Wie effektiv sind neuere Methoden zur Behandlung von ADHS? Neurofeedback, transkranielle Gleichstromstimulation und Weißes Rauschen
Zusammenfassung
Zunächst wird auf die Hintergründe, sowohl auf psychologischer als auch auf physiologischer Ebene eingegangen und anschließend mögliche Behandlungsmethoden dargelegt. Dabei werden neben den klassischen Methoden (Verhaltenstherapie beziehungsweise Medikation) auch drei ausgewählte alternative Behandlungsmöglichkeiten erklärt, die anschließend durch Reviews aktueller Studien genauer beleuchtet werden.
Diese alternativen Ansätze belaufen sich im Einzelnen auf die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), das Neurofeedback und das Weiße Rauschen. Somit ist das Ziel dieser Arbeit, bereits vorhandene alternative Behandlungsansätze genauer zu untersuchen und in einem abschließenden Fazit die Frage zu erörtern, wie sinnvoll diese sind und ob sie tatsächlich eine ernstzunehmende Alternative zur Behandlung mit Ritalin darstellen.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer Hintergrund
2.1. Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
2.1.1. Diagnostik und Klassifikation
2.1.2. Verbreitung und Verlauf
2.1.3. Begleitende und Folgeerkrankungen
2.1.4. Ursachen und Risikofaktoren
2.1.5. ADHS in der Schule
2.2. Interventionsforschung
2.2.1. Medikation
2.2.2. Verhaltenstherapie
2.2.3. Neurofeedback
2.2.4. Transkranielle Gleichstromstimulation
2.2.5. Weißes Rauschen
3 Review
3.1. Neurofeedback
3.1.1. Neurofeedback Treatment for ADHD in Children: A Comparison With Methylphenidate
3.1.2. The Effect of Neurofeedback Therapy on Reducing Symptoms Associated with ADHD: A Case Series Study
3.1.3. Self-reported efficacy of neurofeedback treatment in a clinical randomized controlled study of ADHD children and adolescents
3.1.4. Neurofeedback and standard pharmacological intervention in ADHD: A randomized controlled trial with six-month follow-up
3.2. Transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS)
3.2.1. Spreading effect of tDCS in individuals with ADHD as shown by functional cortical networks: a randomized, double-blind, sham-controlled trial
3.2.2. Effect of Anodal an Cathodal tDCS on DLPFC on Modulation of Inhibitory Control in ADHD
3.2.3. tDCS Modulates Neuronal Networks in ADHD
3.2.4. tDCS improves clinical symptoms in adolescents with ADHD
3.3. Weißes Rauschen
3.3.1. Differences in Speech Recognition Between Children with Attention Deficits and Typically Developed Children Disappear When Exposed to 65 dB of Auditory Noise
3.3.2. Listen to the noise: noise is beneficial for cognitive performance in ADHD
3.3.3. Comparing Auditory Noise Treatment with Stimulant Medication on Cognitive Task Performance in Children with ADHD: Results from a Pilot Study
3.3.4. Neuropsychological and neurophysiological benefits from white noise in Children with and without ADHS
4 Diskussion
5 Literaturverzeichnis
I Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ergebnisse der KiGGS Studie
Abbildung 2: Auftreten von Komorbiditäten bei Kindern mit ADHS in der MTA-Studie
Abbildung 3: Erwerb von Methylphenidat durch Apotheken in Form von Fertigarzneimitteln im Zeitraum von 1993 bis 2014
1 Einleitung
Das Thema der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gewinnt zunehmend an Beachtung und wird besonders im pädagogischen Kontext immer weiter in den Vordergrund gerückt. Auch im Lehramtsstudium ist dies der Fall, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann: In Bezug auf das Unterrichten in der Schule hört man in kürzer werdenden Abständen von Kollegen1, die mit einer größeren Anzahl an Inklusionskindern, respektive Kindern mit ADHS, zu tun haben. Ein Arztreport der Barmer GEK spiegelt wider, dass die ADHS-Diagnosen von 2006 bis 2011 von etwa 437.000 auf 750.000 pro Jahr gestiegen seien. Zwar liegen diesen Ergebnissen lediglich die Daten dieser Krankenkasse zu Grunde, dennoch ist das Ergebnis besorgniserregend und sollte Grund zum Anlass sein, das Zustandekommen dieser genauer zu untersuchen. Die Ursachen, Symptome und Typen einer ADHS sind dabei weitestgehend gut erforscht und beschrieben. Auch in Bezug auf die Behandlung begegnet dem Leser immer wieder der Name Ritalin® und ist ein zentraler Punkt bei der Diskussion um ADHS und deren Behandlung. Ebenso bekannt und durch zahlreiche Studien beschrieben ist der Umstand, dass mit der Behandlung durch Ritalin® oftmals starke Nebenwirkungen einhergehen und dass viele Patienten nicht auf das Medikament ansprechen (sog. Non-Responder). Da das Wohl des Patienten an erster Stelle steht, wird durch alternative Behandlungsmethoden versucht, ähnlich gute oder sogar bessere Ergebnisse zu erreichen als durch das in Ritalin® befindliche Methylphenidat. Gerade aus der pädagogischen Perspektive kann ich nachvollziehen, dass die höchste Priorität der Eltern darin besteht, dass ihr betroffenes Kind ein normales Leben führt. Ein Medikament, das immens in den Hormonhaushalt des Gehirns eingreift, sollte daher die letzte Wahl sein. Nicht zuletzt aus dieser Sichtweise gewinnen Methoden zunehmend an Ansehen, die nichtinvasiv sind und den Patienten somit so wenig wie möglich belasten.
Nach der intensiven Auseinandersetzung mit dem theoretischen Hintergrund einer ADHS und deren klassischen Behandlungsmethoden im Studium hielt ich es für sinnvoll, mich auch über andere Sichtweisen und Möglichkeiten zu informieren, mit denen die Symptome bekämpft werden können. Daraus entstand schließlich der Impuls, die im Rahmen des Ersten Staatsexamen anzufertigende Wissenschaftliche Hausarbeit diesem Thema zu widmen.
Zunächst werde ich nun die bereits erwähnten Hintergründe, sowohl auf psychologischer, als auch auf physiologischer Ebene darlegen und anschließend auf mögliche Behandlungsmethoden eingehen. Dabei werden neben den klassischen Methoden (Verhaltenstherapie bzw. Medikation) auch drei ausgewählte alternative Behandlungsmöglichkeiten erklärt, die anschließend durch Reviews aktueller Studien genauer beleuchtet werden. Diese alternativen Ansätze belaufen sich im Einzelnen auf die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), das Neurofeedback und das Weiße Rauschen. Somit ist das Ziel dieser Arbeit, bereits vorhandene alternative Behandlungsansätze genauer zu untersuchen und in einem abschließenden Fazit die Frage zu erörtern, wie sinnvoll diese sind und ob sie tatsächlich eine ernstzunehmende Alternative zur Behandlung mit Ritalin® darstellen.
