Bei der Beschäftigung mit der Religionssoziologie kommt man am Namen Émile Durkheim nicht vorbei. Durkheim etablierte die Soziologie als eigenständige Wissenschaft und spielte für die Entwicklung der religonssoziologischen Forschung eine bedeutende Rolle. In seinem Werk Der Selbstmord nutzte er erstmals soziographische Daten, um soziale Phänomene zu erklären. Seine These zur erhöhten Selbstmordbereitschaft der Protestanten ist bis heute viel diskutiert. Die vorliegende Arbeit setzt diese These in einen Zusammenhang mit Durkheims wichtigsten Schriften und den darin enthaltenen religionssoziologischen Erkenntnissen.
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Inhalt
Einführung
1) Émile Durkheims Leben und Werk
2) Die Religionssoziologie bei Émile Durkheim
Die Integrationsthese
Der Religionsbegriff
3) Die elementaren Formen des religiösen Lebens
Die Efferveszenstheorie
4) Über soziale Arbeitsteilung
5) Der Selbstmord
Résumé
Literaturverzeichni
Einführung
Bei der Beschäftigung mit der Religionssoziologie kommt man am Namen Émile Durkheim nicht vorbei. Durkheim etablierte die Soziologie als eigenständige Wissenschaft und spielte für die Entwicklung der religonssoziologischen Forschung eine bedeutende Rolle. In seinem Werk Der Selbstmord nutzte er erstmals soziographische Daten, um soziale Phänomene zu erklären. Seine These zur erhöhten Selbstmordbereitschaft der Protestanten ist bis heute viel diskutiert.1 Die vorliegende Arbeit setzt diese These in einen Zusammenhang mit Durkheims wichtigsten Schriften und den darin enthaltenen religionssoziologischen Erkenntnissen.
Zunächst wird ein kurzer Einblick in Émile Durkheims Leben und Werk gegeben. Anschließend beleuchtet die Arbeit die Religionssoziologie Durkheims. Hierfür wird das Zusammenwirken seiner unterschiedlichen soziologischen Überlegungen und Prämissen aufgezeigt. Dann wird die Integrationsthese, die mit Durkheims Namen unauflöslich verbunden ist, beschrieben.2 Die strenge Unterteilung der Welt in sakralen und profanen Bereich, wirkt sich auch in Durkeims hauptsächlich funktionalistischer Definition des Religionsbegriffs aus, auf den dann eingegangen wird. Dass der Ritus in Durkheims religionssoziologischen Ergebnissen eine wichtige Bedeutung hat, wird in Die elementaren Formen des religiösen Lebens deutlich, welche dann kritisch betrachtet werden. Durkheim entwickelte eine Theorie über menschliche Efferveszens, die durch religiöse Riten entsteht, die im Folgenden behandelt wird. Die Frage, inwieweit Durkheims Theorie auf heutige Gesellschaften übertragbar ist, wird kurz diskutiert. Es folgt eine Zusammenfassung Durkheims erster soziologisch bedeutender Arbeit, in welcher er den Übergang von einer mechanischen zu einer organischen Gesellschaft skizziert: Über soziale Arbeitsteilung verweist auf das Phänomen der Anomie. Auf die Anomie und ihre Konsequenzen wird im Abschnitt über den Selbstmord genauer eingegangen. Die Probleme bezüglich der Wissenschaftlichkeit dieses Werks sowie Durkeims Ergebnisse zur Erforschung der unterschiedlich hohen Selbstmordrate bei Protestanten und Katholiken werden wiedergegeben. Im Résumé wird diskutiert, welche Probleme und Chancen sich aus der Verknüpfung von Durkheims Untersuchungsgegenständen für seine Arbeit ergeben. Es kristallisiert sich immer wieder heraus, welche Multiperspektivität religionssoziologische Untersuchungen hervorbringen und welche Auswirkungen die unterschiedlichen Sichtweisen auf ihre Ergebnisse haben.
