Die Sinnhaftigkeit der Jugendstrafe
Die Rechtsfolge der Jugendstrafe im Kontext des Erziehungsgedankens des Jugendgerichtsgesetzes und eines demokratisch-partizipativen Erziehungsverständnisses
Zusammenfassung
Das Jugendstrafrecht als Täterstrafrecht stellt im Gegensatz zum sachverhaltsbezogenen Erwachsenenstrafrecht im Hinblick auf den Erziehungsgedanken des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) die Erforschung der Persönlichkeit der beschuldigten Person in den Mittelpunkt.
Zusammenfassung der Anmerkungen der Dozierenden:
- Einleitung zu lang (lieber aufteilen)
- Warum versucht wird das Verständnis von Erziehung zu definieren, wenn dies vorab als zum Scheitern verurteilt erklärt wird, hat sich nicht erschlossen
- Flüchtigkeitsfehler im Literaturverzeichnis
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitende Bemerkungen und Einführung zum Erziehungsgedanken im Kontext des Jugendgerichtsgesetze
2. Die Jugendstrafe als Rechtsfolge im JGG – Intention und Wirklichkeit
3. Sozial- und Legalbewährung als justizielles Ziel der Jugendstrafe
4. Die Zielsetzungen und Rahmenbedingungen des Jugendstrafvollzugs vor dem Hintergrund lebensweltorientierter und demokratischer (sozial-) pädagogischer Ansätz
5. Fazit und Ausblick.
6. Literaturverzeichni
1. Einleitende Bemerkungen und Einführung zum Erziehungsgedanken im Kontext des Jugendgerichtsgesetzes
„Eine begriffliche pädagogische Klärung des Erziehungsbegriffes ist nicht nötig, weil der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht eher eine Chiffre darstellt, einen allgemeinen Platzhalter für spezialpräventive Beeinflussungen mit dem Ziel der Straffreiheit bzw. Nichtrückfälligkeit.“ (Cornel 2011: 455)
Das Jugendstrafrecht als Täterstrafrecht stellt im Gegensatz zum sachverhaltsbezogenen Erwachsenenstrafrecht im Hinblick auf den Erziehungsgedanken des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) die Erforschung der Persönlichkeit der beschuldigten Person in den Mittelpunkt (vgl. Putzke und Feltes 2012: 31-49). Im Hinblick auf Cornels (2011) Aussage stellt sich mit Bezug auf sich wandelnde Erziehungsverständnisse die Frage, ob das Wohl einer jugendlichen (oder ggf. heranwachsenden) Person tatsächlich ausschlaggebend ist, denn wie die die Aussage von Cornel (2011) vermuten lässt und wie Putzke und Feltes (2012) verdeutlichen, wird der ‚Erziehungsgedanke‘ noch heute „zumindest gelegentlich dazu benutzt, eingriffsintensive Maßnahmen mit dem ‚erzieherischen Wohl‘ des Jugendlichen, auf das man bedacht sein will, zu rechtfertigen“ (Putzke und Feltes 2012: 31). Diese übergreifende Fragestellung soll im Rahmen der vorliegenden Ausführung richtungsweisend sein. Exemplarisch und im Sinne einer Teilfragestellung soll – immer im Hinblick auf ein JGG, welches auch nach Reformen – 1. JGGÄndG 1990, 2. JGGÄndG 2007, Erweiterungsgesetz 2012 – auf der Fassung aus dem Jahr 1953 basiert (vgl. Laubenthal, Baier und Nestler 2015: 18), was sich nach Auffassung der Autorin auch in zu hinterfragenden Begrifflichkeiten (und Haltungen) ggf. wie ‚Zuchtmittel‘ (§ 13 JGG) und ‚schädliche Neigungen‘ (§ 17 Abs. 2 JGG) spiegelt – im Folgenden reflektiert werden, wie die Jugendstrafe im Kontext des Erziehungsgedankens, aus justizieller und/oder (sozial-)pädagogischer Perspektive bewertet werden kann hinsichtlich (der Erfüllung) ihrer Zielsetzung und ob sie aus der Perspektive eines demokratischen, lebensweltorientierten Erziehungsverständnisses (noch) gerechtfertigt ist. Letzteres ist im Sinne einer Effektivität mit Bezug auf die (jeweilige) Zielsetzung (des Erziehungsgedankens) vor dem Hintergrund (vorherrschender Erziehungsverständnisse) postmoderner Gesellschaften zu verstehen.