2 Theoretischer Hintergrund
Um sich der Fragestellung zu nähern, werden im folgenden Kapitel zunächst die fachlichen Zusammenhänge dargelegt und erläutert. Zuerst wird die ADHS genauer beschrieben. Anschließend wird auf die Interventionsforschung eingegangen, die den Übergang zum Review der bereits erwähnten Behandlungsmethoden ergibt.
2.1 Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
Das Krankheitsbild der ADHS ist nicht neu - somit dürfte es auch nicht auf unsere heutige Gesellschaft zurückzuführen sein. Tatsächlich erzählte der deutsche Psychiater und Kinderbuchautor Dr. Heinrich Hoffmann bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Geschichten über den Zappel-Philipp oder den Hanns Guck-in-die-Luft in seinem Werk „Struwwelpeter“. Bei diesen beiden Fällen kann von unterschiedlichen Ausprägungen der ADHS ausgegangen werden. So zeige der Zappel-Philipp eine Aufmerksamkeitsstörung mit Hyperaktivität, während bei Hanns Guck-in-die-Luft eher von einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität ausgegangen werden könne, die durch Träumereien geprägt sei (Seidler, 2004). Hoffmann jedoch beschrieb kein Syndrom, auch wenn im Volksmund heute vom Zappelphilipp-Syndrom gesprochen wird, wenn es um eine ADHS geht. Eine der ersten Nennungen in diesem Zusammenhang geht auf den deutschen Psychiater und Neurologen Franz Kramer zurück, der gemeinsam mit seinem Assistenzarzt Hans Pollnow eine empirische Arbeit „Über eine hyperkinetische Erkrankung des Kindesalters“ publizierte (Kramer & Pollnow, 1932). Das später nach ihnen benannte Kramer-Pollnow-Syndrom findet man heute vor allem im deutschen Sprachgebrauch als „Hyperkinetische Störung“ (HKS) noch recht häufig. Im Laufe der Zeit war die Störung zudem noch unter anderen Namen zu finden: Besonders in den 1960ern und 1970ern war häufig die Rede von der „Minimale Cerebrale Dysfunktion“ (MCD). Diese beschreibt eine geringfügige Funktionsstörung des Zentralnervensystems (ZNS) im Kleinkindes- und Kindesalter (Wenninger, 2000). In der durch die „World Health Organisation“ (WHO) veröffentlichten neunten Auflage (1978) der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) wurde schließlich der Begriff des „hyperkinetischen Syndroms des Kindesalters mit Störungen von Aufmerksamkeit und Konzentration“ eingeführt. Das Krankheitsbild wird ebenso ab der dritten Auflage (1980) des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) der „American Psychiatric Association“ (APA) unter „Attention Deficit Disorder“ (ADD, bzw. in Kombination mit Hyperaktivität ADD-H) gelistet. In der 1987 revidierten Version des DSM-III wurde die Unterteilung in ADD und ADD-H aufgehoben und unter dem neuen Begriff „Attention Deficit/Hyperactivity Disorder“ (ADHD ≙ ADHS) mit der Begründung zusammengefasst, dass Aufmerksamkeitsstörungen in der Regel mit Hyperaktivität vergesellschaftet seien (Krause & Krause, 2014). Wenn man heute von ADHS spricht, ist damit meist eine verminderte Fähigkeit zur Selbststeuerung bei Kindern und Jugendlichen gemeint, wobei Störungen in den drei Bereichen
- Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen
- Ausgeprägte körperliche Unruhe und starker Bewegungsdrang (Hyperaktivität)
- Impulsives und unüberlegtes Verhalten unterschieden werden (BZgA, 2013). Die genannten Defizite können in verschiedenen Lebensbereichen in ihrer Stärke variieren2, zumeist sind sie jedoch in Situationen stärker ausgeprägt, die ein größeres Maß an Aufmerksamkeit und Ausdauer erfordern - wie zum Beispiel in der Schule oder bei Hausaufgaben (Döpfner, Banaschewski & Sonuga-Barke, 2008).
2.1.1 Diagnostik und Klassifikation
Bezogen auf die Diagnosestellung einer ADHS kann man grundsätzlich von zwei unterschiedlichen Klassifikationssystemen ausgehen. Es können auf der einen Seite das ICD der WHO und auf der anderen Seite das DSM der APA (vgl. Reuter, 2009) herangezogen werden. In der Literatur wird aktuell meist auf die Versionen ICD-10 und DSM-IV Bezug genommen, auch wenn von beiden Systemen bereits aktuellere Versionen verfügbar sind. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass ich zu einem späteren Zeitpunkt in meiner Hausarbeit auf die aktuellsten Versionen eingehen werde (vgl. 2.1.1.3).
Mit Hilfe dieser beiden Systeme kann man gegebenenfalls die auftretenden Symptome einem bereits vorhandenen Krankheitsbild zuordnen und so einen einheitlichen Überblick geben. Es müsse aber beachtet werden, dass es nur um eine Beschreibung der Symptome, nicht aber um eine ursächliche Erklärung dieser geht. Die Erfassung von psychischen, körperlichen und sozialen Bedingungen erfolgt darüber hinaus und wird als multiaxiale Diagnostik 3 bezeichnet (vgl. ebd.).
2.1.1.1 Klassifikation nach ICD-10
Für die Diagnosestellung nach ICD-10 gelten das simultane Auftreten von drei Kernsymptomen als Grundlage der Diagnose einer hyperkinetischen Störung. Diese drei sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität und werden häufig als Symptomtrias bezeichnet. Je nach Ausprägung der Kernsymptome kann man zwischen verschiedenen Abstufungen einer ADHS mittels der ICD-10 unterscheiden:
- Einer einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90.0, Mischtypus),
- Einer hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (F90.1, vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typus)
- Sonstigen hyperkinetischen Störungen (F90.8),
- Einer nicht näher bezeichneten hyperkinetischen Störung (F90.9) (vgl. Krowatschek & Wingert, 2013)4.
Bezogen auf dieses System kann die Diagnose eines ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) nicht vergeben werden, wobei in diesen Fällen auf die Kategorie F98.8 (Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend) verwiesen wird, unter der auch Aufmerksamkeitsstörungen ohne das Auftreten von Hyperaktivität gelistet sind. Die Kategorie F.90.1 ist eine Kombinationsdiagnose, da hier sowohl Probleme im sozialen Kontext, als auch die hyperkinetische Störung an sich auftreten. Es fällt auf, dass diese Störung besonders häufig diagnostiziert wird, wobei nicht klar ist, ob eine ADHS unweigerlich zu einer Störung des Sozialverhaltens führt oder dies auf eine Wechselwirkung der Betroffenen mit dem sozialen Umfelde zurückzuführen ist (vgl. Ettrich & Ettrich, 2006).
