Ist der "Brexit" das Ende der EU? Warum kann ein Mitgliedstaat aus der EU austreten, war ein solcher Schritt bereits seit Gründung der Gemeinschaften zulässig und ist sogar ein EU-Ausschluss gegen den Willen des betroffenen Mitgliedstaates möglich? Der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen rund um die Beendigung einer Mitgliedschaft in der EU und die Austrittsklausel des Art. 50 EUV ist der folgende Beitrag gewidmet.
Gelegentlich hört oder liest man, das Vereinigte Königreich habe dem Wunsch, dass die europäische Integration unaufhaltsam voranschreiten würde, am 23.06.2016 eine historische Absage erteilt. Der Glaube, dass diese nur eine Richtung kenne, gepaart mit der weitgehenden Ignoranz eines bestenfalls in der Theorie für möglich gehaltenen Austritts eines Mitgliedstaates, sei auf die Probe gestellt worden.
Derartigen Stimmen ist zuzugeben, dass der "Brexit" in der Tat mit einer mancherorts zunehmend kritischen Hinterfragung der EU einhergeht. Dabei ist zu beobachten, dass sich euroskeptische und populistische Akteure wachsender Beliebtheit erfreuen, welche sich etwa anhand der jüngeren Wahlen in Frankreich oder Österreich nachzeichnen lässt und mit einer Ablehnung der EU als rechtsetzende, supranationale Organisation und Konzeption einer engen Zusammenarbeit der europäischen Völker korrespondiert.
Aber auch wenn das mediale Echo im Anschluss an das "Brexit"-Referendum den Anfang vom Ende der EU suggeriert haben mag, so ist dies doch primär dem Schock über das aus der Sicht vieler enttäuschende Abstimmungsergebnis zuzuschreiben. Die Bedeutung des "Brexit" für die Zukunft der EU ist im Moment nur sehr vage zu prognostizieren, sodass allzu pessimistische Lagebilder nach Möglichkeit vermieden werden sollten. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die EU gestärkt aus dem "Brexit" hervorgeht und am Ende sogar wieder an Popularität gewinnt.
Dennoch lohnt sich in jedem Fall eine Untersuchung der Thematik, wirft diese doch interessante dogmatische Probleme aus dem Europa und Völkerrecht auf. Bevor in diesem Zusammenhang auf Hintergründe und Entstehungsgeschichte des Art. 50 EUV eingegangen wird, soll die zuvor geführte Debatte über die Zulässigkeit eines einseitigen Austritts aus den Gemeinschaften beziehungsweise der EU erörtert werden. Danach wird untersucht, ob neben Art. 50 EUV alternative Verfahren eines EU-Austritts existieren.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
A. Einleitung
B. Hauptteil
I. Zulässigkeit eines einseitigen Austritts vor Art. 50 EUV
1. "Völkerrechtlicher" Ansatz
2. "Autonomer" Ansatz
3. Sichtweise des BVerfG im Maastricht- und Lissabon-Urteil
4. Bewertung und Stellungnahme
II. Entstehungsgeschichte und Hintergründe zur Einführung des Art. 50 EUV durch den Vertrag von Lissabon
1. Entstehungsgeschichte des Art. 50 EUV
2. Hintergründe zur Einführung des Art. 50 EUV
a) Beweggründe für die Einführung des Art. 50 EUV
b) Reaktionen auf die Einführung des Art. 50 EUV
aa) Befürworter des Art. 50 EUV
bb) Kritiker des Art. 50 EUV
cc) Bewertung und Stellungnahme
III. Alternative Verfahren eines EU-Austritts neben Art. 50 EUV
1. Anwendbarkeit des Art. 62 WVK neben Art. 50 EUV
a) Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts
b) Art. 50 EUV als "lex specialis" zu Art. 62 WVK
aa) Argumente gegen eine Spezialität des Art. 50 EUV
bb) Argumente für eine Spezialität des Art. 50 EUV
cc) Bewertung und Stellungnahme
c) Ergebnis
2. Auflösung der EU durch multilateralen Aufhebungsvertrag
a) Gegner eines Aufhebungsvertrages
b) Befürworter eines Aufhebungsvertrages
c) Bewertung und Stellungnahme