Diese Auseinandersetzung impliziert jedoch entgegen Cornels Feststellung zuvor eine Beschäftigung mit den Begriffen ‚Erziehungsgedanke‘ und ‚Erziehung‘ sowohl aus historischer als auch postmoderner Perspektive. Somit soll vorab der zum Scheitern verurteilte Versuch unternommen werden, einen Überblick über und eine historische Verortung von Erziehungsverständnissen vorzunehmen.
Cornels eingangs genannte Aussage deutet bereits auf einen Konflikt hin zwischen einem pädagogischen Erziehungsverständnis – und somit auch Erziehungszielen – und einer Platzhalter- oder gar Alibifunktion im Sinne einer (einseitigen?) Auslegung des Erziehungsgedankens im JGG, die gegebenenfalls mit (sozial-)pädagogischen Intentionen hinsichtlich demokratisch-partizipativer Ansätze nicht vereinbar sind. Dieser Vermutung soll im Verlauf dieser Arbeit nachgegangen werden.
Zugegebenermaßen wird der Versuch Erziehung zu definieren im Rahmen der vorliegenden Ausführungen auf polemische Weise als zum Scheitern vorverurteilt, weil die Erziehungswissenschaft laut Cornel (vgl. 2011: 455) keine einheitliche, differenzierte Definition des Begriffes ‚Erziehung‘ liefern kann. Unstrittig ist, dass Erziehung intentional und zielgerichtet erfolgt, Sozialisation hingegen geschehe nicht intentional in fortwährender Auseinandersetzung mit der Umwelt (vgl. u.a. Seel und Hanke 2015: 483f). Es stellt sich die Frage ob pädagogisches Handeln „als zielgerichtete Aktivität von Menschen mit der Absicht der Förderung der Persönlichkeit anderer Menschen […] möglicherweise auch Nebenwirkungen zeitigt“ (Walkenhorst und Fehrmann 2018: 277) und wie neben den Zielen, diese Nebenwirkungen im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu definieren wären und/oder sich hinsichtlich ihrer Auslegung verändern.
Aus soziologischer Perspektive ergibt sich eine Wandlung des gesellschaftlich (vorherrschenden) Erziehungsverständnisses grundsätzlich aus der von Schweizer (vgl. 2007: 153) beschriebenen Verlagerung einer defizitorientierten Sicht auf Kindheit als zu überkommendes Stadium und Vorstufe zum Erwachsensein hin zu einem Konzept des lebenslangen Lernens, der Entwicklung/Entwicklungsfähigkeit über die gesamte Lebensspanne hinweg. Das impliziert auch die Wendung von einem traditional-autoritären Erziehungsstil mit seinen rigiden, unreflektierten Regelsystemen, der bis über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus vornehmlich praktiziert wurde (vgl. Ecarius, Köbel und Wahl 2011: 39; vgl. Eschner 2017: 302) hin zu einem lebensweltorientierten, demokratischen Erziehungsverständnis, welches im Rahmen eines „modernen Verhandlungshaushaltes“ (Ecarius et al. 2011: 33) Partizipationsmöglichkeiten für die Kinder bzw. die zu Erziehenden etablieren möchte. Diese Veränderung – welche auch mit einer allgemeinen Pluralisierung und Individualisierung von Lebens- und Familienformen sowie dem Zerfallen homogener, traditioneller Wertesysteme begründet werden kann (vgl. Fritsch 2011: 21) – wird auch anhand der Analyse von Elternzeitschriften ab dem Jahr 2000 bis 2014 von Eschner (2017) deutlich, wonach insbesondere hinsichtlich der Auslegung haltgebender Strukturen eine Umdeutung stattfand, denn nun stehen „kindzentrierte Einstellungen und Praktiken“ (Eschner 2017: 302) im Fokus. Die Gegensätzlichkeit vergangener und aktueller Werte und Einstellungen fasst Eschner wie folgt zusammen: „Halt geben versus Einengung, Förderung der Selbstdisziplin versus gnadenloser Disziplinforderungen, wenige feste Regeln anstelle eines Korsetts an Verboten, logische Konsequenzen statt Strafen“ (Eschner 2017: 302).