2.1.1.2 Klassifikation nach DSM-IV
Zwar ist das DSM-5 bereits seit 2013 veröffentlicht, doch werden die meisten Diagnosen noch immer anhand der DSM-IV gestellt, was auch die im Review behandelten Studien gezeigt haben. Laut des DSM-IV Klassifikationssystems wird die Störung als Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung bezeichnet und in drei Subtypen unterteilt:
- Zuerst den Mischtyp, bei dem eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung sowohl mit Aufmerksamkeitsstörungen, als auch Hyperaktivität/Impulsivität vorliegt,
- Den vorwiegend unaufmerksamen Typ, bei dem die Hyperaktivität/Impulsivität nicht oder nur wenig ausgeprägt ist,
- Den vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typ, bei dem eher die Hyperaktivität und weniger die Aufmerksamkeitsstörung im Vordergrund steht (vgl. Geißler, 2008).
In der Forschung hat sich international die Klassifikation nach DSM-IV für die Diagnosestellung durchgesetzt (vgl. Staufenberg, 2011). Zusätzlich zu den bereits aufgeführten Symptomen müssen weitere Kriterien erfüllt sein, um die Diagnose vergeben zu können, wie durch folgendes Zitat deutlich wird:
„Neben den Verhaltensweisen aus den Bereichen Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität gibt es weitere Kriterien, die erfüllt sein müssen, um die Diagnose ADHS vergeben zu können. Als AD(H)S wird eine Störung nur dann bezeichnet, wenn die Symptomatik
- Vor dem siebten Lebensjahr aufgetreten ist
- Länger als sechs Monate besteht
- Situationsübergreifend existiert,
- Deutliches Leiden verursacht oder eine Beeinträchtigung der sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionen darstellt und
- Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung oder eine andere psychische Störung als Ursache für das Problemverhalten ausgeschlossen werden [kann]“ (Krowatschek & Wingert, 2013, S. 28).
Sowohl das DMS-IV als auch das ICD-10 werden vornehmlich zur Diagnosestellung bei Kindern im Alter von 6-16 herangezogen, da die aufgelisteten Verhaltensweisen eine Diagnose bei Kleinkindern5 und Erwachsenen nicht zulassen (vgl. ebd.). Eine eigene Liste steht für diese beiden Gruppen noch nicht zur Verfügung. Meist werden jedoch die Klassifikationskataloge in leicht veränderter Form auch zur Diagnose von Erwachsenen eingesetzt. Teilweise wurden Schätzskalen entwickelt, mit denen sich den Diagnosesystemen angenähert werden kann. So müssen im Erwachsenenalter beispielsweise zwei der Wender-Utah Kriterien6 erfüllt sein.
2.1.1.3 Aktuellste Klassifikation
Das Klassifikationssystem des ICD-10 wird mit seiner gültigen Version aus 2016 verwendet. Für Mai 2018 ist die Veröffentlichung des ICD-11 geplant. Aktuell ist online eine Beta-Version7 einsehbar, bei der ADHS unter Neurodevelopmental disorders – Attention deficit hyperactivity disorder (6A06) gelistet ist und zwischen fünf Diagnosen unterschieden wird:
- Dem vorrangig unaufmerksamen Typ (6A06.0)
- Dem vorrangig hyperaktiven Typ (6A06.1)
- ADHS als Kombination der beiden zuvor genannten Typen (6A06.2)
- „Attention deficit hyperactivity disorder, other specified presentation” (6A06.Y)
- “Attention deficit hyperactivity disorder, presentation unspecified” (6A06.Z)
Für die beiden letzten Punkte liegt noch keine8 differenzierte Beschreibung vor. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass sich das ICD-11 an den DSM-5 Kriterien orientiert, bei denen ebenfalls von einem unaufmerksamen und einem hyperaktiven Typ ausgegangen wird. Dies ist zunächst nicht neu. Im Vergleich zu DSM-IV hat sich allerdings geändert, dass ADHS nun zu den „Neurodevelopmental Disorders“ zählt. Auch die Zahl der für eine ADHS-Diagnose notwendigen Symptome wurde für Betroffene ab 17 Jahren (somit auch für Erwachsene) in den Bereichen Aufmerksamkeitsprobleme und Hyperaktivität von sechs auf fünf reduziert. Das Alterskriterium für das erstmalige Auftreten von ADHS-Symptomen wurde zudem von sieben auf 12 angehoben, da sich insbesondere bei Mädchen eine ADHS oftmals erst nach dem siebten Lebensjahr manifestiert. Zusammenfassend kann man sagen, dass die genannten Veränderungen dazu führen, dass die Diagnose einer ADHS mit DSM-5 einfacher geworden ist als noch mit DMS-IV.
2.1.2 Verbreitung und Verlauf
ADHS zählt zu den am häufigsten diagnostizierten Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter und hat weitreichende Auswirkungen, die die Betroffenen besonders stark im sozialen, kognitiven und emotionalen Bereich beeinflussen (vgl. Krowatschek & Wingert, 2013). Zu den Prävalenzraten der ADHS habe ich im Folgenden einige Zitate zusammengetragen: „Eine Meta-Analyse aller verfügbaren internationalen Studien im Kindes- und Jugendalter über mehrere Jahrzehnte mit unterschiedlichsten Kriterien kommt zu einer weltweiten mittleren Prävalenzrate von 5,3%“ (Steinhausen et al. 2010, S.31). „In Deutschland liegt die Prävalenzrate von ADHS bei 7-11-jährigen Schulkindern bei 7,2%“ (Lauth, 1997). Abhängig von dem zugrunde gelegten Klassifikationssystem (DSM-IV-TR bzw. ICD-10), weisen die Prävalenzraten allerdings starke Schwankungen auf und befinden sich im Bereich von 1,6-26%.
Die Prävalenzraten wurden maßgeblich durch die Studie des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) bestimmt. Im Zeitraum von Mai 2003 bis Mai 2006 wurden bundesweit Umfragen mit in Deutschland lebenden Kindern durchgeführt, um repräsentative Daten zum Gesundheitszustand zu erheben. Insgesamt erhielten 7569 Jungen und 7267 Mädchen im Alter von 3-17 Jahren einen schriftlichen Fragebogen, der eine ADHS Diagnosefrage und den Strenghts and Difficulties Questionnaire (SDQ) enthielt. Zusätzlich erfolgten Verhaltensbeobachtungen von 7919 Kindern im Alter von 3-11 Jahren. Als ADHS Fall galt, wer von einem Arzt oder einem Psychologen die Diagnose erhielt, als Verdachtsfall wurden jene gewertet, die auf der Unaufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsskala des SDQ einen Wert von 7 oder höher erreichten.
