Annette von Droste-Hülshoff hat eine Vielzahl von Gedichten geschrieben und veröffentlicht, ebenso wie einige Dramen- und Prosastücke. "Die junge Mutter" erschien 1844 in der Sammlung Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof unter der Rubrik Gedichte vermischten Inhalts. Dies ist zugleich die größte Kategorie dieser Sammlung, die sich vor allem durch die auffallende Heterogenität der enthaltenen Gedichte auszeichnet. "Die junge Mutter" entstand vermutlich im Rahmen des Dichterwettstreits, auf den sich Droste-Hülshoff mit Levin Schücking laut dessen Lebenserinnerungen, auf der Meersburg im Winter 1841/42 einließ. Obwohl im Annette von Droste-Hülshoff Handbuch auf ihre Gedichtsammlungen ebenso wie viele ihrer anderen Werke eingegangen wird, findet das Gedicht "Die junge Mutter" darin keine Erwähnung und wird daher auch nicht im Werkregister aufgeführt. Auch in anderen gesammelten Interpretationen zum Werk der Autorin fehlt es, wie zum Beispiel dem Titel aus der Reclam-Bibliothek.
Obwohl es ein wohlgeformtes lyrisches Stück ist, wird es selten besprochen, vermutlich auch aufgrund der Tatsache, dass es auf den ersten Blick nicht sonderlich experimentell anmutet. Das Ziel dieser Arbeit ist eine erstmals ausführliche Analyse des bisher eher wenig bekannten Gedichtes zu bieten. Dazu gehört auch eine Interpretation, in der Handlung, Figuren und Motive behandelt werden. Das nachfolgende Kapitel enthält daher zunächst eine Analyse des Primärtextes, die teilweise gleich mit Interpretationsansätzen verknüpft wird, um den Einsatz des jeweiligen sprachlichen Mittels im Kontext zu erläutern. Die eigentliche Interpretation findet sich jedoch am Schluss des Kapitels.
Inhaltsverzeichnis
Die junge Mutter – Originaltext
1. Einleitung
2. Gedichtanalyse und Interpretation
2.1. Aufbau und Metrik
2.2. Rhythmus und rhetorische Stilmittel
2.3. Interpretation
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
4.1. Primärtext
4.2. Sekundärliteratur
4.3. Weblinks
Die junge Mutter – Originaltext
I. Im grün verhangnen duftigen Gemach, Auf weißen Kissen liegt die junge Mutter; Wie brennt die Stirn! Sie hebt das Auge schwach Zum Bauer,1 2 wo die Nachtigall das Futter Den nackten Jungen reicht: »Mein armes Tier«, So flüstert sie, »und bist du auch gefangen Gleich mir, wenn draußen Lenz und Sonne prangen, So hast du deine Kleinen doch bei dir.«
II. Den Vorhang hebt die graue Wärterin, Und legt den Finger mahnend auf die Lippen; Die Kranke dreht das schwere Auge hin, Gefällig will sie von dem Tranke nippen; Er mundet schon, und ihre bleiche Hand Faßt fester den Kristall, – o milde Labe! – »Elisabeth, was macht mein kleiner Knabe?« »Er schläft«, versetzt die Alte abgewandt.
III. Wie mag er zierlich liegen! – Kleines Ding! – Und selig lächelnd sinkt sie in die Kissen; Ob man den Schleier um die Wiege hing, Den Schleier der am Erntefest zerrissen? Man sieht es kaum, sie flickte ihn so nett, Daß alle Frauen höchlich es gepriesen, Und eine Ranke ließ sie drüber sprießen. »Was läutet man im Dom, Elisabeth?«
IV. »Madame, wir haben heut Mariatag.« So hoch im Mond? sie kann sich nicht besinnen. – Wie war es nur? – doch ihr Gehirn ist schwach, Und leise suchend zieht sie aus den Linnen Ein Häubchen, in dem Strahle kümmerlich Läßt sie den Faden in die Nadel gleiten; So ganz verborgen will sie es bereiten, Und leise, leise zieht sie Stich um Stich.