Dieses nunmehr kindzentrierte Erziehungsverständnis soll im Hinblick auf die Erörterung der eingangs erläuterten Fragestellung hier fokussiert werden. Die Herausforderungen einer derartigen Auffassung von ‚Erziehung‘ erläutert Weyers (vgl. 2014: 259) in Bezug auf die Paradoxie einer Verbindung der Begrifflichkeiten ‚Demokratie‘ und ‚Erziehung‘, da Demokratie Gleichheit und Autonomie verlangt, Erziehung hingegen entspringt einer Ungleichheit, somit „unterstellt [das Konzept der demokratischen Erziehung] den Educanden Unmündigkeit und Autonomie zugleich: Unmündigkeit, denn sonst müssten sie nicht erzogen werden; Autonomie, denn sonst könnten sie nicht an Demokratie teilhaben [Hervorhebung im Original].“ (Weyers 2014: 260)
Somit muss auch im Rahmen der folgenden Ausführungen bedacht werden, dass gesellschaftlich anerkannte und geprägte Erziehungsverständnisse sich fortwährend wandeln und Ambivalenzen aller Perspektiven hinsichtlich der Ziele, Stile, Zwecke von Erziehung ebenfalls in sich zu reflektieren sind. Somit kann es aus pädagogischer Sicht nicht ‚den‘ Erziehungsgedanken geben. Haltungen können lediglich kontextuell und aus historisch gewachsenen Zusammenhängen heraus verstanden und beleuchtet werden, was im folgenden geschehen soll. Es gilt vorerst ein historisch-rechtliches Verständnis der Jugendstrafe zu gewinnen, um die Intentionen eines im JGG implementierten Erziehungsgedankens nachvollziehen zu können. Daran anschließend gilt es, die Praxis der Jugendstrafe ins Verhältnis zum hier fokussierten demokratischen-Erziehungsverständnis zu setzen, um letztlich zusammenfassend und ausblickend ein Bild von der Effektivität und Angemessenheit der Jugendstrafe im aktuellen, postmodernen Kontext gewinnen und bewerten zu können und mögliche Alternativen anzuführen.
2. Die Jugendstrafe als Rechtsfolge im JGG – Intention und Wirklichkeit
Die Jugendstrafe stellt oft nach einer Reihe bereits erfolgter pädagogischer Maßnahmen das letzte Mittel dar, die ultima ratio, um jugendliche und ggf. heranwachsende Personen zu Veränderungen ihrer Lebensführung zu bewegen (vgl. Boxberg 2018: 279) beziehungsweise „ist nach der h.M. sogar zulässig, wenn ein erzieherischer Zweck nicht erreicht werden kann“ (Putzke und Feltes 2012: 95), denn die Jugendstrafe gilt als „echte Kriminalstrafe. Entsprechend soll bei deren Verhängung auch der Gedanke der Vergeltung eine Rolle spielen können“ (Putzke und Feltes 2012: 95). Hier wird sogleich die Diskrepanz deutlich, die aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem täterzentrierten Erziehungsgedanken und einer strafrechtlichen Zielsetzung hinsichtlich Schuldausgleich/Vergeltung/Sicherung ergibt, auch wenn, wie Putzke und Feltes (vgl. 2012: 95) erklären, die negative Generalprävention im Sinne einer auf die Bevölkerung abzielende abschreckende Wirkung nicht verfolgt werden darf. Denn ist die Jugendstrafe ist als eine im JGG etablierte Rechtsfolge innerhalb eines dreigliedrigen Rechtsfolgensystems, neben Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln (vgl. Rössner und Bannenberg 2019: 18), auf soziale Integration abzielende Sanktion und soll einen „erzieherisch orientierte[n] Freiheitsentzug“ (Rössner und Bannenberg 2019: 18) darstellen. Die Jugendstrafe kann im Rahmen des Jugendstrafrechts sowohl gegenüber jugendlichen Personen zwischen 14 und 17 Jahren (§1 Abs. 2 JGG) sowie ggf. gegenüber heranwachsenden Personen zwischen 18 und 20 Jahren (§§ 1, 105 JGG) verhangen werden1, „wenn wegen der schädlichen Neigungen des Jugendlichen [Anmerkung der Verfasserin: ggf. der heranwachsenden Person], die in der Tat hervorgetreten sind, Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen oder wenn wegen der Schwere der Schuld Strafe erforderlich ist.“ (§ 17 Abs. 2 JGG)