Die KiGGS-Studie fand heraus, dass 4,8% der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen eine ärztliche oder von einem Psychologen diagnostizierte ADHS aufwiesen, wonach insgesamt 7,9% aller Jungen und 1,8% aller Mädchen betroffen waren und Jungen somit viermal häufiger als Mädchen (vgl. Döpfner, Banaschewski & Sonuga-Barke, 2014). Die folgende Abbildung stellt die Ergebnisse der KiGGS-Studie in Abhängigkeit des Alters dar (vgl. Schlack et al. 2007)9:
Abbildung 1: Ergebnisse der KiGGS Studie
Zu den bereits erwähnten 4,8 %, die die Diagnose erhielten, musste bei weiteren 4,9 % von Verdachtsfällen ausgegangen werden. Besonders auffällig war die Anzahl von Fällen bei 11-17-jährigen Jungen, von denen etwa jeder zehnte die Diagnose erhielt. Zählte man die Verdachtsfälle hinzu, bewegten sich die Ergebnisse der KiGGS-Studie etwa im Mittel der bereits erwähnten 1,7-26%. In den Ergebnissen wurde ebenso beschrieben, dass die Symptome im Kindesalter am stärksten ausgeprägt seien. Im Jugendalter ließen die Symptome, besonders im Bereich der Hyperaktivität, nach, die eigentliche Störung bleibe aber meist (60-85%) bestehen.
Auch im Erwachsenenalter sind Probleme weiter vorhanden. Nach Biedermann et al. (2006) lassen sich noch bei etwa 40% der Betroffenen ADHS Symptome erkennen. Diese werden somit als recht stabil eingestuft, was bedeutet, dass sich ADHS mit dem Erwachsenenalter nicht auswächst (vgl. Döpfner, Banaschewski & Sonuga-Barke, 2008). Wie bereits erwähnt, tritt die Symptomatik in verschiedenen Lebensbereichen in unterschiedlicher Ausprägung auf, wobei die jeweiligen situativen Anforderungen für die Schwere der Symptomatik ausschlaggebend sind.
2.1.3 Begleitende und Folgeerkrankungen
Begleitende Erkrankungen, sogenannte Komorbiditäten, können beim Bestehen einer ADHS auftreten. Etwa zwei Drittel der Kinder mit einer diagnostizierten ADHS weisen solche Begleiterkrankungen auf (vgl. Haubold, 2009). In 80% dieser Fälle liege eine, in 60% sogar zwei komorbide Störungen vor. Darüber hinaus zeigen 10-40% der Kinder mit ADHS Entwicklungsstörungen als zusätzliche Erkrankung, welche sich insbesondere auf die Bereiche Sprache, motorische Entwicklung und Sozialverhalten negativ auswirken können (vgl. ebd.). Döpfner (2000, zit. n. Reuter, 2009) gibt folgende komorbide Störungen als die häufigsten an, die in Verbindung mit ADHS bei Jugendlichen auftreten10:
- bis 50 % Oppositionelle Störung des Sozialverhaltens
- 30% - 50% Störung des Sozialverhaltens (ohne oppositionelle Störung)
- 20% - 25% Angststörungen
- 15% - 20% Affektive Störungen (v.a. depressive Störungen)
- 10% - 30% Tic-Störungen oder Tourette Syndrom
- 10% - 25% Lernstörungen, Teilleistungsschwächen
Die amerikanische MTA-Study (Multimodal-Treatment-Study of Children with Attention-Deficit-Disorder) hat 579 betroffene Kinder im Alter von sieben bis neun Jahren zu den Komorbiditäten bei ADHS befragt. Die Ergebnisse sind in der folgenden Grafik dargestellt (Jensen et al, 2001):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Auftreten von Komorbiditäten bei Kindern mit ADHS in der MTA-Studie.
Diese Darstellung zeigt, dass es zum Teil große Überschneidungen zwischen den einzelnen Komorbiditäten gibt bzw. diese gleichzeitig auftreten können. Ähnliche Ergebnisse hat bereits Döpfner beschrieben.
Ergänzend zu diesen Begleiterkrankungen geben Ettrich und Ettrich an, dass darüber hinaus auch Störungen in den Bereichen der Sprach- und Feinmotorik und Schlaf- und Essstörungen auftreten können. Besonders bei einer ADHS (im Vergleich zu einer ADS) treten diese Störungen vermehrt auf (vgl. Ettrich & Ettrich, 2006). Anders als von Döpfner beschrieben liegen bei 50-80% der Kinder mit ADHS Lernstörungen vor, die sich insbesondere in den Bereichen der Lese- und Rechtschreibschwäche zeigen (vgl. Krause & Krause, 2014). Zu beachten sei allerdings, dass sich dieses Auftreten zwar auf genetische Faktoren zurückführen lasse, man jedoch nicht vernachlässigen dürfe, dass das gleichzeitige Auftreten dieser Komorbiditäten auch die direkte Folge von Konzentrationsschwierigkeiten sein könne, aus denen die Lernstörungen resultieren (vgl. ebd.).
In Abhängigkeit vom Alter beschreibt Conzelmann die Komorbiditäten wie folgt:
„So zeigte sich, dass Kinder mit ADHS eine hohe Komorbidität mit externalisierenden Verhaltensstörungen, affektiven Störungen, Angststörungen, Ticstörungen, Enuresis und Lernstörungen aufweisen (Biedermann et al., 1996; Biedermann et al., 2002). Erwachsene mit ADHS zeigen eine hohe Komorbidität mit Ängsten, affektiven Störungen und Suchterkrankungen (Biedermann, Farone, Monuteaux, Bober & Cadogen, 2004; Kessler et al., 2006). Zudem verfügen diese häufig über komorbide Persönlichkeitsstörungen, insbesondere eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, histrionische, narzisstische, antisoziale und vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung (Jacob et al., 2007; T.W. Miller, Nigg & Faraone, 2007).“ (Conzelmann, 2009, S. 15)
Die Veränderungen der Begleiterkrankungen in Bezug auf das Alter werden von Reuter beschrieben:
„54-67% aller Kinder und Jugendlichen mit ADHS erfüllen ebenfalls die Kriterien zur Diagnose einer oppositionellen Verhaltensstörung (Todd & Botterin), die im Erwachsenenalter mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 44-50% in eine Störung des Sozialverhaltens übergeht (R. A. Barkley, 1990). Vermehrt kommen auch internalisierte Störungen zum wie Angststörungen, Depressionen, Dysthymie und geringes Selbstvertrauen zum Ausdruck (R. A. Barkley, 1998b)“ Reuter, 2009, S.20)
Komorbiditäten können zudem als direkte Folge einer ADHS interpretiert werden:
„Die Umwelt reagiert negativ auf Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität und das Kind wiederum zeigt entsprechende Gegenreaktionen in Form von Aggression, Trotzverhalten, Unsicherheit und Ängstlichkeit.“ (Leins, 2004, S.7)
Leins gibt an, dass man infolgedessen von einer wechselseitigen Beeinflussung von ADHS und komorbiden Störungen ausgehen könne (vgl. ebd.). Dies bedeutet allerdings auch, dass ohne das Vorliegen einer ADHS, die Symptome aus diesem Bereich andere Störungen darstellen können (vgl. ebd.). Die sogenannte Hyperfokussierung kann über die bereits dargestellten Symptome hinaus vorliegen und tritt meist im Zusammenhang mit einer Hochbegabung auf.