3. Zulässigkeit eines "Teilaustritts" und einer "Teilmitgliedschaft"
4. Austritt durch multilateralen Entlassungsvertrag
IV. Reaktionsmöglichkeiten der EU und der Mitgliedstaaten auf die Errichtung einer Militärdiktatur in einem Mitgliedstaat
1. Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258-260 AEUV
a) Anwendbarkeit des Vertragsverletzungsverfahrens
b) Anwendung auf den Fall
c) Ergebnis
2. Verfahren nach Art. 7 EUV
3. Ausschluss aus der EU
a) Ausschlussmöglichkeit nach dem Unionsrecht
b) Ausschlussmöglichkeit nach dem allgemeinen Völkerrecht
aa) Anwendbarkeit des allgemeinen Völkerrechts
bb) Abschließende Spezialregelung im Unionsrecht
(1) Spezialität des Unionsrechts (Art. 7 EUV, Art. 258-260 AEUV)
(2) Keine Spezialität des Unionsrechts (Art. 7 EUV, Art. 258-260 AEUV)
II
(3) Zwischenergebnis
cc) Zwischenergebnis
c) Anwendung auf den Fall
4. Ergebnis
C. Abschlussbemerkung
Literaturverzeichnis
Rechtsprechungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
A. Einleitung
Ist der "Brexit" das Ende der EU? Warum kann ein Mitgliedstaat aus der EU austreten, war ein solcher Schritt bereits seit Gründung der Gemeinschaften zulässig und ist sogar ein EU-Ausschluss gegen den Willen des betroffenen Mitgliedstaates möglich? Der Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen rund um die Beendigung einer Mitglied-schaft in der EU und die Austrittsklausel des Art. 50 EUV ist der fol-gende Beitrag gewidmet. Gelegentlich hört oder liest man, das Verei-nigte Königreich habe dem Wunsch, dass die europäische Integration unaufhaltsam voranschreiten würde, am 23.06.2016 eine historische Absage erteilt.1 Der Glaube, dass diese nur eine Richtung kenne, ge-paart mit der weitgehenden Ignoranz eines bestenfalls in der Theorie für möglich gehaltenen Austritts eines Mitgliedstaates, sei auf die Probe gestellt worden.2
Derartigen Stimmen ist zuzugeben, dass der "Brexit" in der Tat mit ei-ner mancherorts zunehmend kritischen Hinterfragung der EU einher-geht.3 Dabei ist zu beobachten, dass sich euroskeptische und populisti-sche Akteure wachsender Beliebtheit erfreuen, welche sich etwa an-hand der jüngeren Wahlen in Frankreich oder Österreich4 nachzeich-nen lässt und mit einer Ablehnung der EU als rechtsetzende, suprana-tionale Organisation und Konzeption einer engen Zusammenarbeit der europäischen Völker korrespondiert.5 Aber auch, wenn das mediale Echo im Anschluss an das "Brexit"-Referendum den Anfang vom Ende der EU suggeriert haben mag,6 so ist dies doch primär dem Schock über das aus der Sicht vieler enttäuschende Abstimmungser-gebnis zuzuschreiben. Die Bedeutung des "Brexit" für die Zukunft der EU ist im Moment nur sehr vage zu prognostizieren, sodass allzu pes-simistische Lagebilder nach Möglichkeit vermieden werden sollten. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die EU gestärkt aus dem "Bre-xit" hervorgeht und am Ende sogar wieder an Popularität gewinnt.7 Dennoch lohnt sich in jedem Fall eine Untersuchung der Thematik, wirft diese doch interessante dogmatische Probleme aus dem Europa-und Völkerrecht auf. Bevor in diesem Zusammenhang auf Hinter-gründe und Entstehungsgeschichte des Art. 50 EUV eingegangen wird, soll die zuvor geführte Debatte über die Zulässigkeit eines ein-seitigen Austritts aus den Gemeinschaften bzw. der EU erörtert wer-den. Danach wird untersucht, ob neben Art. 50 EUV alternative Ver-fahren eines EU-Austritts existieren. Schließlich wird erörtert, was die EU und/oder die Mitgliedstaaten in einem Szenario, welches einen Putsch im Mitgliedstaat S zum Gegenstand hat, tun können, um darauf zu reagieren, und ob sogar ein unfreiwilliger Ausschluss des S aus der EU möglich ist.
