Strassenkinder in Deutschland - Begriffe, Ursachen und Lösungen
Zusammenfassung
Insgesamt handelt es sich um eine sehr vielschichtige Problematik, der mit monokausalen Erklärungsansätzen nicht beizukommen ist. Diese Arbeit soll daher die Kinder- und Jugendlichen auf ihren Wegen in die „Straßenexistenz“ begleiten, um die Ursachen für ihre besonderen individuellen Problemlagen zu verdeutlichen und weiterführend Lösungsansätze aufzuzeigen, mit deren Hilfe dem Entstehen bzw. der Verfestigung von Straßenkarrieren entgegengewirkt werden kann.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Begriffsbestimmung „Straßenkinder“
2.1. Kurzer historischer Abriß
2.2. „Klassische“ Kategorien (nach Jordan / Trauernicht)
2.3. Zum heutigen Begriff „Straßenkind“
2.4. Ausmaß
3. Beweggründe und Ursachen von Straßenkarrieren
3.1. Problematische Lebensphasen
3.2. Familienbedingte Faktoren
3.2.1. schwere Belastungen Seite 12
3.2.2. leichtere Belastungen Seite 14
3.3. Attraktivität der Szene
3.4. Faktoren im sozialen Umfeld
4. Lebenswelten
4.1. Lebensorte
4.2. Lebensbedingungen
5. Lösungsansätze
5.1. Anforderung an Jugendhilfe und mobile Sozialarbeit
5.2. Die Alternative zum Kinderheim: Das „SULZ“ in Göttingen
6. Abschließende Bemerkungen
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Straßenkinder“ galten lange Zeit als ein Problem, das „lediglich“ Länder der Dritten Welt betraf. Dank umfangreicher und bisweilen sensationsheischender Berichterstattung der Medien, ist es jedoch mittlerweile kein Geheimnis mehr, daß es auch in der reichen Industrienation Deutschland Kinder und Jugendliche gibt, die nicht mehr im vermeintlich wohlbehüteten Schoß der Familie, sondern am Rand der Gesellschaft „auf der Straße“ aufwachsen. Im Gegensatz zu beispielsweise lateinamerikanischen Ländern sind die Ursachen in der Bundesrepublik jedoch nicht in materieller Armut begründet, sondern es handelt sich eher um emotionale Notlagen, die Kinder und Jugendliche aus ihrem Zuhause vertreiben, sei es gewollt oder ungewollt. Vielfach ist zumindest zu vermuten, „daß Jugendliche sich oft längst vor ihrer ersten Flucht in ihrem Zuhause nicht (mehr) zu Hause fühlen und wenig Zugehörigkeit zu ihrer Familie und zu Familientraditionen entwickeln können, so daß die faktische Obdachlosigkeit schließlich nur ein äußerer Spiegel der inneren Heimatlosigkeit dieser Jugendlichen ist.“1
Insgesamt handelt es sich um eine sehr vielschichtige Problematik, der mit monokausalen Erklärungsansätzen nicht beizukommen ist. Diese Arbeit soll daher die Kinder- und Jugendlichen auf ihren Wegen in die „Straßenexistenz“ begleiten, um die Ursachen für ihre besonderen individuellen Problemlagen zu verdeutlichen und weiterführend Lösungsansätze aufzuzeigen, mit deren Hilfe dem Entstehen bzw. der Verfestigung von Straßenkarrieren entgegengewirkt werden kann.