Neben den komorbiden Störungen sollten allerdings auch die Auswirkungen auf die Psyche im Allgemeinen betrachtet werden. Kinder, die unter ADHS leiden, sind sich oftmals dessen bewusst, dass sie anders sind bzw. anders wahrgenommen werden als gesunde Kinder ihres Alters. Sie nehmen Ablehnung, Unverständnis oder andere besondere Reaktionen der Umwelt sensibel wahr, seien diese auf das Kind selbst oder sein Störungsbild bezogen (vgl. Lauth, Naumann & Schlottke, 2009). Die Identitätsbildung wird durch diese Reaktionen und durch die Spiegelung ihres eigenen Verhalten stark beeinflusst. Daraus kann häufig resultieren, dass bei den Kindern ein negatives Bild entsteht - besonders bezogen auf den Selbstwert und das Selbstkonzept. Dies führt unter Umständen dazu, dass etwa bei einem Drittel aller betroffenen Kinder eine Depression auftritt oder diese über das normale Maß traurig sind (vgl. ebd.). Auch plötzlich auftretende Stimmungsschwankungen, die das emotionale Befinden der Kinder widerspiegeln, sind auf diese Weise ein Stück weit erklärbar (vgl. ebd.). Darüber hinaus konnte herausgefunden werden, dass bei 60% der Kinder mit ADHS im weiteren Verlauf der Krankheit aggressives Verhalten festgestellt werden kann. Eine kanadische Studie kam zu dem Ergebnis, dass zudem bei 43% der Kinder Trotzverhalten oder andere Verhaltensweisen auftreten und in 27% der Fälle sogar Ängste und Phobien entwickelt werden.
Lauth, Naumann und Schlottke (2009) gehen in Bezug auf die Kernsymptome sogar so weit, dass sie behaupten, die Aufmerksamkeitsschwäche sei das primäre Merkmal der Störung. Die sekundären Merkmale Impulsivität und Unruhe können so erklärt werden, dass sie aus der sozialen Zurückweisung in der Gesellschaft entstehen, woraus weniger Anerkennung und weniger positive Zuwendung resultieren. Dies münde in einem veränderten Verhalten, wobei Lauth, Naumann und Schlottke angeben, dass diese alternative Betrachtungsweise nur einen Denkanstoß geben solle.
2.1.4 Ursachen und Risikofaktoren
Im Laufe der Zeit und durch den immerwährenden Wandel der Erkenntnisse unterlagen auch die Theorien zur Entstehung einer ADHS verschiedenen Ansätzen. Erste Beobachtungen gehen auf den englischen Kinderarzt George F. Still zurück, der bei Kindern nach einer Hirnhautentzündung vermehrt auf unruhiges, abgelenktes und unkontrolliertes Verhalten stieß, das der heutigen ADHS Symptomatik stark ähnelte (vgl. Lauth, Naumann & Schlottke, 2009).
Als Grund für die Verhaltensänderungen vermutete er einen Hirnschlag mit anschließenden Schäden, da die Kinder zuvor ein für ihr Alter normales Verhalten gezeigt hatten. Diese These wurde allerdings widerlegt, da man später auch bei Kindern ohne vorherige Hirnhautentzündung ein ähnlich unruhiges Verhalten beobachten konnte. Resultierend aus diesen Erkenntnissen entstand das 1954 entwickelte und bereits erwähnte Konzept der „Minimale Cerebrale Dysfunktion“ (MCD) bzw. der minimalen Hirnschädigung. Erst als man feststellte, dass nicht alle Kinder mit ADHS eine solche Dysfunktion und umgekehrt auch nicht alle Kinder mit ebendieser Schädigung ADHS haben, wurde dieses Konzept ab etwa 1975 weitestgehend verworfen (vgl. ebd.).
Heutzutage werde ADHS in manchen Kreisen vermehrt als moderne Scheinkrankheit abgewertet, da es einem Sinnbild für das zunehmend hektische gesellschaftliche Leben entspräche oder in diesem Zusammenhang lediglich als eine Charakterschwäche zu sehen sei. Allerdings widerspricht dies der Auffassung Stielers (2007), der beschreibt, dass die ADHS-Symptome über alle Lebenssituationen hinweg auftreten und von dem Betroffenen auch nicht auf Ermahnung Außenstehender oder durch besondere Disziplin vermindert werden könnten, da die Ursache eine ererbte Stoffwechselstörung sei. Neben dieser Annahme existieren viele weitere und mitunter sehr populäre Erklärungsansätze:
- AD(H)S sei die Folge unseres modernen Lebens und der damit einhergehenden Informationsüberflutung
- Fernsehen und Medien erhöhen die Zahl aufmerksamkeitsgestörter Kinder
- Verschärfung durch Umweltbelastungen
- AD(H)S als Folge einer MCD
- ADHS als Ausdruck zerbrochener und chaotischer Familien (vgl. Lauth, Naumann & Schlottke, 2009)
Diese Auflistung verdeutlicht, dass die meisten Erklärungsansätze einseitig argumentieren und keine allumfassende Erklärung für das Auftreten einer ADHS liefern können. Im Folgenden werden daher moderne Ansätze vorgestellt, die sich differenzierter mit der Thematik auseinandersetzen. Diese erheben allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit, denn vor allem in der Alternativmedizin existieren diverse, der Schulmedizin abweichende Ansätze, deren Ausführung an dieser Stelle zu weit führen würde. Ergänzend dazu sollte man ebenso beachten, dass AD(H)S nicht als Krankheit, sondern als Syndrom gilt, wodurch es möglich wird, über die Symptomatik eine Diagnose zu stellen, ohne die genauen Hintergründe der Entstehung und die entsprechende Ursache zu kennen.