Die Dauer Jugendstrafe kann zwischen sechs Monaten und fünf Jahren betragen, wobei Verbrechen, die nach dem allgemeinen Strafrecht eine Freiheitsstrafe über zehn Jahre nach sich ziehen würden, eine Höchstmaß von 10 Jahren möglich ist (§ 18 Abs. JGG). Bei Mord ist bei Heranwachsenden nach § 105 Abs. 3 S. 2 seit 08.09.2012 (vgl. auch Schöch und Höffler 2019: 234) ein Höchstmaß von 15 Jahren möglich, sofern 10 Jahre aufgrund besonderer Schwere der Schuld nicht ausreichend wären. Damit ist die Jugendstrafe als eingriffsintensivste Entwicklungsintervention zu betrachten (vgl. Boxberg 2018: 279) und ist laut Schöch und Höffler (vgl. 2019: 221 f.) hinsichtlich ihrer Zielsetzung repressiv, denn sie dient in der Realität primär dem Schuldausgleich, der Vergeltung und der Sicherung, dem Schutz der Bevölkerung vor weiteren Straftaten (vgl. Schöch und Höffler 2019: 222). Das ist faktisch der Fall, auch wenn der Strafzweck der Resozialisierung hinsichtlich eines Entgegenwirkens bezüglich der so betitelten schädlichen Neigungen, welche im Zuge der Straftat deutlich wurden (Schöch und Höffler 2019: 226), ausdrücklich als Ziel im JGG benannt ist: „Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken“ (§ 2 Abs. 1 Satz 1 JGG). Zudem erklärt das Bundesverfassungsgericht, dass „Zwischen dem Integrationsziel des Vollzugs und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, […] insoweit kein Gegensatz“ (Urteil vom 31. 5. 2006 – 2 BvR 1673/04 – Rn. 512 ) bestehe. Ein Spannungsverhältnis ist laut Schöch und Höffler (vgl. 2019: 223 f.) jedoch nicht zu negieren und auch Galli (vgl. 2018: 52) betont, grundsätzlich stehe das Strafrecht vor der Herausforderungen Interessen vieler Beteiligter beachten und abwägen zu müssen. Auf der Ebene der Rechtswirklichkeit klaffen die Zielsetzungen der Sicherung und der Resozialisierung auseinander, da beispielsweise Lockerungen und offener Vollzug im Sinne eines Weges hin zur Legal- und Sozialbewährung und somit als Weg zur Resozialisierung als Sicherheitsrisiko ausgelegt werden (Graebsch 2018: 694). Zudem ist grundsätzlich Skepsis bezüglich der Möglichkeiten eines erzieherischen Einwirkens durch/im Jugendstrafvollzug im wissenschaftlichen Diskurs verbreitet (vgl. u.a. Schöch und Höffler 2019: 223; Papendorf 2018: 790 f.). Hier wird durch das Aufeinanderprallen von Strafzielen die aus historischen Entwicklungen gewachsene Kluft deutlich, welche – wie zu vermuten ist – im Zuge eines Paradigmenwechsels nicht geschlossen werden konnte und die hinsichtlich mehrerer Ebenen auf der Unbestimmtheit von Begrifflichkeiten (Erziehung, schädliche Neigungen,…) und entgegengesetzten Haltungen und Intentionen zu basieren scheint. So konstatiert Breymann:
„Ältere Literatur benennt den Erziehungsauftrag des JGG klar als „Erziehung durch Strafe“. Im Verlaufe der Reform der Jugendstrafrechts durch die Praxis setzte sich in der Reformbewegung ein anderes Paradigma durch: ‚Erziehung statt Strafe‘ und/oder konkreter: ‚Hilfe zur Befähigung‘. Dieser Perspektivenwechsel, der noch das 1. JGG-Änderungsgesetz von 1990 bestimmt hatte, hat sich keineswegs durchgesetzt.“ (Breymann 2012: 43)