2. Zur Begriffsbestimmung „Straßenkinder“
2.1. Kurzer historischer Abriß
Besonders in jüngerer Zeit hat sich in der Bundesrepublik Deutschland ein verstärktes Interesse an Kindern und Jugendlichen entwickelt, für die die Straße im weitesten Wortsinn zum zentralen Aufenthalts- und Überlebensort geworden ist. Dabei ist jedoch festzuhalten, daß es sich bei dieser Thematik keineswegs um eine neuartige Erscheinung handelt, wenngleich sich die Ursachen bzw. Motivationen, die zu einem Leben auf der Straße führen, im Laufe der Zeit durchaus verändert haben. Waren in vorindustriellen Zeiten noch vor allem Kriege dafür verantwortlich, daß Kinder ihren Familien entrissen wurden und ohne elterliche Obhut aufwachsen mußten, so kam spätestens mit dem Einsetzen von Industrialisierung und Urbanisierung ein weiterer wesentlicher Grund für die Zunahme der Anzahl „herumstreunender“ Kinder und Jugendlicher hinzu. Die Verarmung großer Bevölkerungsschichten führte sowohl zum Entstehen von tatsächlichen, „klassischen“ Obdachlosenexistenzen in den Armenvierteln der Städte als auch vielfach zu der Notwendigkeit, sich zwecks Arbeitssuche auf Wanderschaft begeben zu müssen. Bereits zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zogen solche „umherwandernden“ Jugendlichen die Aufmerksamkeit auf sich: „Ich bin heute früh durch die Stadt gegangen und habe, ohne mich danach besonders umzusehen, etwa ein Dutzend von diesen Jugendlichen gesehen, und zwar die typischen Formen: solche, die noch mit Spazierstock, Rucksack und einem ordentlichen Anzug versehen, durchaus den Eindruck machten, daß sie aus ordentlichen Verhältnissen stammen und unter ganz normalen Umständen auf der Wanderschaft sind; andere hingegen, die bereits die Uniform eines Großstadtbummlers tragen, jene schmutzige Kleidung ohne Kragen und dergleichen, die schon bei weitem den Eindruck erwecken, daß sie im höchsten Grade hilfs- und schutzbedürftig sind; schließlich der dritte Typ: jene verwegenen Gesellen, die eigentlich schon richtige Landstreicher sind.“2
Neben der vornehmlich aus existenzieller materieller Not geborenen Obdachlosigkeit gab es jedoch auch schon zu Zeiten der Weimarer Republik Kinder und Jugendliche, die nicht aus den bislang genannten Gründen von zu Hause ausrissen. Zur Erklärung dieses Phänomens wurden lange Zeit psychopathologische oder medizinisch-psychiatrische Konzepte verwendet, die den Jugendlichen geistige bzw. psychische Anomalien unterstellten. Beispielsweise wurde bis in die sechziger Jahre von einer hirnorganisch bedingten Krankheit ausgegangen, der „Poriomanie“, d.h. eine geistige Störung, die für die triebhafte und motivlose „Herumtreiberei“ verantwortlich sei: „Bei der echten Poriomanie wird ausgeschlossen, daß dieser Wandertrieb durch Umwelteinflüsse hervorgerufen werden kann“3, vielmehr wurde vermutet, „daß es sich um Persönlichkeiten handelt, welche die Tendenz zum Fortlaufen (...) in sich tragen.“4 Auf der anderen Seite gab es bereits zu dieser Zeit auch schon psychologisch-pädagogische Ansätze, die das Augenmerk nicht allein auf die Person des fortlaufenden Jugendlichen richteten, sondern ebenfalls auf das soziale Umfeld: „Jugendliche Wegläufer werden als Unterschichtangehörige beschrieben, ausgestattet mit niedriger Intelligenz und geringer Bildung, aus `asozialen´ Lebensmilieus stammend.“5, wobei in diesem Zusammenhang das Davonlaufen als Ausdruck individueller „Verwahrlosung“ gedeutet wurde. Mit dieser starken Betonung des Aspekts der „Verwahrlosung“, mit dem zwar Symptome beschrieben wurden, ohne jedoch tatsächlich die Kausalzusammenhänge näher zu untersuchen, wurde den Jugendlichen erneut in erster Linie eine Art von individueller Fehlentwicklung unterstellt, nämlich das Vorherrschen von negativen, d.h. von den gängigen gesellschaftlichen Normen abweichenden Persönlichkeitsmerkmalen, Eigenschaften und Verhaltensweisen. Es erschien insgesamt undenkbar, daß „normale“ junge Menschen - scheinbar ohne zwingenden Grund - ihr Zuhause aufgaben. Die einzige akzeptable Begründung für dieses Verhalten konnte nur eine angeborene oder sonstwie erworbene geistige Abnormität sein, die man mittels der bei der Behandlung von Geisteskranken üblichen Methoden, wie Isolierung, Stationierung und medikamentöser Therapie, in den Griff zu bekommen versuchte. Diese Sichtweise dominierte in der wissenschaftlichen Fachliteratur bis Mitte/Ende der sechziger Jahre.6
Erst seit Anfang der siebziger Jahre wurde damit begonnen, sowohl die allgemeinen gesellschaftlichen Umstände als auch den familialen Hintergrund und die Sozialisationsbedingungen der Jugendlichen differenzierter zu betrachten. Das Weglaufen wurde in zunehmendem Maße nicht mehr auf gestörte Jugendliche, sondern auf gestörte bzw. problematische Familienverhältnisse zurückgeführt.
Mit der Hinwendung zur Analyse individueller biographischer Problemlagen wurde die Grundlage für modernere sozialpädagogische Betrachtungsweisen und Lösungsansätze geschaffen, wie sie z.B. zu Beginn der achtziger Jahre von Jordan / Trauernicht zusammengefaßt wurden.