1) Émile Durkheims Leben und Werk
1858 als Sohn streng gläubiger Juden in Frankreich geboren, bricht Émile Durkheim als erster nach acht Generationen mit der familiären Berufstradition und wird kein Rabbiner. Während seines Studiums der Philosophie und Geschichte, reist er im Alter von 28 Jahren zum Zwecke erziehungswissenschaftlicher Studien nach Deutschland. Nach seiner Rückkehr wird er 1887 in Bordeaux der erste Lehrbeauftragte für Soziologie und Pädagogik mit einer akademischen Stelle in Frankreich. Neun Jahre später erhält Durkheim hier eine Professur für Sozialwissenschaften.3 In seiner Zeit in Bordeaux verfasst er drei seiner wichtigsten Schriften. Es handelt sich um seine Dissertationsschrift Über soziale Arbeitsteilung, Die Regeln der soziologischen Methode und Der Selbstmord aus dem Jahre 1987.4 Diese Arbeiten können als Meilensteine der modernen Soziologie gesehen werden.5 Als erster Nutzer soziographischer Daten zur Erklärung von sozialen Phänomenen kann Durkheim mit seinem Werk als „Erfinder“ der Soziologie gelten.6 Seine Studie zum Suizid wurde zum Paradigma empirischer Soziologie.7
Durkheim gründete 1896 die Zeitschrift Das Soziologische Jahr, von der er zwölf Jahrgänge herausgab. Die ganze Serie ist durch eine stark religionssoziologische Note geprägt und findet 1912 ihre Konkretisierung in der Veröffentlichung seines religionssoziologischen Hauptwerks Die elementaren Formen des Religiösen Lebens. Somit war Émile Durkheim gleichsam treibende Kraft für die Etablierung der religionssoziologischen Disziplin.8 Als radikaler Vertreter des Laizismus, steht auch Durkheims ausgearbeitete Religionstheorie im Zeichen der 1905 in Frankreich per Gesetz geschaffenen Situation von strikter Trennung von Staat und Kirche und deren Unabhängigkeit voneinander.9
2) Die Religionssoziologie bei Émile Durkheim
Die laizistische Dritte Republik in Frankreich lässt Durkheim eine ‘Theologie der Zivilreligion’, die in Distanz zur christlichen Erlösungsreligion zu betrachten ist, entwickeln.10
Orientiert an den Grundprämissen, die in den Regeln der soziologischen Methode definiert sind, verbindet Durkheim seine Überlegungen zur Religion mit seinen Betrachtungen zur sozialen Arbeitsteilung. Die außerordentliche Bedeutung religiöser Verhaltensweisen für die Entwicklung von menschlichen Gesellschaften lässt Religion für Durkheim zu einem universalen Phänomen werden. Daraus leitet er ab, dass es Grundelemente gibt, die allen Ausformungen von Religion innewohnen. Da die Betrachtung von Ursache- und Wirkungszusammenhängen als Kernelement der Regeln der soziologischen Methode zählt, galt es für ihn als maßgebend, die grundsätzliche Ursache von Religion heraus zu arbeiten. Religiöse Phänomene wurden als Gegenstand einer rein wissenschaftlichen Forschung untersucht. Dabei wurde der Erkenntnisakt als Bezugspunkt für eine Bestimmung von Religion ausgeklammert.11
Die Integrationsthese
Grundlegend definiert Durkheim den Religionsbegriff im Kontext der Unterscheidung von heilig und profan. Religion bedeutet keine Illusion, sondern stellt eine Institution dar, die in der Gesellschaft manifestiert ist. Untersuchungsobjekt ist die Ausformung von Religion in Sinnbildern und Hoheitszeichen, Zusammengehörigkeitsgefühl, Verhaltensregeln sowie Sanktionen. Die Repräsentation einer Religion macht sie überhaupt erst beobachtbar und lässt sie damit zum soziologischen Forschungsgegenstand werden. Religion definiert sich über ihre Funktion für das Individuum und die Gesellschaft.12
„Religion ist ein solidarisches System von Glaubensvorstellungen und Praktiken, bezogen auf heilige, d. h. abgetrennte und verbotene Dinge; diese Vorstellungen und Handlungen vereinen in einer moralischen Gemeinschaft, genannt Kirche, alle diejenigen, die ihnen anhängen.“13
Der Kern der Religion ist die Gemeinschaft. Religiöse Erfahrungen, die Durkheim nicht als innerpsychische Prozesse begreift, befriedigen das menschliche Grundbedürfnis nach Kollektivität. Ebenso stellen die religiösen Erfahrungen Antworten auf Sinnfragen dar und bieten einen idealisierten Gegenentwurf zum Diesseits.14 Daraus ergibt sich, dass alle religiösen Überzeugungen, egal ob simpel oder komplex, sich darin gleichen, dass sie Dinge, welche sich Menschen vorstellen, klassifizieren in ideal und real. Es entstehen zwei Gattungen, die die Welt in zwei Bereiche aufteilen: das ‘Heilige’ und das ‘Profane’.15 Religion ist demnach bei Durkheim der heilige Bereich der Welt, der vom alltäglichen zu unterscheiden ist. Die bedeutende Funktion der Religion für die soziale Ordnung liegt in der Vergemeinschaftung der Individuen. Die Kirche bildet sich in diesem Prozess als Organisation mit Integrationsfunktion heraus. Dadurch wird die Integration der Gesellschaft institutionalisiert. Der Integrationsprozess geschieht, indem die Kirche Handlungsweisen und Gesinnungen einzelner Mitglieder der Gemeinschaft auf das Kollektiv bezieht.16
Der Religionsbegriff
Religion im Sinne Durkheims existiert nicht ohne den Bereich des Heiligen. Sie ist etwas unbedingt Soziales, weil sie in der Gemeinschaft durch den Glauben an etwas Übernatürliches definiert wird. Sie ist keine individuelle Angelegenheit. Religiöse Phänomene entwickeln sich aus dem Miteinander. Religion fungiert als normatives Wertesystem. Damit ein System Religion werden kann, muss es organisatorisch zusammengefasst sein.
