen Raum. Nach der Wende 1989/90 werde das ungarische Staatswesen erneuert und die Republik Ungarn etabliert. Im März 1999 trat Ungarn als einer der ersten Ostblockstaaten der NATO bei. 2004 schloss sich Ungarn im Zuge der Osterweiterung der EU an und ratifizierte am 17.Dezember 2007 als erstes Land den Vertrag von Lissabon. Die damalige Regierung Ungarns befürwortete, nach dem Motto „Fortschritt durch Kompromiss“, die gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesse und sprach sich für ein integriertes Europa aus. Auch aus kommunaler Sicht war Ungarn Vorreiter in Osteuropa. Ungarn hat die Dezentralisierung des Staates vorangetrieben und die kommunale Selbstverwaltung in hohem Maße gestärkt. Die Kommunen hatten ein breites Aufgabenfeld und wurden politisch und rechtlich stark aufgewertet.
Seit 2010, der Regierungsübernahme von Viktor Orban, sehen wir einen radikalen Wandel. Es hat eine Re-zentralisierung in allen Bereichen eingesetzt, denn „in Ungarn soll es nur noch ein Kraftfeld geben: Viktor Orban“ (Verseck 2014). Während in den meisten europäischen Ländern die kommunale Selbstverwaltung in den letzten Jahren gestärkt wurde, ist in Ungarn das genaue Gegenteil zu beobachten (Kuhlmann/Schwab/Bouckaert 2017). Da Ungarn eine wichtige Rolle für den osteuropäischen Raum spielt, ist eine Analyse der gegenwärtigen kommunalen Selbstverwaltung unumgänglich. Die vorliegende Arbeit soll einen Einblick in den jetzigen Zustand der kommunalen Ebene in Ungarn verschaffen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Aktuller Forschungsstand
3 UngarischerVerwaltungsaufbau
4 Bedeutung der Kommunen nach der Wende 1989/90
5 Kommunale Selbstverwaltung vor Beginn der Reformen
5.1 Rechtlicher Schutz
5.2 Kommunale Aufgaben
5.3 Kommunale Finanzen
6 Die Reformen nach 2010
6.1 Wegfall des rechtlichen Schutzes
6.2 Schaffung neuer Bezirke und Stärkung der mittleren Behörden
6.3 Völlige finanzielle Abhängigkeit von der Zentralregierung
7 Local Autonomy Index von Ungarn und der Vergleich mit anderen Ländern
8 Fazit
Internetquellen
Literaturquellen
1 Einleitung
Ungarn galt lange Zeit als Vorzeigemodell für den osteuropäischen Raum. Nach der Wende 1989/90 werde das ungarische Staatswesen erneuert und die Republik Ungarn etabliert. Im März 1999 trat Ungarn als einer der ersten Ostblockstaaten der NATO bei. 2004 schloss sich Ungarn im Zuge der Osterweiterung der EU an und ratifizierte am 17.Dezember 2007 als erstes Land den Vertrag von Lissabon. Die damalige Regierung Ungarns befürwortete, nach dem Motto „Fortschritt durch Kompromiss“, die gemeinschaftlichen Entscheidungsprozesse und sprach sich für ein integriertes Europa aus.
Auch aus kommunaler Sicht war Ungarn Vorreiter in Osteuropa. Ungarn hat die Dezentralisierung des Staates vorangetrieben und die kommunale Selbstverwaltung in hohem Maße gestärkt. Die Kommunen hatten ein breites Aufgabenfeld und wurden politisch und rechtlich stark aufgewertet.
Seit 2010, der Regierungsübernahme von Viktor Orban, sehen wir einen radikalen Wandel. Es hat eine Re-zentralisierung in allen Bereichen eingesetzt, denn „in Ungarn soll es nur noch ein Kraftfeld geben: Viktor Orban“ (Verseck 2014). Während in den meisten europäischen Ländern die kommunale Selbstverwaltung in den letzten Jahren gestärkt wurde, ist in Ungarn das genaue Gegenteil zu beobachten (Kuhlmann/Schwab/Bouckaert 2017).
Da Ungarn eine wichtige Rolle für den osteuropäischen Raum spielt, ist eine Analyse der gegenwärtigen kommunalen Selbstverwaltung unumgänglich. Die vorliegende Arbeit soll einen Einblick in den jetzigen Zustand der kommunalen Ebene in Ungarn verschaffen.
Die Leitfrage für die Hausarbeit lautet daher:
Wie hat sich die kommunale Selbstverwaltung seit der Regierungsübernahme von Viktor Orban verändert?