V. Da öffnet knarrend sich die Kammertür, Vorsicht'ge Schritte übern Teppich schleichen. »Ich schlafe nicht, Rainer, komm her, komm hier! Wann wird man endlich mir den Knaben reichen?« Der Gatte blickt verstohlen himmelwärts, Küßt wie ein Hauch die kleinen heißen Hände: »Geduld, Geduld, mein Liebchen, bis zum Ende! Du bist noch gar zu leidend, gutes Herz.«
VI. »Du duftest Weihrauch, Mann.« – »Ich war im Dom; Schlaf, Kind«; und wieder gleitet er von dannen. Sie aber näht, und liebliches Phantom Spielt um ihr Aug' von Auen, Blumen, Tannen. – Ach, wenn du wieder siehst die grüne Au, Siehst über einem kleinen Hügel schwanken Den Tannenzweig und Blumen drüber ranken, Dann tröste Gott dich, arme junge Frau!
1. Einleitung
Annette von Droste-Hülshoff hat eine Vielzahl von Gedichten geschrieben und veröffentlicht, ebenso wie einige Dramen- und Prosastücke. Die junge Mutter erschien 1844 in der Sammlung Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof unter der Rubrik Gedichte vermischten Inhalts. Dies ist zugleich die größte Kategorie dieser Sammlung, die sich vor allem durch die auffallende Heterogenität der enthaltenen Gedichte auszeichnet3. Die junge Mutter entstand vermutlich im Rahmen des Dichterwettstreits, auf den sich Droste-Hülshoff sich mit Levin Schücking laut dessen Lebenserinnerungen, auf der Meersburg im Winter 1841/42 einließ4. Literaturgeschichtlich ist die Epocheneinteilung Droste-Hülshoffs nicht eindeutig. Wie Gustav Frank in seinem Aufsatz bereits feststellte, machen die vielen mehr oder minder parallel existierenden Teilströmungen ab 1830 es nahezu unmöglich, ein homogenes Epochenbild zu entwerfen5. In der Forschung wird Droste gerne dem Biedermeier zugeordnet, obwohl ihre Werke auch Merkmale anderer Strömungen in sich vereint. Frank bezeichnet ihr Werk daher als ein „Schwellenphänomen“6.
Obwohl im Annette von Droste-Hülshoff Handbuch auf ihre Gedichtsammlungen ebenso wie viele ihrer anderen Werke eingegangen wird7, findet das Gedicht Die junge Mutter darin keine Erwähnung und wird daher auch nicht im Werkregister aufgeführt.8 Auch in anderen gesammelten Interpretationen zum Werk der Autorin fehlt es, wie zum Beispiel dem Titel aus der Reclam-Bibliothek9. Obwohl es ein wohlgeformtes lyrisches Stück ist, wird es selten besprochen, vermutlich auch aufgrund der Tatsache, dass es auf den ersten Blick nicht sonderlich experimentell anmutet. Im Vergleich zu Drostes anderen Gedichten wie Die Mergelgrube oder Die Vogelhütte ist Die junge Mutter metrisch relativ unaufgeregt, worauf diese Arbeit im folgenden Kapitel genauer eingehen wird. Doch auch in diesem Gedicht weicht Droste von klassischen Gedichtformen ab zugunsten einiger gattungsübergreifender Einflüsse, wie beispielsweise kurzer Dialogsequenzen. Ebenso bleibt sie ihrem Hang zur bildlichen Darstellung treu, obwohl Die junge Mutter im Titel keine eindeutig darauf verweisenden Zusätze enthält, anders als ihre Sittengemälde, Zeit - oder Heidebilder. Dennoch liest sich das Gedicht wie die Beschreibung eines Gemäldes, es ist die Schilderung eines Moments im Leben einer jungen Frau, die nur in der letzten Strophe von der Situationsbeschreibung abweicht, indem sie einer Art Voraussicht Platz macht. Das Zentrum des Gedichts bildet eine junge Frau im Wochenbett, die von der Geburt so geschwächt wurde, dass sich weder Ehemann noch Zofe trauen, ihr den Verlust des Kindes mitzuteilen und sie weiter in dem Glauben lassen, dass ihr Sohn lebt. In Verbindung mit den vermehrt auftretenden Naturbildern in den Strophen symbolisiert das Gedicht in einer ersten Interpretation einen Kreislauf des Lebens von Geburt und Tod, Neubeginn und Ende, Trauer und Hoffnung.