Durkheims Religionsdefinition ist in Bezug auf Überzeugungen, die auch als Glaube bezeichnet werden können, und die Praktiken, welche man auch Rituale nennen kann, eher substantieller Natur.17 Als Bezugspunkt für eine Bestimmung von Religion dient das Transzendente.
Gesellschaftliche Integration gelingt durch die Funktion der Religion. Riten und Glaube sind vorhanden, um diese Funktion zu erfüllen. Im Kern ist Durkheims Religionsverständnis ein funktionales, da im Mittelpunkt die Leistung steht, welche Religion für Individuum und Gesellschaft hat.18 Durkheim vereint demnach zwei entgegengesetzte Religionsdefinitionen. Hierin liegt doppeltes Kritikpotential: Durch den Einbezug von Überzeugungen und Praktiken, fokussiert sich seine Definition auf messbare Elemente und führt letztendlich immer zu bestimmten Religionen. Hier wird der Gedanke der Universalität der Religion durch die Konkretisierung selbiger gewissermaßen nihiliert. Jene Konkretisierung führt schnell zu einer ethnozentrischen Perspektive. Dass Durkheims Perspektive voreingenommen ist, wird durch den Begriff Kirche innerhalb seiner Religionsdefinition entlarvt. Ferner bringt der funktionale Ansatz das Problem mit sich, dass der Definitionsumfang sehr weit denkbar ist. Somit fallen auch Phänomene unter den Begriff Religion, die laut Durkheim eine moralische Gemeinschaft vereinen, allerdings nur schwerlich mit Religion gleichgesetzt werden können wie z. B. Nationalsozialismus, Sport, Kunst, ect., sofern sich diese Quasireligionen als Kirche bezeichnen ließen. Betrachtet man Durkheims Religionsdefinition von einem anderen Standpunkt aus, birgt sein Religionsbegriff einen Vorteil: Da Durkheims Religionsverständnis weitgehend auf einen Gott als Bezugspunkt verzichtet, entkernt er die Religion vom Substantiellen. Eine Erfassung religiöser Phänomene jenseits des monotheistischen Christentums wird möglich. Das Verständnis von Religion öffnet sich für Ausdifferenzierung unterschiedlicher Formen von Religion.19 Durkheim setzt klar den Mythos sekundär zum Ritus.20
Eindeutig an Durkheims Definition ist die Funktion, welche Religion in modernen Gesellschaften zu erfüllen hat: Die Integration einer Gemeinschaft, besser noch einer Gesellschaft ist definitiv eine universale Leistung.21
Durkheim rahmt seine soziologische Religionsdefinition durch vier Basiselemente ein. Er verweist auf individuelle Überzeugungen (Glaubensvorstellungen), sowie auf religiöse soziale Handlungen (Praktiken), ferner nimmt er Bezug auf eine moralische Gemeinschaft (Kirche), die institutionelle Ausprägungen aufweist (gesellschaftliche Organisation), indem sie Vorgaben für Handlungen der Gläubigen erarbeitet und gleichsam zur Einhaltung von Verpflichtungen und Normen beiträgt.22 Religion verbürgt durch die in ihr angewandten Werte der Lebensführung und Weltanschauung den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Dadurch liefert sie den ‘normativen Kitt’ der bestehenden Ordnung.23
3) Die elementaren Formen des religiösen Lebens
Es ist demnach nicht die Anwesenheit von Göttern, sondern das Praktizieren von Riten maßgeblich für die Existenz einer Religion. Die besondere Art des Bezugs zu Gegenständen und Pflanzen (Totemismus) oder Tieren (Animismus), die als heilig begriffen werden, macht das menschliche Verhalten diesen Heiligkeiten gegenüber religiös.