Der Fokus der Hausarbeit soll die Reformen von 2010-2014 erfassen, da in diesem Zeitraum die größten und umfassendsten Kommunalreformen verabschiedet wurden.1 Die Arbeit ist in fünf große Teile gegliedert. Im ersten Teil wird kurz der aktuelle Forschungsstand beschrieben. Im zweiten wird die Rolle der Kommunen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 beleuchtet. Dadurch soll gezeigt werden, warum besonders die Kommunen eine große Bedeutung für Ungarn haben. Im dritten Teil soll die Situation der Kommunen vor 2010 gezeigt werden, damit ein Vergleich mit dem Zustand nach den Reformen möglich ist. Im vierten Teil werden die Reformen und ihre Wirkung auf die Kommunen untersucht. Im fünften Teil wird der Local Autonomy Index hinzugezogen, so ist ein Vergleich mit anderen Ländern möglich.
Am Ende der Hausarbeit soll ein klares Bild der gegenwärtigen kommunalen Selbstverwaltung in Ungarn stehen.
2 Aktueller Forschungsstand
Verglichen mit Ländern wie Frankreich, Schweden, Deutschland oder Großbritannien, ist die Forschung, bezüglich kommunaler Selbstverwaltung in Ungarn, noch nicht in dem Maße in den Fokus geraten. Dennoch gibt es einige erwähnenswerte Autoren und Werke, die dieses Thema nach 2010 aufgegriffen haben. Zu erwähnen sind Attila Ägh mit seiner Studie „The triple crisis in Hungary: The "Backsliding" of Hungarian democracy after twenty years“ (2013), György Hajnal and Sändor Csengödi mit ihrer Schrift „When crisis hits superman: Change and stability of political control and politicization in Hungary“ (2014), sowie Ilona Palné Koväc (die wahrscheinlich wichtigste Vertreterin) mit ihrer Untersuchung „Farewell to Decentralisation: The Hungarian Story and its General Implications“ (2016).
Die Forschung ist sich über die Schwächung oder sogar Abschaffung der kommunalen Selbstverwaltung einig. Es ist jedoch zu erwähnen, dass die Forscher nicht nur die kommunale Selbstverwaltung im Fokus hatten. Besonders die politischen Akteure, die Zentralisierung des gesamten Staates an sich (nicht nur der Verwaltung) und die Schwächung der Demokratie haben einen beträchtlichen Teil der Forschung ausgemacht.
In der vorliegenden Arbeit werden diese Aspekte selbstverständlich berücksichtigt. Der Forschungsschwerpunkt soll jedoch klar auf verwaltungswissenschaftlichen Aspekten bzw. der kommunalen Selbstverwaltung liegen.
3 UngarischerVerwaltungsaufbau
Ungarn hat, ähnlich wie Frankreich, eine Verwaltung mit einer Doppelstruktur. Neben der Kommunalen Selbstverwaltung gibt es eine Staatsverwaltung, die bis in die kommunale Ebene reicht.
Zunächst gibt es sieben Regionen in Ungarn, die sogenannten NUTS-Regionen. Sie besitzen keine wirklichen Verwaltungsaufgaben und nehmen eine statistische Rolle ein. Darüber hinaus wird das Land in 19 Kreise (megyek) sowie die Hauptstadt Budapest eingeteilt. Budapest nimmt, mit seinen 23 Bezirken, genauso wie die Stadtstaaten in Deutschland, sowohl die Rolle des Kreises als auch die der Gemeinde an. Die Kreise nehmen Aufgaben wahr, wozu die Gemeinden nicht in der Lage sind. Des Weiteren sind sie für die Gymnasien, Krankenhäuser und die Raumplanung im Land verantwortlich (die einzigen wichtigen Aufgaben der Kreise). Sollte eine Gemeinde finanzielle oder personelle Schwierigkeiten haben, so ist der Kreis, dafürverantwortlich, diese zu unterstützen.