Das Ziel dieser Arbeit ist eine erstmals ausführliche Analyse des bisher eher wenig bekannten Gedichtes zu bieten. Dazu gehört auch eine Interpretation, in der Handlung, Figuren und Motive behandelt werden. Das nachfolgende Kapitel enthält daher zunächst eine Analyse des Primärtextes, die teilweise gleich mit Interpretationsansätzen verknüpft wird, um den Einsatz des jeweiligen sprachlichen Mittels im Kontext zu erläutern. Die eigentliche Interpretation findet sich jedoch am Schluss des Kapitels. Den Schluss der gesamten Arbeit bildet ein Resümee, das vor allem festhalten soll, ob die im vorherigen Abschnitt erläuterte erste Interpretationshyptothese nach der gründlichen Beschäftigung mit dem Text weiterhin Bestand hat.
2. Gedichtanalyse und Interpretation
2.1. Aufbau und Metrik
Das Gedicht Die junge Mutter von Droste-Hülshoff ist in insgesamt sechs Strophen mit durchgängig jeweils acht Versen gegliedert. Bei den Versen handelt es sich ausnahmslos um jambische Fünfheber, die alternierend aus zehn und elf Silben bestehen. Eine Zäsur ist in der Regel nicht in den Versen enthalten, außer ein Vers ist zweigeteilt und endet in einer direkten Rede oder einem Exclamatio, wodurch eine kurze Pause notwendig wird. Pro Strophe gibt es jeweils einen Kreuz- und einen umarmenden Reim. Die scheinbaren Waisen in Vers 25 und 27 lassen sich durch die variierende dialektale Aussprache des Wortes „-tag“ erklären, die in Drostes Fall /tax/ statt /ta:k/ lautet und sich somit doch auf /ʃvax/ reimt. Jede Strophe beginnt und endet mit einem zehnsilbigen Vers, der einen akatalektischen Versfuß mit männlicher Kadenz aufweist. Auf die Zehnsilber folgen hyperkatalektische Elfsilber mit weiblicher Kadenz, die der Strophe die Ähnlichkeit mit einer Stanze verleihen. Das Reimschema, ABABCDDC, erinnert jedoch eher an die italienische Stanzenvariante Nonarime, wobei hierfür der namengebende neunte Vers fehlt und ein Reimpaar zu viel auftritt, sodass es kein Reimelement gibt, das eine direkte Verbindung zwischen Kreuzreim und umarmenden Reim schafft. Dies würde für eine Zweiteilung einer jeden Strophe sorgen, wären nicht die verbindenden Enjambements, die stattdessen eine inhaltliche Verknüpfung schaffen. Es ist für Droste-Hülshoff wie bereits erwähnt durchaus nicht unüblich, dass sie mit Metrik experimentiert und verschiedene Schemata zusammenbringt. Allerdings behält sie in diesem Gedicht das einmal festgelegte Metrum der 1. Strophe durchgehend bei, weshalb es sehr rhythmisch und unaufgeregt wirkt. Zunächst wirkt das Gedicht als wäre es aus einer extradiegetischen Sicht mit interner Fokussierung auf die junge Frau geschildert, jedoch gibt es in Strophe V einen ersten Fokalisierungswechsel zugunsten einer Nullfokalisierung in Vers 37: „Der Gatte blickte verstohlen himmelwärts“ (V, 37). Der gleiche Wechsel lässt sich in Strophe VI erneut beobachten, als sich die Erzählstimme in Vers 45 in einer Apostrophe an die junge Frau wendet. Die narrative Instanz bleibt jedoch auf der extradiegetischen Ebene verordnet und verlässt diese nicht.