B. Hauptteil
I. Zulässigkeit eines einseitigen
Austritts vor Art. 50 EUV Zunächst soll der früher ausgetragene Streit um die Zulässigkeit eines Austritts aus den Gemeinschaften bzw. der EU dargestellt werden. Vor dem Vertrag von Lissabon existierte kein ausdrückliches Austritts-recht.8 Daher war entscheidend, ob die Regeln des allgemeinen Völ-kerrechts, Art. 54 ff. WVK,9 auch innerhalb der Gemeinschaften bzw. der EU anwendbar blieben. Der Streit, der sich an Art. 312 EGV (heu-te: Art. 356 AEUV) und Art. 51 EUV (heute: Art. 53 EUV) entzünde-te, ist zwar nunmehr von historischem Interesse, jedoch lassen sich Bezüge zum unten zu behandelnden EU-Ausschluss herstellen.10 In der Debatte existierten zwei "Lager", deren diametral entgegenge-setzte Ansichten entscheidend von ihrem Vorverständnis des Verhält-nisses von Unionsrecht zu seinen völkerrechtlichen Grundlagen be-stimmt waren.11 Wollte man den Versuch einer terminologischen Klas-sifizierung unternehmen, so kann man einen "völkerrechtlichen" bzw. "traditionellen" und einen "autonomen" bzw. "supranationalen" Ansatz ausmachen;12 die jeweiligen Vertreter der unterschiedlichen Sichtwei-sen werden auch als "Traditionalisten" und "Autonomisten" bezeich-net.13 Einig waren sich beide lediglich darin, dass ein Staat rein fak-tisch nicht an einem einseitigen Austritt aus den Gemeinschaften bzw. der EU gehindert werden konnte.14
1. "Völkerrechtlicher" Ansatz
Die "Traditionalisten" gingen davon aus, dass das Gemeinschafts-bzw. Unionsrecht trotz gewisser Besonderheiten seinen völkerrechtli-chen Ursprüngen verhaftet blieb und sich nicht endgültig von diesen "emanzipiert" hatte. Ihnen zufolge blieb das Unionsrecht im Kern Völ-kerrecht, da es durch völkerrechtliche Verträge zwischen Völker-rechtssubjekten entstanden und die dadurch geschaffene Rechtsord-nung infolgedessen auch Völkerrecht sei.15 Zur Begründung einer Austrittsmöglichkeit wurde auf die Reversibilität der europäischen Integration abgestellt, indem man betonte, dass die Mitgliedstaaten auf-grund ihrer Souveränität "Herren der Verträge" blieben.16 Damit waren die Regeln des allgemeinen Völkerrechts anwendbar, was bedeutete, dass etwa eine Vertragskündigung als zulässig erachtet wurde.17 So sollten die Art. 56, 60-62 WVK anwendbar sein, insbesondere sollte nach der "clausula rebus sic stantibus", Art. 62 WVK, unter engen Voraussetzungen ein einseitiges Beendigungsrecht in Betracht kom-men.18 Dabei sollte aufgrund der Dichte der Rechtsbeziehungen ein einseitiger Austritt freilich erst dann zulässig sein, wenn alle anderen Möglichkeiten, etwa eine Vertragsanpassung, ausgeschöpft waren, ein weiterer Verbleib des Staates in den Gemeinschaften bzw. der EU für diesen unzumutbar wäre, eine Suspendierung des Vertrages nicht denkbar und alle milderen Lösungen erfolglos ausgeschöpft waren.19
2. "Autonomer" Ansatz
Die "Autonomisten" meinten, das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht stelle eine mit einer bundesstaatlichen Verfassung vergleichbar auto-nome Rechtsordnung dar, deren Emanzipation vom Völkerrecht einem einseitigen Austritt entgegenstünde.20 Zur Begründung wurden die Konstitutionalisierung der Verträge oder die Errichtung der Gemein-schaft auf unbestimmte Zeit angeführt.21 Ipsen vertrat, "[...] dass aus der vertraglichen Entstehungsgrundlage einer Ordnung nicht zwangs-läufig auf den [...] vertraglich-obligatorischen Inhalt der Ordnung ge-schlossen werden muss."22 Maßgeblich sei nicht der völkerrechtliche Entstehungsgrund, sondern die Natur des Geschaffenen.23 Dafür spre-che, dass sich das Unionsrecht erheblich vom Recht anderer interna-tionaler Organisationen unterscheide.24 Eine Kündigung stünde ferner im Widerspruch zu Art. 56 Abs. 1 lit. a) und b) WVK, da die Mitglied-(356), 1995; Michl, NVwZ 2016, S. 1365 (1365). staaten eine solche nicht zuzulassen beabsichtigten und sich dies auch nicht aus der Natur der Verträge ergebe.25 Eine Anwendung des Art. 62 Abs. 1, 2 WVK käme nicht in Betracht, stellte eine solche "Sezession" doch einen schwerwiegenden Eingriff in die Verfassungsstruktur der Gemeinschaften dar, welcher der Verzicht auf eine einseitige Vertrags-beendigung immanent sei.26 Diese regele Streitigkeiten und Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten zudem abschließend, vgl. Art. 219 EGV (jetzt: Art. 344 AEUV), sodass