Die unterste Verwaltungsebene bilden die Gemeinden. Sie sind (oder waren) die wichtigste Verwaltungseinheit in Ungarn. Sie haben die weitreichendsten Kompetenzen und Aufgaben (Näheres dazu in Kapitel 5). Demgegenüber stehen die eigenen staatlichen Verwaltungsbehörden (die sogenannten Decos = deconcentrated state administration). Diese reichen von den staatlichen Oberbehörden (Regionalebene), über die staatlichen Kreisbehörden (Kreisebene) bis hin zu lokalen Dienststellen (Gemeindeebene) (Kuhlmann/Wollmann 2013). Ihre Aufgaben können variieren. Sie können eine einfache Rechts- und Fachaufsicht ausüben oder sogar selbst Aufgaben wahrnehmen. Die Kompetenzen dieser Staatsbehörden wurden in den letzten Jahren erheblich erweitert (Näheres dazu in Kapitel 6)
4 Bedeutung der Kommunen nach derWende 1989/90
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 wurde am 23.0ktober 1989 die Republik Ungarn ausgerufen. Die sozialistische Verfassung von 1949 wurde grundgehend nach dem Vorbild des deutschen Grundgesetzes 1990 verändert und trat am 24.August in Kraft. Oberste Priorität für die Umwandlung war es, einen zentralisierten Staat mit zu viel Machtkonzentration zu verändern. Dabei spielten das Prinzip der „checks and balances" sowie der Dezentralisierung eine wichtige Rolle. (Wollmann 2003)
Die Kommunen nahmen im Zuge dieser Umwandlung eine entscheidende Rolle ein. Um die Dezentralisierung voranzutreiben, wurden den Kommunen weitreichende Selbstverwaltungsrechte eingeräumt (Kapitel 9 Ungarische Verfassung von 1990). Im selben Jahr wurde das Kommunalgesetz (Gesetz 65 Jahr 1990) verabschiedet, welches verfassungsgleich war2. Dieses Gesetz gab den Kommunen das Recht, ihre Selbstverwaltungsaufgaben auszuweiten. In folge neuer Regelungen und Gesetze für die Kommunen durften Gemeinschaften neue Gemeinden gründen. Als Konsequenz, wurden 1500 weitere Gemeinden in Ungarn errichtet. (Baläzs et al. 2014)
Des Weiteren ist die Stellung der Gemeinden gegenüber den Kreisen zu erwähnen. Die Gemeinden sind den Kreisen weder rechtlich noch politisch untergeordnet. Die Kreise nehmen eine unterstützende Rolle ein (Siehe Kapitel 3). Erwähnenswert ist die Tatsache, dass den Gemeinden das Recht zur direkten Bürgermeisterwahl Jahre vor den Kreisen zugesprochen wurde. Die Kreise wurden politisch erst 1994 aufgewertet, indem sie ebenfalls das Recht der direkte Bürgermeisterwahl erhielten. Auch gegenüber der Staatsverwaltung hatten die Kommunen eine starke Stellung. Die staatlichen Decos üben zwar die Rechtsaufsicht über die Kommunen aus. Sie dürfen jedoch Satzung und Verordnungen nicht einfach annullieren oder die Kommunen bei Rechtswidrigkeit sanktionieren. Vielmehr war die Staatsverwaltung gezwungen, erst mit den Kommunen über die Rechtswidrigkeit zu diskutieren und dann, wenn sie immer noch auf der Verordnung oder Satzung bestehen, die Angelegenheit von einem Gericht regeln zu lassen.
Abschließend kann man sagen, dass die Kommunen eine starke Position nach der Umwandlung erreicht haben und zum „Angelpunkt der Dezentralisierung und Demokratisierung der neuen Staatsorganisation geworden sind“ (Kuhlmann/Wollmann 2013).
5 Kommunale Selbstverwaltung vor Beginn der Reformen
Um ein gutes Bild von der Veränderung der kommunalen Selbstverwaltung zu gewinnen, ist ein Vergleich des Zustands vor und nach den Reformen unerlässlich. Im nachfolgenden Abschnitt werden der rechtliche Schutz, die Aufgaben und Kompetenzen sowie die finanzielle Freiheit der Kommunen untersucht. Als Zeitrahmen wird die Periode vor dem Regierungsantritt von Viktor Orban gewählt.
5.1 RechtlicherSchutz
Wie bereits in Kapitel 4 erwähnt, besaßen die Kommunen vor Orbans Regierungsübernahme eine starke rechtliche Stellung. Sie hatten gewissermaßen einen „doppelten“ rechtlichen Schutz. Einerseits garantierte die ungarische Verfassung von 1990 eine kommunale Selbstverwaltung:
[...]
1 Mit Kommunen sind in dieser Arbeit Gemeinden, Kreise und Städte mit Kreisstatus gemeint. Die Regionen sollten unter der Vorgängerregierung mit weitreichenden Kompetenzen, hoheitlicher Gewalt und Selbstverwaltungsorganen ausgestattet werden. Dieser Plan konntej edoch nicht verwirklicht werden.
2 Das Gesetz ist ein Schwerpunktgesetz, welches nur mit einer Zweidrittelmehrheit verändert werden darf.