Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob das demokratische System Brasiliens einer klientelistischen Unterwanderung ausgesetzt ist. Dabei setzt die Arbeit ihren Fokus auf das sozialstaatliche Werkzeug, welches den Machterhalt derzeitiger Führungsschichten aufrechterhält. Zuerst wird eine Einführung in die Hintergründe des brasilianischen Wirtschaftssystems gegeben.
In diesem Zusammenhang wird eine historische Hinführung zur heutigen Wirtschaftsweise Brasiliens, genannt Neo-Extraktivismus, behandelt. Das erste Kapitel abschließend, werden die sozioökonomischen Auswirkungen der momentan praktizierten Wirtschaftsweise am Beispiel eines Staudammprojekts, welches unter anderem für einen Mensch – Umweltkonflikt steht, dargestellt. Das zweite Kapitel erfasst die wohlfahrtsstaatliche Dimension.
Dabei ist die Beziehung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen Ziel der Darstellung, welche durch die Verortung des brasilianischen Wohlfahrtsstaats in, einem zuvor erklärten, theoretischem Gerüst von drei Welten der Wohlfahrtsstaatlichkeit nach Esping-Andersen gegeben wird. Dadurch soll der, die Macht des Wirtschaftssystems und der Führungskader unterstützende, klientelistische Charakterzug der brasilianischen Wohlfahrtsstaatlichkeit zum Vorschein kommen. Im Anschluss wird eine Begriffsbestimmung vorgenommen um anschließend im letzten Subkapitel dem Ziel, der Verortung des brasilianischen Sozialstaats in einen klientelistischen Zusammenhang, näherzukommen.
1. Einleitung
2. Neo-Extraktivismus
2.1. Sozioökonomische AuswirkungendesNeo-Extraktivismus am Beispiel des Staudammprojekts Belo Monte
3. Brasilien als Wohlfahrtsstaat
3.1. TypenderWohlfahrtsstaatlichkeit
3.2. Bolsa Familia
3.3. VerortungdesbrasilianischenWohlfahrtsystems
4. Klientelismusund Demokratie
4.1. Klientelismus
4.2. NeopatrimonialerKlientelismusim brasilianischenSozialstaat
5. Fazit
6. Literatur
1. Einleitung
Fußball, Caipirinha, hübsche Frauen, Strand unter tropischer Sonne. So bislang ein beliebtes Klischee wenn es um das Bild Brasiliens im Ausland geht. Jedoch hat das Land nicht erst seit 2003 mit Beginn der Amtszeit des charismatischen Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva sein Gesicht vom Tropenparadies hin zum ernstzunehmendem Wirtschaftspartner und Organisator der FIFA FußballWeltmeisterschaft geändert. Bedingt durch die mediale Aufmerksamkeit, welche dem tropischen Riesen, seit der Auslosung am 30. Oktober 2007 in Zürich als Gastgeberland der FußballWeltmeisterschaft, zukommt, rückt die schon lange schwelende, durch immense Ungleichheit bedingte, Unzufriedenheit des brasilianischen Volkes mittels Massenausschreitungen und Protesten gegen, nach Auffassung der Demonstranten_INNEN unverhältnismäßig, hohe Investitionen des Brasilianischen Staatsapparates in die Ausrichtung des Sportspektakels in den Fokus der Weltöffentlichkeit. So berichtet das Spiegel-Online Magazin am Mittwoch dem 19.06.2013 um 07:53 Uhr von der Niederschlagung zehntausender DemonstrantenJNNEN durch den Einsatz von paramilitärischen Gruppen. Auf diesem Wege sollte in den Städten Rio de Janeiro, Fortaleza, Salvador de Bahia und Minas Gerais sowie in der Landeshauptstadt Brasilia für die Sicherheit der Organisation des FIFA World Cups gesorgt werden (Vgl. ONLINE et al. 2013). Die Auflehnung der Bevölkerung gegen ungleich-hohen Ausgaben der Regierung für die Ausrichtung von Prestigeprojekten und infrastrukturellen Projekten bzw. Ausgaben bzgl. des Sozialstaats führt bei näherer Betrachtung zu der Frage ob die Unzufriedenheit der Brasilianer_INNEN nicht auch durch ein Demokratiedefizit hervorgerufen wird, welches sich im Klientelismus