Um die elementaren Formen des religiösen Lebens zu ergründen, untersuchte Durkheim den Totemismus der australischen Ureinwohner, da ihm in dieser „primitiven“ Volkskultur der Kern von Religion am unverfälschtesten schien. Ferner war die Literatur aus der Ethnographie zu diesem Thema reichhaltig.24 Das heißt, dass Durkheim seine Analyse vom Schreibtisch aus tätigte, was grundsätzlich die Frage aufwirft, ob so weitreichende Schlüsse, wie er sie gezogen hat, allein auf der Grundlage selektiver empirischer schriftlicher Ergebnisse überhaupt möglich sind.25 Gleichzeitig spielt Durkheims persönliche Sozialisierung in dem Moment, wo er seine Schlussfolgerungen ohne reale Erfahrungen des Totemismus macht, eine große Rolle. Die starre Dichotomie von Heiligem und Profanem lässt sich grundlegend aus der traditionell jüdischen und römischen Prägung des Rabbiner-Sohnes ableiten.26
Im Totemismus kennzeichnen und repräsentieren als heilig verehrte Dinge den jeweiligen Klan, der das entsprechende Totem verwendet. Es stellt ein Symbol für den Klan selbst dar. Das Totem fungiert als Stellvertreter, dem Ehrerbietung erwiesen wird, und ist so diesseitige Verkörperung der Religion. Die religiösen Imaginationen konzentrieren sich auf ein sichtbares Objekt. Das Totem ist bildhafter Ausdruck der Gesellschaft und kennzeichnet im tieferen Sinne die Verehrung des eigenen Klans. Hier wird für Durkheim das grundliegende Ziel von Religion sichtbar. In gemeinschaftlichen Erlebnissen der Individuen tritt das Kollektiv als Objekt der Verehrung zutage. Die Gesellschaft „vergottet“ sich selbst. Das Kollektiv als Mittelpunkt der Religion erfährt sich im Ritual, ebenso wie in Geboten, Verboten und Beurteilungen von Handlungen, welche durch die Gesellschaft geregelt sind.27 Das individuelle Bewusstsein wird durch das Kollektivbewusstsein bestimmt, obschon diese nicht identisch sind. Im Individuum tritt das Kollektivbewusstsein zutage, aber selbiges kann nur erspürt werden, wenn es an ein materielles Objekt geheftet wird. Ein Totem ist notwendig, um die Kollektivität zu festigen und dauerhaft zu machen.28
Das Totem wird erst durch den religiösen Zugriff des Klans zu etwas Heiligem. Das Heilige entspringt einem Wunschbild, das Totem ist also idealisiert. Der Transzendenzbezug besteht in der Verehrung des Ideals der Gesellschaft. Dementsprechend lassen sich aus der idealen Gesellschaft leicht Werte- und Normvorstellungen schlussfolgern. Diese bieten einen ‘moralischen Gegenentwurf zum Alltagsleben’. Religion bedeutet moralische Macht. Die Moralvorstellungen wirken als sakrales Moment in den profanen Alltag hinein.29 Die Ebenen des Heiligen und des Profanen sind also nicht strikt von einander getrennt, sondern bedingen und bedürfen einander. Das Individuum wird über das Sakrale an die Gesellschaft gebunden. Moral entsteht also nicht auf der Basis eines Konsens. Vielmehr wird sie aus dem Bereich abgeleitet, der der unmittelbaren Verfügbarkeit entzogen ist. Die Gesellschaft wir zum Urobjekt aller Religionen, in welchen Menschen symbolisch Abhängigkeitsgefühle der selbigen gegenüber ausdrücken.30
Die Efferveszenstheorie
Die grundsätzliche Voraussetzung für die Entstehung von religiösen Ideen, wie sie das Totem repräsentiert und trägt, ist zunächst physische Anwesenheit. Wenn nun innerhalb der Kollektivereignisse Zustände ausgelöst werden, die sich dem Verständnishorizont des Individuums entziehen, kann es passieren, dass die Wirkung der Kollektivität als etwas Transzendentes interpretiert wird. Die individuelle emotionale Energie wird mit dem Gefühl der Gruppensolidarität zum Erlebnis des Rituals. Bei diesem dynamischen Moment wird durch die Interaktion im Kollektiv eine Bewegung erzeugt, die mitreißend auf die einzelnen Individuen wirken kann. Eine Gruppe wird demnach von ihrer selbsterzeugten Dynamik kognitiv und physisch beeinflusst. Dieses Prinzip beschreibt Durkheim mit dem Begriff kollektive Efferveszenz.31 Er erklärt die Entstehung von Religion