In der aktuellen Geschichtsforschung erfreut sich der Teilbereich Umweltgeschichte einer stetig wachsenden Beliebtheit. Greifen doch die Aus- und Nachwirkungen von Umweltkatastrophen – Seveso 1976, Harrisburg 1979, Bhopal 1986 und natürlich Tschernobyl 1986, um nur die bekanntesten zu nennen – wie Tentakel ein in alle Bereiche des humanen Daseins; sei es in politischer, wirtschaftlicher oder ökologischer Hinsicht. Somit beeinflusst und verändert die Betrachtung v.a. anthropologischer Umwelt- und Naturkatastrophen auch das politische Geschichtsbild.
Einen solch gravierenden Einschnitt eines Umweltereignisses in den fortlaufenden politischen Faden stellt die Explosion des Atomkraftwerkes Tschernobyl in der Ukraine nahe der Stadt Pripjat dar. Die Katastrophe traf die Sowjetunion völlig unvorbereitet und stürzte das Land in eine Krise. Die Auswirkungen auf Menschen ebenso wie für Umwelt werden noch in etlichen Jahren zu spüren sein. Die Politologin Astrid Sahm bezeichnet in ihrem Aufsatz „Dimensionen einer Katastrophe“ Tschernobyl als „Anfang vom Ende der Sowjetunion“ . Somit wäre eine Naturkatastrophe nicht nur für das Ende einer Supermacht verantwortlich, sondern vielmehr für die Beendigung eines fast 70 Jahre andauernden – legt man den Beginn des Kalten Krieges auf das Jahr 1917 fest – Konfliktes, der die ganze Welt mehrfach an den Rand des Abgrundes geführt hatte. Diese weitreichende These verdient somit der genaueren Auseinandersetzung und soll in dieser Arbeit untersucht und gegebenenfalls verifiziert werden.
Im folgenden wird zunächst ein knapper Überblick über die Situation in der UdSSR kurz vor dem GAU gegeben sowie eine Darstellung des 26. April 1986, dem Tag des Unglücks, gezeichnet werden, die den Ablauf der Ereignisse verdeutlichen sollen, da dies für die Abbildung des administrativen Zustandes der Sowjetunion nicht unerheblich sein wird. Alsdann soll ein Blick auf die tatsächlichen politischen Folgen des Reaktorunglücks erfolgen, v.a. die Ukraine und Weißrussland betreffend. Auf einen Aspekt, den Astrid Sahm übersieht – nämlich den symbolischen Charakter von Tschernobyl – wird dann abschliessend genauer eingegangen werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zwischen Stagnation und Aufbruch: Die Sowjetunion von Breschnew bis Tschernobyl (Hinführung I)
2.1 Glasnost und Perestroika
3. Tschernobyl, 24. April 1986, 1 Uhr 23… (Hinführung II)
4. … „Vielleicht reagieren wir sogar gelassener auf den Unfall“: Die politisch-sozialen Auswirkungen des Reaktorunglücks auf die Sowjetunion
5. … „Vermutlich wären wir eher mit einer atomaren Kriegssituation wie in Hiroschima fertiggeworden“: Zur symbolisch-mentalen Dimension von Tschernobyl
6. Tschernobyl war nicht der Anfang vom Ende der Sowjetunion?
7. Fazit: Die Bedeutung Tschernobyls für den Zusammenbruch des Sowjetstaates 1991
8. Literaturverzeichnis
Bildernachweis
1. Einleitung
In der aktuellen Geschichtsforschung erfreut sich der Teilbereich Umweltgeschichte einer stetig wachsenden Beliebtheit. Greifen doch die Aus- und Nachwirkungen von Umweltkatastrophen – Seveso 1976, Harrisburg 1979, Bhopal 1986 und natürlich Tschernobyl 1986, um nur die bekanntesten zu nennen – wie Tentakel ein in alle Bereiche des humanen Daseins; sei es in politischer, wirtschaftlicher oder ökologischer Hinsicht. Somit beeinflusst und verändert die Betrachtung v.a. anthropologischer Umwelt- und Naturkatastrophen auch das politische Geschichtsbild.