sich ein Rückgriff auf allgemeines Völkerrecht auch aus diesem Grunde verbiete.27 Wenngleich sich die frühen EuGH-Entscheidungen Van Gend & Loos 28 und Costa/E.N.E.L 29 nicht unmittelbar zum Austritt verhielten, so ließ sich dennoch eine diesbezüglich strikt ablehnende Haltung aus ihnen herauslesen: in Van Gend & Loos erklärte der EuGH, dass es sich beim Gemeinschaftsrecht um eine "neue Rechtsordnung des Völ-kerrechts"30 handele, in Costa/E.N.E.L. etablierte er den absoluten An-wendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalen Recht jegli-cher Art31 und begründete diesen aus dessen Autonomie und Suprana-tionalität heraus. Damit unterstrich er seine Emanzipation von völker-rechtlichen Ursprüngen, sodass auch ohne eine ausdrückliche Erklä-rung des EuGH zum einseitigen Austrittsrecht dessen ablehnende Hal-tung kaum zweifelhaft gewesen sein dürfte.
3. Sichtweise des BVerfG im Maastricht- und
Lissabon-Urteil Das BVerfG sprach sich im Urteil zum Vertrag von Maastricht32 (1993) für einen Austritt als letztes Mittel im Falle des Scheiterns der Stabilitätsgemeinschaft Währungsunion33 aus und hob so die Souverä-25 Weber, Art. 312 EGV, Rn. 7, in: von der Groeben/Schwarze, EU-/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003. nität der Mitgliedstaaten als "Herren der Verträge"34 hervor. Um diese zu wahren, sei es dem Bund im Hinblick auf Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG untersagt, einen Rechtsanwendungsbefehl zu einem nicht hinreichend bestimmbaren europäischen Integrationsprogramm nach Art. 23 Abs. 1 S. 2, Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG zu erteilen.35 Den eingeschlagenen Weg setzte es im Urteil zum Vertrag von Lissabon36 (2009) fort, indem es postulierte, dass ein Austritt aus dem Staatenverbund möglich sei, weil dieser auf dem Prinzip umkehrbarer Selbstbindung beruhe; gleichzei-tig statuierte es eine Pflicht der Unionsorgane, die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge zu achten.37 An prominenter Stelle griff das BVerfG den erstmalig im Maastricht-Urteil verwendeten Terminus des "Staatenverbundes" wieder auf und definierte diesen als eine "[...] enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten [...] deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitglied-staaten obliegt [...]."38 Insgesamt bestätigte das Gericht seine durch das Maastricht-Urteil wesentlich geprägte Rechtsprechung zur Übertra-gung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, wenngleich nun der Hinweis auf das "Kooperationsverhältnis" zwischen BVerfG und EuGH fehlte.39
4. Bewertung und Stellungnahme
Die überzeugenderen Argumente streiten dafür, das Unionsrecht auch weiterhin als Völkerrecht zu betrachten: die Verträge selbst sehen kei-ne Loslösung vom Völkerrecht vor, es gibt einen Kontrollvorbehalt in den mitgliedsstaatlichen Verfassungen und die Kompetenzen der EU können nur durch völkerrechtliche Verträge erweitert werden.40 Die im Grunde von allen Seiten unbestrittene Einzigartigkeit des Unions-rechts erfordert nicht zwingend die dogmatische Konstruktion einer autonomen Rechtsordnung. Vielmehr kann man die Mitgliedschafts- verfassung der EU als spezifische Entwicklungsstufe des Völkerrechts verstehen.41 Eine subsidiäre Anwendung des allgemeinen Völkerrechts bleibt daher möglich. Unter dem Gesichtspunkt staatlicher Souveräni-tät erschiene die Annahme, dass vor Art. 50 EUV ein Austritt aus eige-ner Kraft unmöglich sei, zu weitgehend. Die EU ist eben kein Staat, sondern lediglich ein "Staatenverbund".42 Zwar ist zuzugeben, dass die Anwendung des Art. 62 WVK in einem gewissen Spannungsverhältnis zum exklusiven Charakter des Unionsrechts und zur Mitgliedschafts-verfassung der EU steht.43 Dennoch sollte auch früher der einseitige Austritt dem Scheitern der EU vorgezogen werden.44 Gerade weil die europäische Integration zu Recht einen derart hohen Stellenwert ein-nimmt, darf sie sich nicht als "Einbahnstraße" entpuppen. Ebenso kann der unbegrenzten Geltungsdauer der Verträge keine Aussage zum Austritt entnommen werden, stellt diese doch in Abgrenzung zur EGKS bloß fest, dass die Verträge in zeitlicher Hinsicht nicht auslau-fen.45 Damit erscheint der völkerrechtliche Ansatz insgesamt vorzugs-würdig, sodass ein einseitiger Austritt bereits vor dem Vertrag von Lissabon nach Art. 62 WVK möglich war.