mit einem massenpsychologischen Phänomen. Der Mensch setzt im Zustand der sozialen Überhitzung eine Welt höheren Ranges über sein profanes Leben. Es geschieht etwas außeralltägliches. Religiöse Vorstellungen haben demnach ihren Ursprung im kollektiven Überschwang ritueller Darbietungen. Dies ist historisch jedoch nicht nachweisbar.32 Eine Gärung der menschlichen Masse ist zweifelsohne heutzutage in Fußballstadien und bei Popkonzerten anzutreffen. Hieraus lässt sich die Frage ableiten, ob heutige festlich angelegte Kollektivereignisse mit dem Totem-Ritus der australischen Ureinwohner vergleichbar sind. Dann wäre die Vergöttlichung von Popstars ähnlich der Entstehung religiöser Ideen in Durkheims Sinne. Bedenkenswert ist hierbei, dass die Trennung zwischen Alltag und sakralem Fest heute nicht so ausgeprägt ist wie bei den Aborigines der Durkheimschen Studie. Ferner wirkt die faktische Schnelllebigkeit sich auf die Existenzdauer von Ritualen aus; das Heilige wirkt in kürzerer Zeit und wird schneller wieder vom Profanen abgelöst. Es lässt sich festhalten, dass Durkheims ermittelte elementare Formen des Religiösen bei den Aborigines nicht ohne Probleme auf moderne Gesellschaften übertragbar sind. Seine Annahme ist für die Entwicklungsbeschreibung heutiger Gesellschaften definitiv zu evolutionär gedacht.33
Ferner ist Durkheims Bild von der Religion mit ihrer expliziten integrativen Kraft sehr positiv gezeichnet. Betrachtet man präskriptive Normen wie z. B. die Exogamie/Endogamie,34 die Regeln darstellen, welche auf moralischen Vorstellungen von der eigenen und der anderen Gruppenzugehörigkeit gründen, beleuchtet man einen auch negativ deutbaren Bereich, von Religion. Ebenso denkbar wären Kollektivereignisse mit efferveszensischer Dynamik, welche in grausame Unmenschlichkeit wie z. B. Tötung übergehen. Während der Rituale entsteht laut Durkheim gewöhnlich das, was von der jeweiligen Gemeinschaft für gut befunden wird, und zwar in Form von Moral.
Der Ableitung, dass Religion sich grundsätzlich aus dem menschlichen Bedürfnis nach Gemeinschaft ergibt und daher nur kollektiv erfahrbar ist, kann das Phänomen des Eremitentums entgegengesetzt werden. Eremiten berichten gerade von individuellen religiösen Erlebnissen, welche keinerlei Bindekraft für die Gesellschaft besitzen.35
4) Über soziale Arbeitsteilung
Das Problem der persönlichen Daseinsführung beschreibt Durkheim als ein religiöses.36 In seinen Überlegungen zur sozialen Arbeitsteilung kontrastiert Durkheim eine Entwicklung hin zu einer wachsenden Autonomie des Einzelnen in modernen Gesellschaften. Zielpunkt seiner Untersuchung ist, zu prüfen, wie bei steigender Individualisierung die soziale Ordnung gewährleistet werden kann.37 Die Entwicklung der Gesellschaft beschreibt Durkheim als von einer mechanischen zu einer organischen Solidarität. Während die mechanische Solidarität sich durch Ähnlichkeit auszeichnet, alle Mitglieder erfüllen ähnliche Rollen und sind im Prinzip austauschbar, leitet sich bei der organischen Solidarität der Konsens aus Unterscheidung ab. Ähnlichkeit bedeutet hier, dass die Welt vom Kollektiv in gleicher Art gedeutet wird. Im Zustand der Gleichstellung ist das Individuum der Gesellschaft direkt gegenüber gestellt. In der Differenzierung verhält sich das Individuum intermediär zur Gesellschaft. Im Zustand der Verschiedenheit ergänzen sich die Individuen gegenseitig wie die einzelnen Organe eines Körpers. Es bedarf einer differenzierteren Form des Zusammenhalts. Aus Kooperation werden Regeln abgeleitet. Durkheim sieht Differenzierung als einen Vorteil, weil sie die Grundlage für eine gemeinsame Moral bildet, da jeder auf jeden angewiesen ist.38 In der sozialen Arbeitsteilung stellt sich das Ausmaß funktionaler Differenzierung einer Gesellschaft dar. Durkheim stellt fest, dass die soziale Arbeitsteilung spezielle Formen der Solidarität zwischen den eigenständigen Bestandteilen der Gesellschaft erschafft, welche Individuum und Kollektiv an