Somit ist ‚Erziehung durch Strafe‘ nach wie vor im (Sub-)Text bzw. aus dem Vokabular und dem Sanktionsrepertoire des JGGs (heraus-)lesbar. Cornel (vgl. 2011: 469) geht noch einen Schritt weiter und stellt fest, dass – da sich Erziehung statt Strafe nicht etablieren konnte – das im JGG vorherrschende Erziehungsverständnis mit dem des ausgehenden 19. Jahrhunderts vergleichbar sei. In Kapitel 3 soll in Anlehnung an diese These die Jugendstrafe im Kontext eines demokratischen Erziehungsverständnisses näher ausgeführt werden. Zunächst wird vorerst, abseits (sozial-)pädagogischer Einordnungen, die Kohärenz und Effektivität der Jugendstrafe bezüglich des strafrechtlichen Ziels der Resozialisierung untersucht.
3. Sozial- und Legalbewährung als justizielles Ziel der Jugendstrafe
Boxberg (vgl. 2018: 126 f.) zufolge sind drei Begriffe hinsichtlich der Zeit nach einer Haftentlassung von Bedeutung: Resozialisierung, Re-Integration und Sozialbewährung: Resozialisierung bezieht sich auf die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe, die wiederum einem zukünftig straffreien Lebenslauf dienen soll (vgl. Boxberg 2018: 126). Die Resozialisierung bezieht sich somit auf die Unterstützungen einer gesellschaftlichen Re-Integration, wohingegen die Sozialbewährung sich auf „Marker“ (Boxberg 2018: 126) bezieht, auf Momentaufnahmen – beispielsweise bezogen auf die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben3 – die Straffreiheit vermuten lassen (Boxberg 2018: 126). Nun betont Graebsch, „die gesetzlich vorgesehenen Ziele des Strafvollzugs dürfen nicht über das der Legalbewährung hinausgehen“ (2018: 695) und aus juristischer Sicht dürften im Jugendstrafvollzug keine „überschießenden Erziehungsziele“ (Graebsch 2018: 695), die über das Ziel der Vermeidung zukünftiger Straffälligkeit – messbar in Form der Registrierung der solchen – hinausgehen, als Rechtfertigung für Rechtseingriffe gegenüber Insassen implementiert sein, wie es beispielsweise hinsichtlich einiger Vorgaben des JVollzGB IV Ba-Wü der Fall ist4 (vgl. Graebsch 2018: 695). „Ein auch noch so wünschenswertes Erziehungsziel, das nichts mit dem Ziel der Legalbewährung zu tun hat, darf der Staat mit Zwangsmitteln nicht zu erreichen suchen“ (Graebsch 2018: 695). Doch darüber hinausgehende Zielsetzungen hinsichtlich der Reintegration und Resozialisierung bei fakultativer Eröffnung statt strikter Verpflichtung bezüglich Fördermöglichkeiten erachtet Graebsch (vgl. 2018: 696 f.) durchaus im Kontext des sozialstaatlichen Prinzips als nötig, wobei wiederum bedacht werden sollte, dass eine „Abkehr von delinquenten [sic!] Verhalten und delinquenten Lebensweisen (Desistance) […] ein Prozess [ist], der als Legalbewährung im Hellfeld sichtbar werden kann“ (Boxberg 2018: 126)5. Dass diese (in-)direkten und schwer messbaren Ziele durch/im Jugendstrafvollzug schwer umzusetzen sind, zeigen u.a. Boxbergs (2018) Untersuchungen bezüglich Entwicklungsfolgen der Jugendstrafe: Laut Boxberg (vgl. 2018: 297 f.) ist der Sozialbewährungsindex abhängig von der jeweiligen Belastung vor der Haft, nicht jedoch werden die durch diesen Index erfassten Bereiche wie Zivilalltag, nahe Beziehungen, Arbeit und Ausbildung sowie Substanzkonsum von der Dauer der