Es ist treffend, dass Die junge Mutter unter die Kategorie der Gedichte vermischten Inhalts fällt, weil es sich auch nicht eindeutig einer besonderen Form oder eines bestimmten Anlasses zuordnen lässt. Es ist weder eines ihrer Widmungsgedichte, noch kann es zur Liebeslyrik gezählt werden oder zu den Gelegenheitsdichtungen. Da es viele Naturbilder enthält, könnte man es noch am wahrscheinlichsten zu der Naturlyrik zählen, doch auch eine poetologische Interpretation ist denkbar, wie die Arbeit im Kapitel 2.3. zeigen wird.
2.2. Rhythmus und rhetorische Stilmittel
Die jambische Rhythmusstruktur ist in deutschen Gedichten sehr gängig. Die alternierend betont und unbetonten Silben erinnern an einen steten Herzschlag und unterstützen damit das Bild der jungen Frau, von der das Gedicht handelt. Auch wenn der Fokus der letzten Verse von der Gegenwart der Frau in deren Zukunft wandert, gibt es keinen Rhythmuswechsel trotz der veränderten Sprechersituation. Der Herzschlag-Rhythmus bleibt erhalten und bringt damit zum Ausdruck, dass auch das Herz der Frau gleichsam weiterschlagen wird, trotz ihres Verlustes. Die ersten beiden Verse der Strophen I, II und V bilden Enjambements, welche immer die räumliche Situation zu Beginn beschreiben. Die übrigen Strophen beginnen mit einem inneren Monolog in Strophe III oder einem Dialog in IV und VI. Generell lassen sich viele Enjambements auch in den weiteren Versen einer jeden Strophe finden und tragen zum einen zu der bereits im vorherigen Abschnitt erwähnten Verbindung zweier Reimschemata bei, aber sorgen zum anderen auch dafür, dass sich das Gedicht sehr flüssig liest. Durch die vielen Zeilensprünge, stechen besonders die Verse hervor, die eben nicht in einem solchen enden. Diese sind entweder Teil eines Dialogs aus Fragen und Antworten wie in Vers 14 und 15 oder 24 und 25, wobei letzteres Paar sogar eine Verbindung von Strophe III zur darauffolgenden bildet, oder enden in einem Exclamatio wie in Vers 14, 17 und 48. Die Exclamatio setzen, abgesehen von ihrer betonenden Funktion, zudem jedes Mal ein Zeichen für einen graduellen Stimmungswechsel. In Vers 14 wird der Ausruf genutzt, um die wiederkehrende Kraft der jungen Frau darzustellen, die in diesem Vers nun schon „[…] fester den Kristall […]“ (II, 14) fassen kann. In der darauffolgenden Strophe findet sich im ersten Vers dazu ein doppelter Exclamatio und dieser leitet in eine kurze Tagtraumsequenz über, bei dem die junge Frau an ein vergangenes Ereignis zurückdenkt. Das letzte Exclamatio in Vers 48 bildet den Schluss des gesamten Gedichtes und fungiert, anders als die vorherigen, zudem als Apostrophe, als Ausruf des Erzählers, der sich an die junge Frau richtet, obwohl diese ihn höchstwahrscheinlich nicht wahrnimmt. Es ist ein Stilmittel, das auch häufig in der Dramatik zu finden ist, doch ebenso wie die Dialogsequenzen in jeder Strophe ist es ein gutes Beispiel für Drostes Interesse an romantischen Philosophien. Die Apostrophe verdeutlicht die zuvor genannte veränderte Sprechsituation, der Erzähler hört auf, das Geschehen nur zu beschreiben und blickt in eine nahe Zukunft, die er kommentiert.