einander binden.39 Das Funktionieren der Verbindung von Kollektivität und Individualität wird durch die Moral gewährleistet. Die soziale Arbeitsteilung sieht Durkheim als ein Tauschgeschäft zwischen den Individuen, das sich in Solidarität zueinander ausdrückt. Damit der Tauschhandel verpflichtend für alle Parteien einzuhalten ist, bedarf es der gesellschaftlich vorbestimmten Moral als übergeordnete Instanz. Moral ist demnach eine Art kollektiver Zwang. Jede Erschütterung dieser Gruppenmoral bezeichnet Durkheim als Anomie. In der negativen Sanktionierung von abweichenden Verhaltensweisen ist Anomie feststellbar. Das Kollektiv geht von einem ‘Normalzustand’ in einen ‘pathologischen’ Zustand über. Diese Normlosigkeit kann Folge eines zu schnellen Wandels der Gesellschaft sein. Die Gesellschaftsmitglieder können sich unter zu rascher Erneuerung der Strukturbedingungen nicht mehr orientieren und es kommt zu Regellosigkeit. Dieser Prozess spiegelt sich in Durkheims Schriften über den Selbstmord wieder, dessen zentralen gesellschaftlichen Auslöser die Anomie darstellt.40
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1 Vgl. Šuber, Daniel, Émile Durkheim. (Klassiker der Wissenssoziologie 12), Konstanz 2012, S. 86.
2 Vgl. Kehrer, Günter, Einführung in die Religionssoziologie. Darmstadt 1988, S. 31.
3 Vgl. Šuber, Daniel, Émile Durkheim. S. 13-29.
4 Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird im Folgenden einheitlich die deutsche Übersetzung verwendet.
5 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden 2011, S. 75.
6 Vgl. Durkheim, Émile, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt/M. 1992, S.19.
7 Vgl. Dörner, Klaus, Einleitung. In: Durkheim, Émile, Der Selbstmord. Berlin 1973, S. XIV.
8 Vgl. König, René, Emile Durkheim zur Diskussion. Jenseits von Dogmatismus und Skepsis, München 1978, S. 239.
9 Vgl. Ziemann, Benjamin, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt/M. 2009, S. 11.
10 Vgl. ebd.
11 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 78f.
12 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 80.
13 Vgl. Durkheim, Émile, les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris 41960, S. 65 (eigene Übersetzung).
14 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 81.
15 Vgl. Vgl. Durkheim, Émile, les formes élémentaires de la vie religieuse. S. 60.
16 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 17.
17 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 82.
18 Vgl. ebd.
19 Vgl. ebd., S. 84.
20 Vgl. Kehrer, Günter, Einführung in die Religionssoziologie. S. 37.
21 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 83.
22 Vgl. ebd., S. 18f.
23 Vgl. Noormann, Harry et al., Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik. Stuttgart 32000, S. 23.
24 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 79.
25 Vgl. ebd., S. 85.
26 Vgl. Kehrer, Günter, Einführung in die Religionssoziologie. S. 33.
27 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 81.
28 Vgl. Durkheim, Émile, Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M. 1981, S. 295.
29 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 81.
30 Vgl. Savramis, Demosthenes, Religionssoziologie. Eine Einführung, München 1968, S. 24.
31 Vgl. Schüler, Sebastian, Religion, Kognition, Evolution. Eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Cognitive Science of Religion (Religionswissenschaft heute 9), Stuttgart 2012, S. 58.
32 Vgl. Kehrer, Günter, Einführung in die Religionssoziologie. S. 36f.
33 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 83.
34 vorgeschriebene Eheschließungen außerhalb/innerhalb der eigenen sozialen Gruppe.
35 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 85.
36 Vgl. Savramis, Demosthenes, Religionssoziologie. S. 42.
37 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 75.
38 Vgl. Korte, Hermann, Soziologie im Nebenfach. Eine Einführung, Konstanz 2001, S. 48f.
39 Vgl. Pickel, Gert, Religionssoziologie. S. 76.
40 Vgl. ebd., S. 77.