2.2. „Klassische“ Kategorien (nach Jordan / Trauernicht):
Nach den Definitionen der „klassischen“ Typisierung von Kindern und Jugendlichen auf der Straße läßt sich zwischen „Ausreißern“, „Trebegängern“ und „Aussteigern“ unterscheiden. Bei „Ausreißern“ handelt es sich um Jugendliche, die aufgrund einer aktuellen (innerfamiliären) Krisensituation („als ungerecht empfundene Bestrafung, Beziehungsverweigerung der Eltern, Desinteresse etc.“7) kurzfristig aus ihren Herkunftsfamilien weglaufen, wobei auch „frustrierende Schulerfahrungen“8 eine Rolle spielen können. In der Regel geht es den „Ausreißern“ darum, ein Zeichen zu setzen und auf eine sie aktuell bedrängende Problemlage aufmerksam zu machen.
Im Gegensatz zum „Ausreißer“ bezeichnet der Begriff des „Trebegängers“ ein längerfristiges bis dauerhaftes Phänomen. „Trebegänger“ sind Jugendliche, die „in aller Regel ohne festen Wohnsitz und ohne regelmäßige Einkünfte eine häufig illegale Existenz in subkulturellen Lebenskontexten führen.“9 Zur näheren Bestimmung des „Trebegängers“ werden folgende Punkte genannt:
1. Anlaß des Ausbruchs ist eine massive Konfliktlage des Kindes oder Jugendlichen mit relevanten Bezugspersonen (Sozialisationsträgern).
2. Dieser Ausbruch führt zu einer nachhaltigen und einschneidenden Zäsur, d.h. zumeist zu einem endgültigen Abbruch von bisherigen Beziehungen.
3. Dem Ausbruch des Kindes oder des Jugendlichen folgt ein Milieuwechsel, eine von Instanzen der sozialen Kontrolle (Polizei, Gericht, Jugendamt) ständig bedrohte (illegale) Existenz, die häufig auch eine Integration in subkulturelle Lebenszusammenhänge einschließt.
4. Negative Erfahrungen mit Polizei, aber auch Jugendamt und sozialpädagogischen Einrichtungen und Diensten haben zur Folge, daß die Jugendlichen sich diesen Hilfeangeboten verweigern, die darin liegenden Abhängigkeiten zurückweisen und – wenn überhaupt – nur mit unkonventionellen, wenig bürokratisierten und wenig stigmatisierenden Angeboten zu erreichen sind.10
Als dritte Kategorie wird schließlich noch der „Aussteiger“ angeführt, der jedoch in erster Linie hinsichtlich der Erscheinungsform und weniger bis gar nicht in bezug auf die zugrundeliegenden Ursachen bzw. Motivationen mit „Ausreißern“ und „Trebegängern“ in einem Zusammenhang zu sehen ist.
Auch die „Aussteiger“ fallen durch einen den gängigen Werten und Normen nicht entsprechenden Lebensstil auf, jedoch wird dieser mehr oder weniger bewußt einer „bürgerlichen“ Existenz vorgezogen. Es ist eher eine Verweigerungshaltung gegenüber den herrschenden Normen und weniger eine aktuelle (familiäre) Krisensituation, die den Anlaß für das Ausbrechen liefert.
2.3. Zum heutigen Begriff „Straßenkind“
Der Begriff „Straßenkind“ bezog sich ursprünglich vor allem auf die Situation von Kindern in der „Dritten Welt“: „Straßenkinder: auf sich selbst gestellte Kinder (bes., aber nicht nur in Ländern der Dritten Welt), die ihren Lebensunterhalt durch Kinderarbeit bestreiten müssen, z.T. zur Kleinkriminalität als Mittel der Existenzsicherung greifen und unter Ausnutzung ihrer Lage oft auch als Kinderprostituierte mißbraucht werden.“11 Im Zuge der nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in vielen osteuropäischen Staaten festzustellenden gesellschaftlichen Zerfallserscheinungen wurde in den Medien zunehmend auch von „Straßenkindern“ in Moskau etc. berichtet. War dies in Anbetracht der dort herrschenden Verhältnisse noch angebracht, so erscheint die seit Beginn der 90er Jahre zu beobachtende Übertragung des Begriffs „Straßenkinder“ auch auf die Situation in Westeuropa bzw. Deutschland nicht unproblematisch. Ein wesentlicher Kritikpunkt an der undifferenzierten Übernahme dieser Bezeichnung ist die Tatsache, daß dadurch die gravierenden qualitativen Unterschiede zwischen beiden Phänomenen verwischt werden: „In den Elendsvierteln der ‘3. Welt’ treibt materielle Not, bitterer Hunger Kinder auf die Straße. Hier, in unserem Wohlstandsstaat, ist es jedoch emotionale Not, Hunger nach Liebe und Anerkennung, der Kindern als letzten Ausweg den schmutzigen Platz am Rande der Gesellschaft läßt.“12