Im gesamten Gedicht finden sich Alliterationen und Anaphern, besonders häufen sich diese in Strophe II. Da die Wiederholung gleicher Buchstaben einen besonders einprägsamen und betonenden Effekt erzeugt, ergibt sich der Eindruck, dass diese Strophe eine große Wichtigkeit besitzt. So zeigt die bereits zitierte Alliteration zu Beginn von Vers 15 die erstarkenden Kräfte der Frau, doch auch die im folgenden Vers betont zwei wichtige Wörter: den „[…] kleine[n] Knabe[n] […]“ (II, 15). Dieser ist die Hauptmotivation der Frau im gesamten Gedicht, ein Punkt, auf den im nächsten Unterkapitel genauer eingegangen wird. Die letzte Alliteration der Strophe besteht auch aus den letzten beiden Wörtern in Vers 16, welche hervorheben, dass die Wächterin der Frau beim Antworten nicht ins Gesicht sieht. Die Anapher in Vers 15 und 16 stellt ironischerweise den Unterschied zwischen den Sätzen der beiden Frauen heraus. Obwohl beide mit dem gleichen Buchstaben beginnen, sind sie in Form und Formulierung verschieden. Die junge Frau formuliert ihre Frage höflich und gibt ihr eine persönliche Note, indem sie die Wächterin mit deren Vornamen „Elisabeth“ anredet. Im Kontrast dazu wirkt die Antwort der Alten abgehackt, als wäre dieser die Frage unangenehm, sie besteht sogar nur aus zwei Wörtern. Es gibt außerdem keine höfliche Anrede, obwohl die Frau im Bett ranghöher ist, wie das in Vers 25 zu lesende „Madam“ vermuten lässt. Zudem wendet sich die Wächterin beim Sprechen ab, und schafft so Distanz, wo die andere Nähe herstellen wollte. In den Versen 26 und 27 ist der Parallelismus auffallend. Beide beginnen mit einer gedanklichen Frage an die Mutter selbst und enden mit einer Resignation. Diese gedoppelte Struktur verdeutlicht die wiederholt unternommenen Anstrengungen, die dennoch zu keinem Ergebnis führen. So sehr sich die junge Frau auch bemüht, sie ist noch zu krank und zu geschwächt, um klar denken zu können. Dass die Wächterin diesen Titel verdient deutet sich in Strophe IV an, als die Frau heimlich an einer Haube für ihr Neugeborenes näht, trotz schlechtem Licht, statt die Alte darum zu bitten, den Vorhang zu öffnen, vermutlich weil diese sie zur Ruhe mahnen würde. Das Repetitio in Vers 32 zeigt wie beharrlich die Frau an ihrem Vorhaben dennoch festhält und einfach möglichst leiste weiternäht.
Des Weiteren wird ein weiteres Repetitio in Vers 35, welches gleichzeitig als ein Correctio eingesetzt wird, dazu genutzt die Eindringlichkeit auszudrücken, mit der die Frau nach ihrem Mann ruft. Auch die Assonanz aus „wann“ und „man“ im darauffolgenden Vers „Wann wird man endlich mir den Knaben reichen?“ (V, 36) in Kombination mit der Alliteration und der Inversion hebt hervor, wie bedeutsam das Anliegen der jungen Frau ist und dementsprechend die Reaktion ihres Gatten darauf. Der Vergleich seines Handkusses mit einem Hauch in Vers 38 deutet an, dass seine Lippen ihre „[…] heißen Hände“ (V, 38) kaum berühren. Die Alliteration betont erneut, dass die junge Frau immer noch unter dem Fieber leidet, auch wenn sie aktiver wirkt als noch in Strophe I.