2.1.4.1 Schwangerschaft und Geburt
Bei der Untersuchung nach möglichen medizinisch relevanten Ursachen fiel auf, dass bei vielen Kindern mit ADHS prä-, post-, oder perinatale Komplikationen auftreten (vgl. Reuter, 2009). Früher wurde davon ausgegangen, dass es durch die Komplikationen zu Hirnschäden und dadurch zu der bereits beschriebenen MCD komme. Da man bei anschließenden Untersuchungen allerdings keine hirnorganischen Besonderheiten feststellen konnte, musste diese Vermutung verworfen werden. Bei darauffolgenden neurologischen bzw. neuropsychologischen Untersuchungen konnten allerdings Auffälligkeiten in Form sogenannter Soft Signs 11 nachgewiesen werden (vgl. Krowatschek & Wingert, 2013).
Um den Einfluss von Veränderungen während der Schwangerschaft oder der Geburt des Kindes zu überprüfen, sind lediglich Betrachtungen in der Retrospektive möglich. Daraus entsteht allerdings ein methodisches Problem, das dazu führt, dass Feststellungen in diesem Zusammenhang weniger Aussagekraft haben. (vgl. Leins, 2004). Dennoch konnte eine Reihe von Umständen aufgezeigt werden, aus denen ein erhöhtes Risiko für die spätere Entstehung einer ADHS resultiert. Darunter finden sich unter anderem Schwangerschaftskomplikationen, Frühgeburt des Kindes sowie pränatale Exposition in Form von Toxinen und Alkohol- oder Substanzmittelmissbrauch während der Schwangerschaft, Infektionen und ungünstige psychosoziale Bedingungen (vgl. Geißler, 2008; Haubold, 2009). Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer ADHS ist insbesondere bei Risikoschwangerschaften erhöht. Gleiches gilt für Kinder, die nach der vierzigsten Schwangerschaftswoche geboren werden oder bei denen Komplikationen während der Geburt auftreten, zum Beispiel durch eine Saugglocken- oder Zangengeburt oder durch einen Kaiserschnitt (vgl. Krowatschek & Wingert, 2013). Als Grund für diesen Zusammenhang wird angegeben, dass das erhöhte Stressniveau als Ausgangspunkt für die spätere ADHS gelten könne (vgl. ebd.).
„Deutlichere Zusammenhänge zeigten sich hingegen in Bezug auf Nikotinkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Auch nach statistischer Kontrolle von Faktoren wie sozioökonomischer Status, elterliche ADHS, Bildung und IQ bleibt ein signifikanter Zusammenhang erhalten.“ (Geißler, 2008, S.15)
Darüber hinaus sollen sogar virale Infektionen während der Schwangerschaft ein möglicher Auslöser einer ADHS in 10% der Fälle sein. Die Gift- bzw. Schadstoffe können bereits in der Gebärmutter wirken, die Folgen bezüglich des Verhaltens zeigen sich allerdings erst nach der Geburt (vgl. Steinhausen, 2010).
Barkley (1998) und Mick (2002) machen hingegen anderslautende Aussagen und sind der Meinung, „dass Schwangerschaft und Geburt keine zentrale kausale Rolle bei der Genese von ADHS spielen und, wenn überhaupt, nur bei einer ADHS- Subgruppe von Bedeutung sind“ (Leins, 2004, S.46). Ein Zusammenhang des Geburtsgewichts mit einer späteren ADHS konnte allerdings von Sullivan (2002) und Mick (2002) festgestellt werden. Demzufolge trete die Krankheit bei Kindern mit niedrigem Geburtsgewicht (<2500g) etwa dreimal häufiger auf als bei Normalgewichtigen. Diese Feststellung könne aber auch auf mangelnde methodische Vorgehensweisen zurückzuführen sein und wurde deswegen nicht als geltend postuliert (vgl. Geißler, 2008; Leins, 2004; Reuter, 2009).
2.1.4.2 Umweltfaktoren
Im Fokus empirischer Studien in Bezug auf Einflüsse von Umweltfaktoren standen lange toxische Substanzen. Allen voran, wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben, wurde der Einfluss von Nikotin und Alkohol, aber auch jener von Blei untersucht. Verschiedene Studien kamen zu dem Ergebnis, dass eine Exposition mit diesen Substanzen die Auftretenswahrscheinlichkeit einer ADHS erhöht (vgl. Leins, 2004; Ettrich & Ettrich, 2006). Insbesondere der Kontakt mit Blei wurde lange Zeit genauer untersucht und stand im Verdacht, maßgeblich für die Ausbildung einer ADHS verantwortlich zu sein (vgl. Steinhausen, 2010). In Studien wurden diesbezüglich gegenteilige Erkenntnisse gewonnen. Es kann nicht von ausreichenden Belegen ausgegangen werden, da auch methodische Fehler gemacht wurden. Die These, dass Blei als Hauptverantwortlicher für ADHS gilt, musste daher frühzeitig verworfen werden (vgl. Leins, 2004). Auch die Ergebnisse von Silva et al. (1998) stützten dies: Sie erhielten kein signifikantes Ergebnis, als sie den Zusammenhang von Bleikonzentration im Blut mit dem Auftreten einer ADHS verglichen (vgl. ebd.). Eine weitere mögliche Erklärung wird durch die Verbindung mit einer Streptokokkeninfektion geliefert. Hier wurde beobachtet, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit einer ADHS, einer Zwangsstörungen oder des Tourette-Syndroms nach dieser Infektion erhöht war (vgl. Steinhausen, 2010).
„Barkley (1998) stellt generell in Frage, ob Umweltfaktoren einen kausalen Einfluss auf ADHS ausüben. Er vermutet, dass diese Faktoren Moderatorvariablen darstellen, die Einfluss auf den Beginn, die Ausprägung und den zeitlichen Verlauf der ADHS-Symptome haben, nicht aber auf das Vorliegen der ADHS-Symptomatik an sich.“ (Leins, 2004, S.46)
2.1.4.3 Neurophysiologische und -anatomische Befunde
Die nun folgenden Ansätze beziehen sich auf die Veränderung der kortikalen Aktivität und Befunde der Neuroanatomie. Bei ADHS-Patienten wird in der Neurophysiologie davon ausgegangen, dass sie ein inhibitorisches Defizit besitzen, was bedeutet, dass sie Impulse schwieriger hemmen können als Gesunde (vgl Ettrich & Ettrich, 2006).
„Auf diese Weise können von Kindern Impulse schlechter kontrolliert und beschleunigte Antwortprozesse schwerer unterbrochen werden. Die funktionelle Störung wird hierbei hauptsächlich im Bereich des Frontalhirns, im limbischen System und im Striatum lokalisiert“ (ebd. S.85).
Damit gekoppelt sei eine Beeinträchtigung im Erkennen sozialer Regeln und Normen und eine Schwäche im Ausdruck eigener Gefühle (vgl. ebd.).