Haft und/oder von der Teilnahme an einem oder mehreren Behandlungsangebot(en) beeinflusst. Boxberg (vgl. 2018: 298) macht allerdings auch darauf aufmerksam, dass die Teilnahme an Behandlungsangeboten ggf. die Gefangenen bezügliches des Index‘ an einander angleicht. Zwar erscheinen schulische und berufliche (Weiter-)Bildungsmaßnamen grundsätzlich sinnvoll hinsichtlich der weiteren Lebensgestaltung nach vollzogener Haftstrafe, doch die innerhalb des Strafvollzugs „im Wege eines negativen Sozialisationsprozesses […] gleichzeitig vermittelten entsozialisierenden Überlebenstechniken entwerten wiederum die möglicherweise durch die Maßnahmen vermittelten Positiva“ (Papendorf 2018: 791). So ist es nicht verwunderlich, dass die meisten aus der Haft entlassenen Personen, die an der Untersuchung von Boxberg (2018) teilgenommen haben, „in den ersten zwei Jahren erneut mindestens ein Delikt [begehen], auf das eine Verurteilung folgt“ (Boxberg 2018: 273). Boxberg (vgl. 2018: 299) zufolge sind die Ergebnisse der Studie mit anderen Untersuchungsergebnissen vergleichbar, wonach die meisten Inhaftierten erneut straffällig werden und somit eine Legalbewährung (zumindest sofern sich auf die Registrierung straffälligen Verhaltens im Allgemeinen bezogen wird) nicht festzustellen ist. So weisen im Vergleich zu anderen, milderen strafrechtlichen Sanktionsformen die Jugendstrafe und der Jugendarrest mit 64% die höchste Rückfallrate auf (vgl. Jehle 2016: 15).
[...]
1 §§ 1, 105 JGG erläutern die Voraussetzung zur Gültigkeit des Jugendstrafrechts für Heranwachsende: Demnach muss eine Jugendverfehlung vorliegen oder die heranwachsende Person ist in der Entwicklung bzw. Beurteilung ihrer Gesamtpersönlichkeit einer jugendlichen Person gleichzustellen. Unabhängig vom beschriebenen persönlichen Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts, muss hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs eine Straftat vorliegen, welche im allgemeinen Strafgesetzbuch erfasst ist (vgl. Rössner und Bannenberg 2019: 17).
2 Ausführliche Informationen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts online verfügbar unter: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/05/rs20060531_2bvr167304.html
3 Nach Havighurst (vgl. 1956: 215) müssen Menschen innerhalb ihrer Entwicklung innerhalb bestimmter Zeitspannen Aufgaben bewältigen. Ein Scheitern zieht negative Bewertungen und Gefühle nach sich zieht. Entwicklungsaufgaben entspringen drei Quellen: „ (1) physical maturation, (2) cultural pressure (the expectation of society), and (3) individual aspiration or values“ (Havighurst 1956: 215).
4 Graebsch (vgl. 2018: 695) bezieht sich hierbei auf die Vorgabe von § 2 Abs. 2 JVollzGB IV Ba-Wü, die sich gegen die Religionsfreiheit richtet sowie auf § 54 Abs. 3 JVollzGB IV Ba-Wü, wonach die Verwendung elektronischer Unterhaltungsmedien durch die Aufsichtsbehörde beschränkt werden kann und auf § 18 Nr. 2 und § 21 Abs. 2 Nr. 2 JVollzGB IV Ba-Wü bezüglich Kontaktbeschränkungen gegenüber Personen, die das Erreichen des Erziehungsauftrags oder die Eingliederung behindern würden.
5 Desistance als Abkehr von delinquentem Verhalten stellt einen „Nichtzustand“ (Boxberg 2018: 132, Hervorhebung im Original) dar und es ist nicht einheitlich definiert, wie lange eine Nicht-Rückfälligkeit anhalten muss oder wie Rückschritte zu bewerten sind (vgl. Boxberg 2018: 132).