2.3. Interpretation
In dem Gedicht treten insgesamt drei Figuren in folgender Reihenfolge auf: Die junge Frau/Mutter, ihre Wächterin namens Elisabeth und ihr Ehemann Rainer. Mehrfach genannt wird auch das neugeborene Kind der jungen Frau, ein Junge, wie in Strophe III spezifiziert wird. Dieses Kind ist, obwohl es zu keiner Zeit im Gedicht physisch präsent ist, die Hauptmotivation für sämtliche Handlungen der Beteiligten. Die Figur der jungen Mutter kann, ebenso wie das gesamte Gedicht, auf zwei Arten interpretiert werden, auf die diese Arbeit eingehen wird. Die erste wäre eine Deutung, die sich mehr an der Natur ausrichtet, die zweite konzentriert sich auf eine poetologische Interpretation. Da bereits im Wiedergeben der Handlung eines Gedichtes eine Interpretationsarbeit geleistet wird, indem ambige Elemente in einen schlüssigen Zusammenhang gebracht werden, konkretisiere ich zunächst den Handlungsverlauf, auf die sich die folgende Interpretation bezieht.
Das Gedicht beginnt mit einer jungen Mutter, die fiebrig in ihrem Bett liegt. Da Fieber nach einer schweren Geburt auftreten kann, befindet sie sich vermutlich im Wochenbett. Obwohl das Zimmer mit grünen Vorhängen abgedunkelt wurde, fantasiert sie mit offenen Augen von der Welt außerhalb, in der gerade Frühling herrscht. Sie stellt sich eine Nachtigall vor, die ihre Jungen füttert und beneidet den Vogel darum, dass diese ihre Jungen bei sich hat, im Gegensatz zu ihr selbst. Sie spricht laut, weshalb die ältere Wächterin, die zu ihr ans Bett tritt, ihr bedeutet still zu sein. Die Wächterin reicht ihr etwas zu trinken und um ihr einen Gefallen zu tun, will die junge Frau ein paar Schlucke zu sich nehmen. Sobald sie erst mal trinkt, fühlt sie sich besser und trinkt freiwillig mehr. Danach fühlt sie sich soweit gestärkt, dass sie die Wächterin mit Namen anspricht und nach ihrem Sohn fragt. Die Wächterin Elisabeth hat sich von ihr weggedreht während sie ihr antwortet, dass er schlafe. Die junge Mutter ist von der Antwort zufrieden gestellt und stellt sich ihr Kind schlafend vor, während sie sich entspannt und glücklich wieder in ihre Kissen sinkt lässt. Sie denkt an den letzten Herbst zurück, als sie noch schwanger war und einen Schleier wiederherrichtete, der beim Erntefest zerriss und der jetzt über die Wiege kommen sollte. Sie hört die Kirchenglocken läuten und fragt Elisabeth nach dem Anlass. Elisabeth antwortet, dass ein Marienfest gefeiert werden würde, was die junge Mutter merkwürdig findet, da es dafür eigentlich schon zu spät sei. Doch sie schiebt ihre Verwirrung selbst auf ihr Fieber. Sie fragt nicht weiter nach, sondern sucht im Halbdunklen nach einem Häubchen, das sie bereits begonnen hat. Es ist auch heutzutage noch üblich, Neugeborenen eine Haube, bzw. eine Stoffmütze zum Schutz vor Sonne, Wind und Kälte aufzusetzen, daher kann man davon ausgehen, dass sie das Häubchen für ihren Sohn näht. Da sie das Werk begonnen, aber noch nicht fertiggestellt hat, liegt die Vermutung nahe, dass sie von der Geburt überrascht wurde, das Kind also früher kam als gedacht. Weil Elisabeth ihr schon in Strophe II mit der Geste des an die Lippen gelegten Fingers Ruhe verordnet hat, näht sie heimlich trotz der zugezogenen Vorhänge und der damit einhergehenden Dunkelheit weiter. Die Tür zum Zimmer öffnet sich und jemand nährt sich leise, um die junge Frau nicht zu wecken, sollte sie schlafen. Die junge Frau erkennt an den Schritten