Neben diesem grundsätzlichen Unterschied stellt sich jedoch auch die Situation in Deutschland weitaus heterogener dar, als es in dem generalisierenden Begriff „Straßenkinder“ zum Ausdruck kommt. Die sozialen und biographischen Hintergründe der „Straßenkinder“ sind ebenso differenziert zu betrachten wie ihre Zugangswege zur Straße (siehe Abschnitt 3). Auch hinsichtlich der weiteren mit dem Begriff verbundenen Implikationen ist Zurückhaltung angebracht. Zum einen handelt es sich in Deutschland (auch im Gegensatz zu den oben genannten Regionen) in den meisten Fällen nicht „um Kinder, also um unter Vierzehnjährige (...), die ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße haben, sondern in erster Linie um ältere Jugendliche und junge Erwachsene“13, wobei jedoch nicht aus den Augen gelassen werden darf, daß es durchaus „Kinder in benachteiligten Stadtteilen in ost- und westdeutschen Städten (gibt), für die ‘die Straße’ oft schon ab sechs/acht Jahren zum Lebensmittelpunkt wird.“14
Zum anderen muß auch der Begriff der „Straße“ weitergefaßt werden: „Straße als Lebens- und Handlungsraum bezeichnet hier allgemein ‘öffentliche Orte’, also Parks, Plätze, Straßen, bedeutet aber noch nicht, daß die Jugendlichen ständig im Freien übernachten müßten.“15 Auch wenn viele sich tagsüber auf der Straße als einem Ort mit einem geringen Maß an sozialer Kontrolle aufhalten, verbringen sie die Nächte teilweise noch zu Hause oder nutzen die Möglichkeit, bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf zu finden. „In der Regel verfügen Minderjährige (noch) über soziale Netzwerke, die ihnen immer wieder ein (kurzfristiges) Unterkommen ermöglichen oder sie werden (noch) in Jugendhilfemaßnahmen betreut, wo sie übernachten können.“16 Insofern unterscheidet sich diese „Lebensart“ zwar von jener „klassischen“ Obdachlosigkeit, wie wir sie teilweise von Erwachsenen kennen, die als „Berber“ für längere Zeit auch faktisch ohne ein Dach über dem Kopf leben müssen. Hierbei ist jedoch anzumerken, daß auch dieser Typus der offenen Obdachlosigkeit heutzutage eher in den Hintergrund getreten ist und von verdeckten Formen abgelöst wird.
Insgesamt betrachtet ist es schwierig, klare Grenzen zu ziehen, die deutlich markieren, wo bereits von tatsächlicher Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit, also vom „Straßenkind“ in klassischer Hinsicht zu sprechen wäre, und wo die betreffenden Jugendlichen noch soweit in unterstützende Netzwerke eingebunden sind, daß eine solche Bezeichnung verfrüht erscheint: „Kinder und Jugendliche entziehen sich – oft schrittweise und nicht abrupt – den gesellschaftlich vorgesehenen Sozialisationsinstanzen (Familie / Heim, Schule / Ausbildung) oder werden von ihnen ausgegrenzt, bis sie schließlich faktisch obdachlos sind oder höchstens noch ‘mit einem Bein zu Hause’ leben.“17
In der 1995 veröffentlichten Studie des Deutschen Jugendinstituts „Straßenkinder“ wird daher in diesem Zusammenhang der Begriff der „Straßenkarriere“ eingeführt, was den Fokus auf den Prozeßcharakter richtet. Das Leben „auf der Straße“ ist in den meisten Fällen kein statischer Zustand, und eine Herangehensweise, die durch den undifferenzierten und bisweilen plakativen Gebrauch des Terminus „Straßenkind“ nur den scheinbaren Endpunkt in Augenschein nimmt, läßt wichtige Aspekte der Dynamik unterschiedlicher Lebensläufe außer Acht.
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1 Permien / Zink, S. 103
2 zit. nach: Simon,T., S. 4 auf: www.buddy-projekt.de
3 Jordan / Trauernicht, S. 40
4 ebd.
5 ebd., S. 42
6 vgl. ebd., S. 39 ff.
7 ebd., S. 18
8 ebd.
9 ebd., S. 19
10 ebd.
11 laut Brockhaus-Definition
12 „Buddy-Projekt“, S. 14
13 Hansbauer in: „Lebensort Straße“, S. 29
14 Deutsches Jugendinstitut: „Straßenkinder“ (= DJI-Studie), S. 8
15 „Buddy-Projekt“, S. 14
16 Hansbauer, S. 31
17 Permien / Zink, S. 24