wieder spiegelt . Dabei gilt Brasilien als ein Land mit einer traditionell hoher Ungleichheit (Vgl. Der GINI-Index - Die Verteilung des Familieneinkommens im weltweiten Ländervergleich) die der Mutterboden für Klientelismus ist. Daher beschäftigt sich diese Arbeit mit der Frage ob das demokratische System Brasiliens einer klientelistischen Unterwanderung ausgesetzt ist. Dabei setzt die Arbeit ihren Fokus auf das sozialstaatlichen Werkzeug, welches den Machterhalt derzeitiger Führungsschichten aufrecht erhält. Zuerst wird dem / der LeserJNN eine Einführung in die Hintergründe des brasilianischen Wirtschaftssystems gegeben. In diesem Zusammenhang wird eine historische Hinführung zur heutigen Wirtschaftsweise Brasiliens, genannt Neo-Extraktivismus, behandelt. Das erste Kapitel abschließend, werden die sozioökonomischen Auswirkungen der momentan praktizierten Wirtschaftsweise am Beispiel eines Staudammprojekts, welches unter anderem für einen Mensch - Umweltkonflikt steht, dargestellt. Das zweite Kapitel erfasst die wohlfahrtsstaatliche Dimension. Dabei ist die Beziehung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen Ziel der Darstellung, welche durch die Verortung des brasilianischen Wohlfahrtsstaats in, einem zuvor erklärten, theoretischem Gerüst von drei Welten der Wohlfahrtsstaatlichkeit nach Esping-Andersen gegeben wird. Dadurch soll der, die Macht des Wirtschaftssystems und der Führungskader unterstützende, klientelistische Charakterzug der brasilianischen Wohlfahrtsstaatlichkeit zum Vorschein kommen.
Im Anschluss wird im Kapitel Klientelismus und Demokratie eine Begriffsbestimmung vorgenommen um anschließend im letzten Subkapitel dem Ziel, der Verortung des brasilianischen Sozialstaats in einen klientelistischen Zusammenhang, näher zu kommen. Schlussendlich soll im Fazit, auf Grundlage der gewonnenen Informationen, der Versuch unternommen werden auf die anfangs gestellte Frage zu Antworten, ob das brasilianisch - demokratische System einer klientelistischen Unterwanderung, seitens Herrschender Fraktionen, mittels dem Werkzeug des Sozialstaats ausgesetzt ist.
2. Neo-Extraktivismus
In diesem Kapitel wird näher auf den Neo-Extraktivismus eingegangen. Es wird ein kurzer Einblick in die historischen Grundlagen und ein Versuch der Erläuterung des Begriffs unternommen.
Neo-Extraktivismus beschreibt einen auf Export ausgerichteten Abbau von Rohstoffen, welche meist Primärgüter sind. Diese Art von Enklavenökonomie erstreckt sich zumeist auf die Bereiche Bergbau, Öl und Gas (Vgl.Burchardt et al. S.35). Betrachtet man Lateinamerika bzgl. seiner ökonomischen Geschichte über einen längeren Zeitraum lässt sie sich in drei Phasen einsortieren. Die erste Phase beschreibt dabei das Export-Import Modell (1870-1929), die zweite Phase ist das importsubstituierende Entwicklungsmodell (1929-1982) und schlussendlich die Phase des Neoliberalismus. Die erste Phase ist dabei in hohem Maße von einer starken Rohstoffnachfrage aus Europa gekennzeichnet die ihre Wurzeln in derzu dieserZeitstattfindenden Industrialisierung hat. Mexiko, Bolivien und Ecuador aufgrund des, zu dieser Zeit, nicht signifikanten Exportwachstums außen vor gelassen versechzehnfachten sich alle Exportbilanzen der restlichen Lateinamerikanischen Länder. Die Extraktion lokaler Rohstoffe fand dabei meist durch ausländische Unternehmen statt, welche gleichermaßen die Profiteure dieses Raubbaus an Mensch und Natur waren (Vgl.Burchardt et al.S.49). Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 trat Lateinamerika in eine neue Phase ein. Diese zweite Phase, genannt importsubstituierendes Entwicklungsmodell, welche bis 1982 bestand hatte, zeichnete sich durch, über Importzölle teils finanzierendes teils geschütztes, Binnenmarkt-orientertes Idustrialisierungsmodell aus. Die Ursache für den Gesinnungswandel ist in dem rapiden Fall der Rohstoffpreise zu finden. Durch die Veränderung der Terms of Trade zu Ungunsten des lateinamerikanischen Kontinentes wurde seitens einer Koalition aus Arbeiterschaft, Mittelschicht und Industriekapital mitunter die Forderung einer Verstaatlichung der Rohstoffe laut. Erste Verstaatlichungen fanden, neben anderen lateinamerikanischen Ländern, z.B. in Brasilien 1953 im Bereich Erdgas und Erdöl statt. Gleichzeitig wurde eine aktive Auslandsverschuldung seitens der Regierung betrieben, mit dem Ziel das geliehene Geld in Projekte zur Verbesserung der Strukturen des Industrialisierungsvorhabens zu zu investieren. Problematisch waren dabei Bereiche wie kaum vorhandene Binnenmärkte, technologischer Rückstand und negative Leistungsbilanzen (Vgl.Burchardt et al. S.49). Die dritte Phase wird als neoliberale Phase verstanden da hier einen Rückzug staatlicher Regulierung und einer Marktöffnung stattfand. Ausgelöst durch das erneute Absinken der Rohstoffpreise bei einem gleichzeitigen steilen Anstieg der Staatsschulden wurden 1982 umfangreiche Deregulierungsmaßnahmen sowie Privatisierungsbestrebungen unternommen um sich dem internationalen Markt zu öffnen. Jedoch wurde durch diese Öffnung und weitere Expansion der Rohstoffextraktion der globale Markt mit Rohstoffen überschwemmt und die Chance für lokale Produzenten Gewinn zu erwirtschaften zunichte gemacht. Die gegenteilige Entwicklung der von den Regierungen erwarteten trat ein. Es kam nicht zu einer Entschuldung sondern zu einer schweren Währungskrise. Unter anderem auch 1998-1999 in Brasilien (Burchardt et al. S.50).
Nach diesem kurzen historischen Abriss wird abschließend am magischen Viereck des Neo- Extraktivismus, welches auch mit den vier Säulen des Neo-Extraktivismus betitelt wird, aufgezeigt wo Verbindungen zu, in der Vergangenheit Lateinamerikas vorgekommenen, Wirtschaftsformen bestehen und was ihn zu einer neuen Form von Extraktivismus macht. Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts erfährt Lateinamerika im Internationalen Zusammenhang eine Veränderung seiner Wirtschaft. Bedingt durch den wirtschaftlichen Aufschwung Chinas (1) und die gestiegene Rohstoffnachfrage, dem Peak Everything (2), der Transnationalisierung der Produktion (3) und dem Aufkommen von Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika (4) hat sich eine neue Form entwickelt. Der Neo-Extraktivismus, dessen vier Eckpunkte eben Besagte sind, ist dabei nicht in allen lateinamerikanischen Ländern der Selbe. Mit der Beschreibung des magischen Vierecks des Neo- Extraktivismus wird dennoch versuch eine zumindest für Brasilien aussagekräftige Definition zu geben. Der Rohstoffboom an dem lateinamerikanische Staaten zu einem Großteil profitieren ist verbunden mit dem Aufstieg Chinas zur industriellen Weltmacht (Burchardt et al.S.50). Dabei kann China, einer Studie der CEPAL aus dem Jahr 2010 zufolge, bereits 2014 die wichtigste Rolle als Abnehmer lateinamerikanischer Rohstoffexporte übernehmen und somit Europa verdrängen.
„China has emerged as one of the largest—often the largest—consumers of most primary Commodities. For the main metals, China ranks first and consumes 24 percent of total world production. It also produces 31 percent of the world’s steel Output. In energy, China consumes 13 percent of the world’s energy, including nearly one-third of the world’s coal Output. In agriculture, it is the largest consumer of wheat, rice, palm oil,...“ (Streifel 2006 S.3).