Einen solch gravierenden Einschnitt eines Umweltereignisses in den fortlaufenden politischen Faden stellt die Explosion des Atomkraftwerkes[1] Tschernobyl in der Ukraine nahe der Stadt Pripjat dar. Die Katastrophe traf die Sowjetunion völlig unvorbereitet und stürzte das Land in eine Krise. Die Auswirkungen auf Menschen ebenso wie für Umwelt werden noch in etlichen Jahren zu spüren sein. Die Politologin Astrid Sahm bezeichnet in ihrem Aufsatz „Dimensionen einer Katastrophe“[2] Tschernobyl als „Anfang vom Ende der Sowjetunion“[3]. Somit wäre eine Naturkatastrophe nicht nur für das Ende einer Supermacht verantwortlich, sondern vielmehr für die Beendigung eines fast 70 Jahre andauernden – legt man den Beginn des Kalten Krieges auf das Jahr 1917 fest – Konfliktes, der die ganze Welt mehrfach an den Rand des Abgrundes geführt hatte. Diese weitreichende These verdient somit der genaueren Auseinandersetzung und soll in dieser Arbeit untersucht und gegebenenfalls verifiziert werden.
Im folgenden wird zunächst ein knapper Überblick über die Situation in der UdSSR kurz vor dem GAU gegeben sowie eine Darstellung des 26. April 1986, dem Tag des Unglücks, gezeichnet werden, die den Ablauf der Ereignisse verdeutlichen sollen, da dies für die Abbildung des administrativen Zustandes der Sowjetunion nicht unerheblich sein wird. Alsdann soll ein Blick auf die tatsächlichen politischen Folgen des Reaktorunglücks erfolgen, v.a. die Ukraine und Weißrussland betreffend. Auf einen Aspekt, den Astrid Sahm übersieht – nämlich den symbolischen Charakter von Tschernobyl – wird dann abschliessend genauer eingegangen werden.
2. Zwischen Stagnation und Aufbruch: Die Sowjetunion von Breschnew bis Tschernobyl (Hinführung I)
Als Leonid Breschnew am 10. November 1982 verstarb, hinterließ der dritte Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) einen trägen und stagnierenden Staat. Trotz der vorherrschenden Euphorie in der Zeit um Breschnews Amtsantritt 1964 versank die Sowjetunion in den kommenden zwei Jahrzehnten in wirtschaftlichen Krisen und Korruption[4]. Missernten, Mangelversorgung, der Zerfall des Gesundheitswesens sowie ein blühender Schwarzmarkt kennzeichneten die UdSSR zu Beginn der 1980er Jahre. Lediglich außenpolitisch bzw. auf prestigeträchtigen Gebieten konnte Breschnew Erfolge vorweisen: Das nukleare Potenzial des Sowjetstaates stieg an, in der Stahl- und Ölproduktion konnte die östliche Supermacht gar die Vereinigten Staaten von Amerika hinter sich lassen[5]. Die Krise des Landes verschärfte sich unter Breschnews Nachfolgern Jurij Andropow (1982-84) und Konstantin Tschernenko (1984-85) noch weiter. Obwohl nun zusehends Mängel im Bildungs- und Gesundheitssektor sowie Rückständigkeiten in der Technologie, auf dem Rüstungssektor sowie in der Schwerindustrie sichtbar wurden, hielten die bereits 69 bzw. 72 Jahre alten Generalsekretäre am starren und unbeweglichen System inklusive Kommandowirtschaft fest[6]. Das Land stagnierte.
Erst ein Generationswechsel an der Spitze der KPdSU leitete den dringend notwendigen Reformkurs ein. Michail Gorbatschow wurde am 11. März 1985 mit 54 Jahren zum zweitjüngsten Generalsekretär der KPdSU gewählt. Gorbatschow setzte auf eine Art „Demokratisierung“, die in alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens der Sowjetunion eingreifen, im Gegenzug aber das System nicht preisgeben sollte. Glasnost und Perestroika wurden zu den Schlüsselwörtern der Reformpolitik Gorbatschows.