II. Entstehungsgeschichte und Hintergründe zur Einführung des Art. 50 EUV durch den Vertrag von Lissabon
Im Folgenden werden Entstehungsgeschichte und Hintergründe der Austrittsklausel des Art. 50 EUV untersucht.
1. Entstehungsgeschichte des Art. 50 EUV
Art. 50 EUV, der fast vollständig - abgesehen von wenigen Änderun-gen - mit Art. I-60 des gescheiterten VVE46 übereinstimmt, normiert zum ersten Mal ein explizites und einseitiges Austrittsrecht eines Mit-41 Vgl. Meng, a.a.O. (Fn. 10), Art. 50 EUV, Rn. 13. gliedstaates aus der EU.47 Art. I-60 VVE geht auf Art. I-59 des Ent-wurfs eines Vertrags über eine Verfassung für Europa48 zurück.49 Die-ser wurde vom "Konvent zur Zukunft Europas", welcher durch die Er-klärung des Europäischen Rates von Laeken im Dezember 2001 ein-berufen wurde, unter der Leitung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing zur Vorbereitung der für 2004 angesetzten Regierungskonferenz erarbeitet.50 Der Verfassungs-konvent wurde damit beauftragt, die Verträge neu zu ordnen und durch Entwicklung einer Verfassung zu vereinfachen, um die EU auf diese Weise demokratischer, transparenter und effizienter zu gestalten.51 Auf das Abschlussdokument des Konvents vom 18.07.2003 als Grundlage des neuen VVE einigten sich die Staats- und Regierungschefs des Eu-ropäischen Rates im Juni 2004, wobei nur vereinzelt Änderungen vor-genommen wurden.52 Nachdem der VVE an den ablehnenden Refe-renden in Frankreich und den Niederlanden im Mai und Juni 2005 scheiterte,53 wurden die Verträge EGV und EUV letztlich durch den am 13.12.2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon54 reformiert, al-lerdings unter Verzicht auf den Begriff "Verfassung" und alle den Ein-druck von "Staatlichkeit" erweckenden Elemente.55 So existiert nun-mehr kein Artikel über eine Flagge oder Hymne der EU.56 Dabei greift der Vertrag von Lissabon freilich die wichtigsten Reformen des ge-scheiterten VVE erneut auf.57
2. Hintergründe zur Einführung des Art. 50 EUV
a) Beweggründe für die Einführung des Art. 50 EUV
Mit Art. 50 EUV hat sich der Streit um das einseitige Austrittsrecht -zumindest was die Praxis des Unionsrecht anbelangt - erledigt.58 Da-durch wird insbesondere das Schicksal der EU von dem der Mitglied-staaten separiert und ihre Verselbstständigung betont.59 Gerade die neuen Mitgliedstaaten machten sich für ein Austrittsrecht stark, wohl befürchtend, ihre gerade erst erlangte Unabhängigkeit wieder einzubü-ßen.60 Art. 50 EUV wurde auch normiert, um für Rechtsklarheit zu sorgen und euroskeptischen Akteuren die Flexibilität der EU zu de-monstrieren;61 diese sollte nicht als "Völkergefängnis" angesehen wer-den.62 Auch wollte man ihr nach Art. 50 Abs. 2 S. 2 EUV ermöglichen, am Austrittsprozess aktiv mitzuwirken ("Unionalisierung des Aus-tritts").63 Nach dem Willen des Präsidiums durfte die Wirksamkeit des Austritts aber nicht vom Zustandekommen eines Austrittsabkommens abhängen. Damit ging es auf diejenigen Akteure zu, denen zufolge das einseitige Austrittsrecht auch ohne explizite Normierung bestand.64 Aufgrund der "sunset-clause" des Art. 50 Abs. 3 EUV kann nun das Europäische Parlament auch durch eine Verweigerung der Zustim-mung nach Art. 50 Abs. 2 S. 4 2. HS EUV den Austrittsprozess nicht mehr torpedieren und so den Austritt des scheidenden Mitgliedstaates aus der EU verhindern.65
[...]