Kinder mit ADHS zeigten überdies Veränderungen der kortikalen Aktivität in EEG Studien (vgl. Leins, 2004). Gleiches berichten Ettrich & Ettrich (2006): in 15-40% der Fälle wurden bei ausgewerteten EEG-Daten kortikale Veränderungen, und zwar eine vermehrte frontale und eine verminderte striatale Aktivierung, festgestellt. Ebenso zeigten EEG-Untersuchungen betroffener Kinder, dass im Ruhezustand eine vermehrte Aktivität langsamer Theta-Wellen, gekoppelt mit einer vermehrten Aktivität im Alpha- und Beta-Wellenbereich, gemessen werden konnte. Hieraus könne der Schluss einer Reifungsverzögerung des Zentralnervensystems gezogen werden (vgl. Reuter, 2009).
„In EEG-Ableitungen während der Durchführung der Continuous-Performance-Task, einer anerkannten Untersuchung zur Daueraufmerksamkeit, registrierten El-Sayed, Larsson, Persson und Rydelius (2002) eine vermehrte langsame und eine verminderte schnelle kortikale Aktivität bei Kindern mit hyperkinetischen Störungen im Vergleich zu Kontrollen“ (ebd. S.27).
Bei einer weiteren Untersuchung, in der die Probanden jedoch mit Stimulanzien behandelt wurden, „ließen sich diese neurophysiologischen Defizite nicht replizieren und es wurden normale Leistungen [in der Continuous-Performance-Task] erbracht“ (ebd.).
Reduzierte Stoffwechsel im Frontalhirn und in striatalen Bereichen konnten bei Betroffenen zudem von Faraone & Biederman (1998) mit Hilfe sogenannter bildgebender Verfahren nachgewiesen werden (vgl. Leins, 2004).
Ergänzend zu den dargelegten EEG-Abweichungen konnten daran anschließende neurophysiologischen Untersuchungen weitere Abweichungen wie „niedrige Amplituden ereignisbezogener Potenziale“, „diffuse Verteilung elektrischer Hirnaktivität (EP)“ und „niedrige interkortikale Inhibition“ zeigen. Daraus wurde ein „Arousal Defizit“12 und ein „Intrakortikalen Inhibitionsdefizit“13 (Staufenberg, 2011, S.60) abgeleitet.
Mit Blick auf die Neuroanatomie konnten die bildgebenden Verfahren auch hier wichtige Erkenntnisse liefern und Veränderungen am Gehirn von ADHS-Betroffenen aufdecken.
Interessant war vor allem die Feststellung, dass ein Unterschied in der Größe und im Volumen bestimmter Hirnregionen bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen mit ADHS vorliegt (vgl. ebd.). Hierbei wurde insbesondere eine Volumenreduktion beobachtet, die bestimmte kortikale und subkortikale Bereiche betrifft, meistens aber in den folgenden Gebieten vorliegt:
- im rechten frontalen Cortex (Störungen führen unter anderem zu Schwierigkeiten bei der Handlungsplanung, verminderter Selbstkontrolle, Antriebsstörungen und Aufmerksamkeitsstörungen),
- in den Basalganglien, die an motorischen, kognitiven und limbischen Prozessen (beispielsweise Spontanität, Affekt und Antrieb) beteiligt sind,
- im Cerebellum (Kleinhirn), welches die Steuerung der Motorik (Koordination, Feinabstimmung, Erlernen von Bewegungsabläufen) übernimmt (vgl. ebd.).
Eben diese Volumenunterschiede konnten in erweiterten Studien mittels Magnetresonanztomographie in Teilen des frontalen Kortex und des Kleinhirns nachgewiesen werden (vgl. Ettrich & Ettrich, 2006). Für den Ausbruch einer ADHS stehen darüber hinaus aber auch frühkindliche Hirnschädigungen unter Verdacht (vgl. ebd.).
Um neuroanatomische Veränderungen sichtbar zu machen, stehen den Forschern verschiedene bildgebende Verfahren zur Verfügung:
- Computertomographie (CT) und Magnetresonanztomographie (MRT) zum Nachweis struktureller Veränderungen
- Single Photon Emission Tomography (SPECT), Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und heute vorrangig Funktions-Magnetresonanztomographie (fMRT), um funktionelle Veränderungen zu untersuchen (vgl. Reuter, 2009)
Ein verminderter Blutfluss im striatalen Bereich konnte mehrfach bei SPECT-Untersuchungen gefunden werden, mit denen der regionale Blutfluss sichtbar gemacht werden kann (vgl. Konrad, 2010). Die Aussagekraft dieser Untersuchungen war allerdings nicht besonders hoch, da die räumliche Auflösung dieser Methode einen limitierenden Faktor darstelle (vgl. ebd.). Die Verfahren PET und SPECT sind zudem ethisch und medizinisch vor allem bei der Anwendung an Kindern fragwürdig, da mit ihnen eine hohe radioaktive Belastung einhergeht, weshalb oftmals auf das MRT bzw. fMRT ausgewichen wird (vgl. Staufenberg, 2011).
In der Literatur wurde wiederholt eine negative Volumenänderung bei ADHS-Patienten im präfrontalen Kortex erwähnt, die erstmals von Castellanos et al. beschrieben wurde (vgl. Reuter, 2009; Haubold, 2009).
„Shaw et al. (2002) stellten mit MRT fest, dass bei Kindern mit ADHS die Reifung des Gehirns in bestimmten Arealen bis zu fünf Jahre später auftrat als bei Kontrollkindern, jedoch nach einem gleichen Muster ablief. Eine Reifungsverzögerung zeigte sich insbesondere im Bereich des lateralen präfrontalen Kortex, dem Bereich für die Kontrolle von Aufmerksamkeit und motorischer Planung. Abzugrenzen hiervon war das motorische Zentrum, welches als einzige Hirnregion bei der ADHS-Gruppe früher reifte. Somit findet sich bei Kindern mit ADHS die Kombination einer frühen Reifung des prämotorischen Kortex und späten Reifung von motorischen Kontrollregionen“ (Haubold, 2009, S.13).
Zufällig entdeckt wurde von Flippek (1997), dass es einen Zusammenhang zwischen der Größe des Frontallappens und der Wirkung von Stimulanzien gebe (vgl. Reuter, 2009). Dabei wurde beobachtet, dass die verabreichten Stimulanzen besser wirken, je kleiner der Frontallappen ist. Zusätzlich konnte eine Verkleinerung des orbitofrontalen Kortex im Zusammenhang mit veränderten Hirnarealen durch Hesslinger et al. (2002) nachgewiesen werden (vgl. ebd.). Interessant sei diese Beobachtung, da dieser Bereich für die Impulskontrolle zuständig ist und somit im direkten Zusammenhang mit einer ADHS stünde.