2.1 Glasnost und Perestroika
Auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU von Februar bis März 1986 – also nur ganz kurz vor der Reaktorexplosion, dies soll noch von Wichtigkeit sein – verkündete Michail Gorbatschow den neuen Kurs der politischen Führung der UdSSR. Mit den Schlagwörtern Glasnost (Öffnung) und Perestroika (Umbau) sollte die Wende in der Sowjetunion herbeigeführt werden. Mit Glasnost verband sich die Öffnung und eine Zunahme an Transparenz der Staatsführung gegenüber der Bevölkerung einerseits und des Staates nach außen hin andererseits. Rede- und Meinungsfreiheit sowie eine kritische Berichterstattung wurden nach und nach ermöglicht. Die zweite Säule des Reformkurses Gorbatschows, Perestroika, bezeichnete den Umbau des politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion. Durch Lockerungen der Parteidirektive, der Zentralverwaltungswirtschaft oder außenpolitischen Direktiven wie der „Breschnew-Doktrin“[7] sollte dem Sozialismus ein demokratisches Antlitz durch Wahlen (von verschiedenen Kandidaten, nicht Parteien) oder dem Ausbau des Rechtsstaatsprinzips verliehen werden, die Wirtschaft sollte eigenständiger werden und die Befugnis zu selbständigen Entscheidungen erhalten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Michail Gorbatschows Reformen unter dem Banner der Schlagwörter Glasnost (Öffnung) und Perestroika (Umbau) zeigten in Hinsicht auf das Reaktorunglück von Tschernobyl aber eine entgegengesetzte Wirkung als ursprünglich beabsichtigt. Sollten diese Reformen eigentlich die verstaubte Sowjetunion erneuern und festigen, erlebte die sowjetische Führung jedoch ein Waterloo durch Tschernobyl.
3. Tschernobyl, 24. April 1986, 1 Uhr 23… (Hinführung II)
Die Explosion des Kernkraftwerkes Tschernobyl ist der bislang größte nukleare Unfall in der Geschichte. Der radioaktive Niederschlag insbesondere beeinflusst bis heute noch das Leben von Hunderttausenden von Menschen in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, die radioaktive Verunreinigung breitete sich 1986 über ganz Europa aus[8]. Der Unfallhergang lässt sich heute fast vollständig rekonstruieren und soll folgend kurz wiedergegeben werden. Das Kraftwerk Tschernobyl war eines von vier Atomkraftwerken in der Ukraine und bestand aus vier „RBMK-1000“-Reaktoren[9], die zwischen 1977 und 1983 ihre Arbeit aufnahmen. Der Unfall ereignete sich während eines Experimentes in Reaktor 4, bei welchem das Verhalten des elektronischen Kontroll-Systems zur Stromversorgung bei einem Stromausfall getestet werden sollte[10].
[...]
[1] Für das Kraftwerk Tschernobyl lassen sich in Literatur und Internet gleichermaßen die Begriffe „Atomkraftwerk“ und „Kernkraftwerk“ finden. In dieser Arbeit werden beide Begriffe synonym verwendet
[2] Sahm, Astrid, Dimensionen einer Katastrophe, in: 20 Jahre Tschernobyl (APuZ 13/2006), S. 12-18.
[3] Ebd., S. 13.
[4] Vgl. Smith, Hedrick, Die neuen Russen, Reinbeck 1991, S. 51f.
[5] Ebd., S. 51.
[6] Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), IzpB 236 (Die Sowjetunion 1953-1991), S. 26.
[7] Vgl. Wandel im Osten, aus: http://www.dhm.de/lemo/html/DieDeutscheEinheit/ WandelImOsten/glasnostUndPerestroika.html
[8] Smith, Jim T./Beresford, Nicholas A., Chernobyl. Catastrophe and Consequences, Chichester 2005, S. 1.
[9] Nähere Beschreibung s. UNSCEAR Report to the General Assembly: Sources and Effects of Ionizing Radiation (Volume II, Annex J: Exposures and effects of the Chernobyl accident), New York 2000, S. 454.
[10] Ebd., S. 454.