1 The Electoral Commission, EU referendum results, https://www.electoralcommission.org.uk/find-information-by-subject/elections-and-referendums/past-elections-and-referendums/eu-referendum/electorate-and-count-information, zuletzt besucht: 25.08.2017.
2 Skouris, EuZW 2016, S. 806 (807).
3 Thiele, EuR 2016, S. 281 (282).
4 Minist ère de l’Intérieur, Election présidentielle 2017 : résultats globaux du premier tour, https://www.interieur.gouv.fr/Archives/Archives-elections/Election-presidentielle-2017/Election-presidentielle-2017-resultats-globaux-du-premier-tour; Bundesministerium für Inneres, Bundespräsidentenwahl 2016, http://wahl16.bmi.gv.at/, zuletzt besucht: 25.08.2017.
5 Stokes, Euroscepticism Beyond Brexit, http://www.pewglobal.org/2016/06/07/euroskepticism-beyond-brexit/, zuletzt besucht: 25.08.2017. euroskepticism-beyond-brexit/, zuletzt besucht: 03.08.2017.
6 Friedrich/Weik, Der Brexit markiert den Anfang vom Ende der EU und des Euros, http://www.focus.de/finanzen/experten/weik_und_friedrich/crash-propheten-prognostizieren-der-brexit-markiert-den-anfang-vom-ende-der-eu-und-des-euros_id_5669187.html, zuletzt besucht: 25.08.2017.
7 Prokopetz, Die Deutschen sehen die EU plötzlich deutlich positiver, https://www.welt.de/politik/ausland/article167790026/Die-Deutschen-sehen-die-EU-ploetzlich-deutlich-positiver.html, zuletzt besucht: 25.08.2017.
8 Herdegen, Europarecht, S. 91, Rn. 9, 18. Aufl. 2016; Pache / R ösch, NVwZ 2008, S. 473 (479).
9 BGBl. 1985 II, S. 926.
10 Meng, Art. 50 EUV, Rn. 2, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, EU-Recht, 7. Auf. 2015.
11 Vgl. D örr, Art. 50 EUV, Rn. 1, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, 61. EL April 2017; dazu auch Heintschel von Heinegg, Art. 50 EUV, Rn. 3, in: Vedder/ders., EU-Recht, 1. Aufl. 2012.
12 Thiele, a.a.O. (Fn. 3), S. 289.
13 Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, S. 64, Rn. 234, 235, 2007.
14 Pechstein, Art. 49 EUV a. F., Rn. 17, in: Streinz, EUV/EGV, 1. Aufl. 2003.
15 Schweitzer/Hummer/Obwexer, a.a.O. (Fn. 13), S. 64, Rn. 234.
16 BVerfGE 89, S. 155 (204); Huber, Staatenverbund der EU, in: Ipsen/Rengeling/M össner/Weber, Verfassungsrecht im Wandel, S. 349
17 Puttler, EuR 2004, S. 669 (676, 677).
18 Huber, a.a.O. (Fn. 16), S. 356; Pechstein, a.a.O. (Fn. 14), Art. 49 EUV a. F., Rn. 17.
19 Cremer, Art. 53 EUV, Rn. 3, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Auflage 2016; Oppermann, Europarecht, S. 225, Rn. 599, 2. Aufl. 1999.
20 Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung, S. 613 f., 619 f., 2003.