Insgesamt können aus diesen neuroanatomischen Befunden, also Veränderungen in den Bereichen des frontokortikalen, subkortikalen und zerebellären Neuronensystems, abgeleitet werden (vgl. Staufenberg, 2011). Wichtig anzumerken bleibt, dass die bildgebenden Verfahren - auch wenn sie den Nachweis von strukturellen und funktionellen Veränderungen ermöglichen - nicht geeignet sind, wenn es darum geht, eine sichere Diagnose zu stellen. Das Auftreten vieler dieser Veränderungen ist nicht nur bei einer ADHS, sondern auch bei anderen pathologischen Veränderungen möglich. Dieser Umstand soll allerdings nicht die Bedeutung dieser Technologien schmälern, da daraus wichtige Erkenntnisse gezogen werden können, um in Zukunft eine ADHS ganzheitlich verstehen zu können.
2.1.4.4 Neurochemische Befunde
Botenstoffe (sog. Neurotransmitter) sind für die Reizweiterleitung am synaptischen Spalt zuständig. Bei neurochemischen Untersuchungen von ADHS-Betroffenen wurde eine Dysbalance dieser Neurotransmitter nachgewiesen - eine wichtige Erkenntnis der Forschung (vgl. Ettrich & Ettrich, 2006; Krowatschek & Wingert, 2013). Normalerweise werden diese Stoffe von der synaptischen Endplatte in den synaptischen Spalt freigesetzt, um an der nachfolgenden Synapse ein Aktionspotential auszulösen. Die wichtigsten Botenstoffe sind dabei Acetylcholin, Dopamin, Serotonin und Noradrenalin, wobei in der Literatur in Bezug auf ADHS Dopamin und Noradrenalin im Fokus stehen. Die einzelnen Neurotransmitter übernehmen dabei unterschiedliche Aufgaben. Dopamin sorgt zum Beispiel für den inneren Antrieb, Motivation und Aktivierung und regelt dabei, „dass die Gehirnregionen zusammengeführt werden, die für die Kontrolle von Impulsen und motorischen Aktivitäten verantwortlich sind. Hierbei werden auf der Grundlage von Erfolg und Misserfolg Verhaltensmuster ausgebildet, die dazu führen, dass die Aufmerksamkeit auf wichtige Dinge gerichtet wird. Wenn nun ein Mangel an Dopamin besteht, bleibt das Verhalten eher unangepasst, was bedeutet, dass die Aufmerksamkeit sich vorzugsweise auf die „falschen Signale“ richtet“ (Mirhashemi, 2011, S.12).
Die Folge eines Mangels ist eine Steigerung der Unruhe. Noradrenalin hingegen ist für eine Regulation von Aufmerksamkeit, emotionalen Gedächtnisvorgängen sowie den Angst- und Stressabbau zuständig (vgl. Ettrich & Ettrich, 2006). Des Weiteren sorgt es für die „Wachheit“ des Gehirns und ist dadurch maßgeblich an der Aktivierungssteuerung der Aufmerksamkeitsleistungen beteiligt (vgl. Krause & Krause, 2005; Mirhashemi, 2011). Die Folge eines Mangels an Noradrenalin ist eine Herabsetzung der Wachheit, woraus eine fehlerhafte Aufnahme und Verarbeitung von Informationen resultiert (vgl. Lauth, Naumann & Schlottke, 2011). Diese Ergebnisse helfen bei der Erklärung, weshalb es zu einer fehlerhaften Verarbeitung von Hinweisen, Lob und Tadel bei Kindern mit ADHS kommt. Die direkte Konsequenz daraus ist ein defizitäres Nutzen dieser Informationen, woraus ein als „unangepasst“ wahrgenommenes Verhalten resultiert (vgl. Mirhashemi, 2011; Lauth, Naumann & Schlottke, 2009).
Das Hormon Serotonin ist federführend in Bezug auf die Impulskontrolle (vgl. Krause & Krause, 2005), was unter anderem auch daran erkennbar ist, dass bei Pateinten mit diagnostizierten Depressionen oder Zwangsstörungen ein Mangel an Serotonin nachgewiesen werden kann (vgl. Ettrich & Ettrich, 2006). Steinhausen et al. (2010) beschreiben bei Menschen und Tieren mit einer verringerten Serotoninausschüttung eine erhöhte Aggressivität, die gepaart mit einer reduzierten Impulskontrolle auftritt. Acetylcholin hingegen gilt als entscheidender Botenstoff für die Gedächtnisleistung.
[...]
1 Obwohl aus Gründen der Lesbarkeit im Text das generische Maskulinum gewählt wurde beziehen sich die Angaben auf Angehörige aller Geschlechter
2 Trotz der genannten Variation muss hingegen beachtet werden, dass das situationsübergreifende Auftreten ein Diagnosekriterium ist
3 Mit der multiaxialen Diagnostik wird die Betrachtung des klinisch-psychiatrischen Erscheinungsbildes, umschriebener Entwicklungsstörung, des Intelligenzniveaus, der körperlichen Symptomatik, assoziierter aktueller abnormer psychosozialer Umstände, sowie die globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus beschrieben (vgl. Haubold, 2009, S. 15).
4 „Neben diesen Subtypen sehen sowohl die ICD-10 als auch das DSM-IV eine Kategorie der „nicht näher bezeichneten hyperkinetischen Störungen“ vor. Diese Kategorie ist dann zu kodieren, wenn einzelne Kriterien nicht erfüllt werden“ (Geißler, 2008, S.5)
5 Bei Kleinkindern wird insbesondere durch die altersgemäße Aktivität eine Diagnose erschwert
6 1) Aufmerksamkeitsstörung bei fehlender Stimulation 2) Hyperaktivität 3) Affektlabilität 4) Desorganisiertes Verhalten 5) Gestörte Affektkontrolle 6) Impulsivität 7) Emotionale Überreagibilität [nach http://www.adhs-deutschland.de/Home/ADHS/Erwachsene/ADHS-im-Erwachsenenalter.aspx, zuletzt aufgerufen 23.10.2017]
7 https://icd.who.int/dev11/l-m/en
8 Stand 23.10.2017
9 Angaben auf der y-Achse in %
10 Die Prozentzahlen geben an, wie viele aller Betroffenen diese komorbide Störung aufweisen.
11 Soft Signs sind neurologische Verarbeitungsstörungen, d.h. Indikatoren diffuser Hirnfunktionsschädigungen, die aber diagnostisch nicht eindeutig zugeordnet werden können. Ihnen gegenüber stehen hard signs, zu denen lokalisierbare Schäden des Nervensystems, wie Abnormitäten von Hirnnerven, zählen (vgl. Goldhahn, 2010, S.12).
12 Energetisches Defizit frontal-parietaler Aufmerksamkeitsprozesse
13 Kortikales Regulations-Defizit