ihren Mann Rainer und ruft ihn zu sich. Wieder fragt sie nach ihrem Jungen und will wissen, wann man ihn zu ihr bringt. Der Mann blickt nach oben, statt in ihr Gesicht, weicht also ihrem Blick ebenso aus wie ihrer Frage. Stattdessen küsst er ihre Hände und bittet sie um Geduld, sie wäre noch zu schwach dafür. Jetzt wo er so nahe ist, nimmt sie den Geruch von Weihrauch wahr, der von ihm ausgeht. Auf ihre Bemerkung hin antwortet er, dass er im Dom gewesen sei und dass sie nun schlafen solle, ehe er wieder ging. Weihrauch kommt in katholischen Kirchen häufig zum Einsatz, an Feiertagen wie auch an der Sonntagsmesse10. Hat die junge Mutter recht und es wäre weder Sonntag noch ein Feiertag, könnte stattdessen eine Beerdigung im Dom stattgefunden haben. Bei Begräbnissen werden Sarg und das offene Grab durchgehend beweihräuchert, hält man sich länger in dessen Nähe auf, heftet sich der Geruch unweigerlich an der Kleidung an. Betrachtet man den Punkt im Zusammenhang mit den bisherigen Hinweisen aus der Handlung ist es naheliegend, dass der zu früh geborene Junge nicht überlebte und an diesem Tag beigesetzt wurde und der Gatte ebenso wie die Wächterin aus diesem Grund den Fragen der jungen Mutter ausweichen. Sie ahnt davon jedoch nichts, näht weiter an dem Häubchen und träumt erneut von der Natur draußen. Das Gedicht wird mit den Worten des Erzählers beendet, die den gewonnen Eindruck bestärken. Er spricht davon, dass ihr nächstes Mal draußen in der Natur keinesfalls so erfreulich wird, wie sie es sich im Moment vorstellt. Die Tannenzweige und Blumen, an die sie jetzt denkt, werden über einem kleinen Grabhügel wachsen und wenn sie das sieht, soll sie Trost in Gott finden. Besonders deutlich wird der Verlust ihres Kindes dadurch, dass die im Titel zu findende Bezeichnung „Junge Mutter“ im Lauf des Gedichts verloren geht. Der Erzähler nennt sie am Schluss nur noch „[…] arme junge Frau […]“ (VI, 48).
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1 TextGrid Repository: Droste-Hülshoff, Annette von. Die junge Mutter. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-8653-5 (Zugriff am 03.03.2020).
2 Aus Gründen der besseren Übersicht wurden die Strophen entgegen des Originaltextes nummeriert. Auf entnommen Zitate aus dem Gedicht wird mit in runden Klammern angegebenen Strophen- und Versnummern im Text hingewiesen.
3 Vgl. Blasberg, Cornelia: 4. Gattungen. In: Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. Berlin Boston 2018. S. 581–591, hier S. 585.
4 Vgl. Blasberg Cornelia, Grywatsch Jochen: 5. Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof (1844). In: Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. Berlin, Boston 2018. S. 194–402, S.195.
5 Vgl. Frank, Gustav, Stefan Scherer: 1. Epochalität. In: Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. Berlin, Boston 2018. S. 553–560, hier S. 553.
6 Ebd. Zitat S. 556.
7 Vgl. Blasberg, Cornelia, Jochen Grywatsch: 5. Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof (1844). In: Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. Berlin, Boston 2018. S. 194–402.
8 Vgl. Ebd.. S.804-809.
9 Liebrand, Claudia: Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff. Stuttgart 2014 (Reclams Universal-Bibliothek. Interpretationen 17537).
10 Vgl.: Warum Weihrauch in der Kirche verwendet wird. In: Am Lebensende. Online unter: https://am-lebensende.de/warum-weihrauch-in-der-kirche/. (aufgerufen am 18.03.2020)