Gleichzeitig sehen sich die Nationen des südamerikanischen Kontinents dem Phänomen des Peak Everything ausgesetzt, welches von einer Erschöpfung wichtiger Rohstoffvorkommen ausgeht. Kohle, Erdgas und Erdöl sind dabei längst nicht alle knapper werdenden Ressourcen. Auch gehen die, für die Agrarindustrie wichtigen, fruchtbaren Böden zur Neige bzw. haben teilweise schon ihren Zenit überschritten (Burchardt et al. S.51). Aufgrund dieser Entwicklung finden seitens der Kapitalinhaber Ausweitungen von Lagerstätten sowie Sicherung von Rohstoffen und Landankäufe statt. Gleichzeitig werden neue Rohstoffe für eine Veränderung des industriellen Produktion auf den Sektor der Green Economy auch aus Lateinamerika bezogen. Beispiele dafür ist die ansteigende Nachfrage nach Lithium, welches für die Elektroindustrie wichtig ist. So steigen auch Andenländer ohne langjährige Erfahrung in einen profitablen Bergbausektor mit ein (Burchardt et al.S.51). Von der Jahrtausendwende bis zum Jahr 2008 Verbesserten sich die Terms of Trade für südamerikanische Rohstoffexporteierende Nationen erheblich (Cepal 2009-2010 S.77f). Der dritte Eckpunkt des magischen Vierecks des Neo- Extraktivismus, die Transnationalisierung von Produktion, geht wie der Name schon ahnen lässt von einer Einbindung südamerikanischer Märkte in eine internationale Wertschöpfungskette aus. Dabei sind Brasilien und Mexiko besonders erfolgreiche Beispiele für das Exportieren von Rohstoffen mittels Privatfirmen (Burchardt et al.S.52). Betrachtet man die bisherigen drei Eckpunkte des Neo- Extraktivismus könnte man davon ausgehen, dass es sich bei diesem Wirtschaftskonzept um ein klassisch neoliberalistisches handelt. Jedoch ist dem mitunter aufgrund des vierten Punktes nicht so. Die seit 1998 in Lateinamerika zu verzeichnende Linkswende trägt ihren Teil zum neuen Wirtschaftssystem bei indem die Regierungen stärker miteinander Kooperieren. Zwar kann man nicht von einer einheitlichen Linken in Lateinamerika ausgehen, jedoch haben diese Regierungen die Schwächung des US-amerikanischen bzw. europäischen Einflusses durch die Errichtung transnationaler, lateinamerikanischer Organisationen wie ALBA oder UN-ASUR zu Stande bringen können. Durch den Linksruck lässt sich darüber hinaus auch einer Veränderung in der Verfügungsgewalt über wichtige Ressourcen feststellen. So werden Erdgas und -öl in Venezuela, Bolivien, Ecuador und Argentinien durch Staatsbetriebe gefördert. Brasiliens staatliche Kontrolle über die Förderung von Erdöl durch Privatfirmen hat den selben Effekt. Dieser ist, die Staatskasse direkt oder wie im brasilianischen Beispiel indirekt zu füllen. Die Politik dieser Regierungen erinnert zusehends an die Phase des Importsubstitutionsmodells. Dennoch ist auch die Wirtschaftspolitik Export geleitet. Die Einnahmen fließen jedoch keineswegs an die gleichen Stellen wie zu Zeit der neoliberalistischen Phase. Das wirklich Neue des Neo-Extraktivismus ist die Verwendung seiner Erlöse für die Finanzierung von Programmen aufkommender Sozialstaatlichkeit und der, der Mindestlöhne (Burchardt et al. S.53).
2.1. Sozioökonomische Auswirkungen des Neo-Extraktivismus am Beispiel des Staudammprojekts Belo Monte
In diesem Unterkapitel soll anhand der Anwendungen und Auswirkungen neo-extraktivistischer Wirtschaftsmodelle, im sozioökonomischen bzw. sozioökologischem Zusammenhang die Veränderung der Landschaft bzw. Umweltzerstörung und die Folgen für die lokale Bevölkerung dargestellt werden. So lässt sich der angesprochene Mensch Umwelt Konflikt seit 2011 durch die Veränderungen des Codigo Florestal auf Hinwirken von Agrarlobbyisten in verschärfter Form in Brasilien wiederfinden. Dieses Gesetz ist mitunter für den Schutz bewaldeter Gebiete zuständig und bis 2011 war es mit einigen Errungenschaften hinsichtlich des Naturschutzes ausgestattet (Vgl.Burchardt et al., S. 121). Speziell das Munizip Altamira im Bundesstaat Para, welcher sich im Norden Brasiliens befindet und einen großen Teil der Amazonasregion einnimmt, ist ein gutes Beispiel für den Umgang der Industrie und der Regierung mit Indigenen Kleinbauern_ÄUERINNEN und Landlosen. Die zuletzt genannten Gruppen werden dem, von der Regierung propagiertem, nationalen Interesse und einem neo-extraktivistischem Entwicklungsverständnis auf dem Altar des Fortschritts geopfert. Ressourcen Wie Soja, Land, Rindfleisch, Holz und Energie sollen zur Inwertsetzung1 des, aus Sicht der Politik sich außerhalb der Wertschöpfungskette befindlichen Amazonasgebietes, beitragen. Wiederfinden lässt sich dieses Vorhaben mitunter im Wachstumsbeschleunigungsplan PAC (Plano de Aceleracao do Crecimento2 ) der Lula bzw. jetzt von Rousseff geführten Regierung Brasiliens (Vgl. Burchardt et al.:121). Im Fallbeispiel des Belo Monte Wasserkraftwerks beschränkt sich die Inwertsetzung jedoch hauptsächlich auf die Ressource Energie. Am Beispiel des Umweltkonfliktes Belo Monte, von dem im Folgenden Abschnitt ein kurzer Abriss gegeben wird, kann man die Missachtung der Rechte von Indigenen Kleinbauern_ÄUERINNEN und Landlosen gut beobachten. Mit einer Maximalleistung von 11,2 Megawatt und einer voraussichtlichen Stauseefläche von 200 km2, was ca. der Fläche der Stadt Frankfurt a.M. entspricht, wird der Belo Monte Staudamm am Rio Xingu, einem Amazonaszufluss, der weltweit drittgrößte und Brasilien weit der zweitgrößte Damm sein. Finanziert wird das Projekt von einem Konsortium aus PrivatinvestorenJNNEN und brasilianischer Regierung (Vgl. Hall und Branford 2012 S. 851-852). Bezüglich dieses Projektes stehen sich die Kontrahenten seit mittlerweile über 30 Jahren gegenüber. Zum einen ist das die Seite der Befürworter, welche sich aus einer mächtigen Dammbau unterstützenden Lobby, aus mehreren, einem Fortschrittsverständnis das auf Internationalisierung basiert verfallenen, Baufirmen und aus dem Ministerium für Energie und Bergbau sowie dem teilstaatlichen Energiekonzern Elektrobras / Elektronorte, zusammensetzt. Zum Anderen ist es das Lager der Betroffenen bzw. das Lager derer die die betroffenen Unterstützen. Dazu gehören etliche indigene Gruppen, die Organisation der vom Staudammbau betroffenen MAB (Movimento dos Antingidos por Barragems3 ), die ökologische anti-Damm Lobby und verschiedenste internationale Naturschutzorganisationen wie Greenpeace, International River Networks und oder ökologisch interessierte Akademiker (Vgl.Hall und Branford 2012 S. 3). Die vielseitigen Auswirkungen die ein Projekt solcher Größenordnung mit sich bringt sind immens. Die ökologischen Veränderungen werden nicht nur von den lokal Ansässigen zu spüren sein sondern von Menschen weltweit. Mit der Überschwemmung von bewaldeten Gebieten solcher Größenordnungen werden erhebliche Mengen an Methan freigesetzt, welche dem Klimawandel in die Hände spielen. Auch bei der Berechnung erzeugter Energie wurden die schwankenden Pegelstände des Rio Xingu nicht miteinbezogen. So kann es zu erheblichen Engpässen und schließlich zur Unrentabilität kommen. Solche Einbußen werden durch öffentliche Gelder aufgefangen werden müssen (Vgl. Hall und Branford 2012 S.855). Direktere Folgen können die Umsiedlung von mehr als 20.000 Personen der Landbevölkerung sein. Oder aber das Fischsterben, welches durch die Umwandlung eines sauerstoffreichen Flusses zu einem sauerstoffarmen stehenden Gewässer von Statten geht, worunter indigene Bevölkerungsgruppen nicht nur ökonomische sondern auch kulturelle Einbußen zu verzeichnen hätten. Gleiches gilt für die Trockenlegung eines Großteils des natürlichen Flussbetts. Während die Konstruktion 18.000 ArbeiterJNNEN beschäftigt und indirekt 25.000 Jobs generiert, sind es doch die negativen Auswirkungen die hier langfristig zu Geltung kommen. Vergleicht man ähnlich große Projekte, wie das Tucurui Staudammprojekt, mit dem von Belo Monte, sieht man, dass diese Gebiete ein Migrationsmagnet sind. Die, jetzt schon infrastrukturell an ihre Grenzen stoßende, Stadt Altamira, welche am Rio Xingu liegt, wird diesem Migrantenstrom nicht verkraften können (Vgl. Hall und Branford 2012 S.854-856). Wird die Praxis der neo-extraktivistischen Wirtschaftspolitik und die Folgen dieser unter der zuvor beschriebenen Hegemonialität, bzw. dem nicht Vorhandensein dieser beobachtet, kann festgestellt werden, dass die Industrie als VertreterJNNEN der Wirtschaft bzw. der Staat hier durchaus mit Zwangsmechanismen und oder Druck arbeitet. Legitimität für das Wirtschaftsmodell, für den von der Regierung propagierten Fortschrittsbegriff wird nicht bei den Kleinbauern_ÄUERINNEN, FlussbewohnernJNNEN bzw. Fischer_INNEN und Indigenen ersucht durch einen Kompromiss zu erlangen. Sondern es wird seitens eines Neo-Extraktivismus mit Druck und Zwang auf eben jene Bevölkerungsgruppen eingewirkt. Kleinbauern_ÄUERINNEN, einfache Fischer_INNEN und Indigene Volksgruppen die bislang noch in direktem Bezug zur lokalen Natur gelebt haben können nicht mehr wie gewohnt einer subsistenzwirtschaftlichen Beschäftigung nachgehen, da das Fundament, die natürlichen Ressourcen, nun fürandere, nationale Interessen genutzt bzw. vernichtet werden. Um ihr Überleben zu sichern sehen sie sich gezwungen in das Wirtschaftssystem einzutreten und ihre Arbeitskraft auf dem Markt feil zu bieten. Uta Grunert schreibt zu Zwang und Druck, welche diese praktische Anwendung neo-extraktivistischer Wirtschaftsweisen mit sich bringt:
„Die einen sind betroffen, weil alles, was sie in jahrzehntelanger Arbeit aufgebauthaben, in Kürze überflutet werden soll und ihnen die Zwangsumsiedelung droht. Die anderen, weil man ihnen das Wasser abgräbt und damit ihre Existenz vernichtet. Die Angaben zur Zahl der Betroffenen schwanken, vermutlich sind es 20.000 bis 40.000 Menschen. Viele verfügen nicht über gültige Landtitel, was Entschädigungsansprüche gegenüber dem Baukonsortium Norte Energia vereiltelt, [...] (Gawora, Dieter/ Bayer, Kristina 2013, S. 66)“
Die Lage der Angehörigen dieser Volksgruppen ist katastrophal. Der angesprochene Landraub vertrieb bereits über die Hälfte der Indigenen Brasiliens in die Gettos brasilianischer Metropolen (Vgl.Gesellschaft für bedrohte Völker 2006 S.30-31) Auch können sich Indigene nicht auf den Schutz vor industriellen Interessen in den Schoß der Regierung flüchten. Denn selbst die staatliche brasilianische Indigenenbehörde FUNAI (Fundacao national do Indio) tritt nicht für die in der ILO (International Labour Organisation) Konvention 169, in der eine Vielzahl von indigenen Grundrechten festgeschrieben ist, ein. Denn es wird seitens der FUNAI festgelegt welche Bevölkerungsgruppen als indigen anerkannt werden und welche nicht (Vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker 2006 S. 30).
3. Brasilien als Wohlfahrtsstaat
Um einen umfassenderes Verständnis der Beziehung von den gesellschaftlichen Gruppen Brasiliens zu erhalten wird in folgendem Kapitel näher auf das Fallbeispiel Brasilien als Wohlfahrtsstaat eingegangen. Dabei wird hier der Wohlfahrtsstaat als ein Instrument der Befriedung von Konfliktpotential verstanden und, wie in den nächsten Kapiteln ausgeführt wird, als Mittel des Machterhalts gesehen. Zu diesem Zweck wird vorab eine Darstellung verschiedener Typen von Wohlfahrtsstaatlichkeit angeführt. Um die darin enthaltenen Abhängigkeitsverhältnisse des Individuums vom Markt zu erläutern wird der Dekommodifizierungsbegriff verwandt. Schlussendlich wird eine Verödung Brasiliens in den Idealtypen der Wohlfahrtsstaatlichkeit vorgenommen und anhand von einem Beispiel aus der brasilianischen Sozialpolitik belegt. Diese Arbeit schließt sich Josef Schmid an, der in seiner Verödung verschiedener wohlfahrtsstaatlicher Typen auf den Dekommodifizierungsbegriff von (Esping-Andersen 1990 21-24, 2634, 128-137, 182-186) als die „Logik der Organisation der Sozialpolitik, der Muster sozialer Schichtung und Ungleichheit (v.a. im Beschäftigungssystem) sowie der Formen gesellschaftlicher Integration bzw. Ausgrenzung [versteht] . [...] d.h. [das sich Dekommodifizierung als] [...] relative[...] Unabhängigkeit von den Zwängen und Risiken kapitalistischer (Arbeits-)Märkte,zusammenfassen lässt. (Josef Schmid 2010) S.100-101“
3.1. Typen derWohlfahrtsstaatlichkeit
Diese Arbeit schließt sich beim Verständnis von Wohlfahrtsstaatlichkeit dem von Esping-Andersen an. Er nimmt mit seiner differenzierten Erfassung von Idealtypen der Wohlfahrtsstaatlichkeit Abschied von der Bewertung dieser durch die reine Betrachtung des Anteils der Sozialausgaben am Staatshaushalt. Viel mehr sollten nach Ansicht seiner die verfolgten Ziele des Wohlfahrtssystems im Vordergrund stehen. Bei der Kategorisierung finden qualitative als auch quantitative Gesichtspunkte Anklang. Unter wohlfahrtsstaatlichen Regimen wird im Folgenden die Formung allgemeingültiger, gesellschaftlicher Übereinkünfte, welche das Verhältnis von Arbeitsmarkt und Sozialpolitik regeln. Typen der Wohlfahrtsstaatlichkeit fußen dabei auf der jeweiligen institutionell geregelter Ordnungspolitik und folgen je nach Land bzw. Kulturraum ihren historisch gewachsenen eigenen Logiken. Diese Logiken beziehen sich auf die Konstellation sozialer Schichten sowie auf die Verhältnisse von Ungleichheit als auch Exklusion bzw. Inklusion besonderer gesellschaftlicher Gruppen. Diese Typen generieren mal mehr mal weniger, in Qualität und Quantität, stark ausgeprägte wohlfahrtsstaatliche Programme, welche sich wiederum in der Art ihrer Eintrittbarrieren und Leistungen unterscheiden. Als Zusammenfassung dieser, die unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Typen unterscheidende, Kriterien wird, wie bereits im gleichnamigen Abschnitt schon erläutert, der Begriff der Dekommodifizierung angeboten. Mit dem die Unabhängigkeit des Individuums von marktbezogenen Zwängen bzw. Gefahren verdeutlicht werden soll (Vgl. Schmid 2002b; 82-83). Esping-Andersen teilt die Wohlfahrtsstaaten dabei in drei Typen auf. In einen liberalen, in einen konservativen und in einen sozialdemokratischen Typus. In Folgendem wird eine Darstellung dieser Typen unternommen um Anschließend eine Verödung des brasilianischen Wohlfahrtsstaates zu unternehmen. Der Liberale Wohlfahrtsstaat ist derjenige der den geringsten Grad an Dekommodifizierung aufweist. Dabei ist das Individuum in in sehr direkter Weise den Risiken des freien Marktes unterworfen. Seine Begründung findet dieser Typus in der Betonung der Kraft des freien Marktes und der Familie. Der Rechtsanspruch auf Sozialstaatliche Programme ist kaum gegeben bzw.
[...]
1 Auch Kommodiffizierung bzw. der Prozess des zur Wahre werdens
2 Brasilianischer Entwicklungsplan
3 Brasilianische Grassroot Bewegung der vom Staudammbau Betroffenen