21 Ipsen, EG-Recht, S. 64, 1972; Schwarze, EuR 1983, S. 1 (16).
22 Ipsen, a.a.O. (Fn. 21), S. 59.
23 Vgl. Ipsen, a.a.O. (Fn. 21), S. 59; Schweitzer/Hummer/Obwexer, a.a.O. (Fn. 13), S. 64, Rn. 235.
24 Vgl. Streinz, Europarecht, S. 47, Rn. 124, 10. Auflage 2016.
25 Vgl. Streinz, Europarecht, S. 47, Rn. 124, 10. Auflage 2016.
26 Ipsen, a.a.O. (Fn. 21), S. 100; Schwarze, a.a.O. (Fn. 21), S. 18.
27 Hilf, Art. 240 EGV, Rn. 6, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EU-/EG-Vertrag, 5. Aufl. 1997.
28 EuGH, Urteil vom 5.2.1963, Rs. 26/62, Van Gend & Loos, ECLI:EU:C:1963:1, S. 1 ff.
29 EuGH, Urteil vom 15.7.1964, Rs. 6/64, Costa gegen E.N.E.L., ECLI:EU:C:1964:66, S. 1253 ff.
30 EuGH, a.a.O. (Fn. 28), S. 25.
31 EuGH, a.a.O. (Fn. 29), S. 1269, 1270.
32 Vertrag von Maastricht über die Europäische Union, ABl. C 191 vom 29.7.1992, S. 1 ff.
33 BVerfGE 89, S. 155 (204).
34 BVerfGE, a.a.O. (Fn. 33), S. 190.
35 BVerfGE, a.a.O. (Fn. 33), S. 156, 187.
36 Vertrag von Lissabon, ABl. Nr. C 306 vom 17.12.2007, S. 1 ff.
37 BVerfGE 123, S. 267 (350).
38 BVerfGE, a.a.O. (Fn. 37), S. 267, 1. LS.
39 Bieber/Epiney/Haag/Kotzur, EU, S. 93, 94, Rn. 84, 12. Aufl. 2016.
40 Streinz, a.a.O. (Fn. 24), S. 48, Rn. 126.
41 Streinz, a.a.O. (Fn. 24), S. 48, Rn. 126.
42 BVerfGE, a.a.O. (Fn. 33), S. 156, 8. LS.
43 Vgl. Terhechte, Art. 53 EUV, Rn. 10, in: Pechstein/Nowak/H äde, EUV, GRC und AEUV, Band I, 1. Aufl. 2017.
44 Puttler, a.a.O. (Fn. 17), S. 678.
45 Calliess, Art. 50 EUV, Rn. 10, in: ders./Ruffert, a.a.O. (Fn. 19); Dagtoglou, Rücktritt von den römischen Verträgen?, S. 77 (78), in: FS Forsthoff, 1972.
46 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. Nr. C 310 vom 16.12.2004, S. 1 ff.
47 Calliess, a.a.O. (Fn. 45), Art. 50 EUV, Rn. 1.
48 Entwurf zum Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. Nr. C 169 vom 18.07.2003, S. 1 ff.
49 D örr, a.a.O. (Fn. 11), Art. 50 EUV, Rn. 6.
50 Fischer, Konvent zur Zukunft Europas, S. 23, 27, 1. Aufl. 2003; Hellmann, Vertrag von Lissabon, S. 3, 4, Berlin 2009.
51 Erklärung von Laeken, Doc. SN 300/1/01 REV 1, S. 19 ff., https://www.cvce.eu/de/obj/erklarung_von_laeken_zur_zukunft_der_eu ropaischen_union_15_dezember_2001-de-a76801d5-4bf0-4483-9000-e6df94b07a55.html, zuletzt besucht: 25.08.2017.
52 Puttler, a.a.O. (Fn. 17), S. 677; Streinz, a.a.O. (Fn. 24), S. 15, Rn. 12.
53 Hellmann, a.a.O. (Fn. 50), S. 6.
54 Vertrag von Lissabon, a.a.O. (Fn. 36), S. 1 ff.
55 Streinz/Ohler/Hermann, Vertrag von Lissabon, S. 15, 16, 3. Aufl. 2010.
56 Streinz, a.a.O. (Fn. 24), S. 21, Rn. 61.
57 Scholz, Art. 23 GG, Rn. 16, in: Maunz/D ürig, GG-Kommentar, 79. EL Dezember 2016; Zimmermann, KommJur 2008, Heft 2, S. 41 (42).
58 Heintschel von Heinegg, a.a.O. (Fn. 11), Art. 50 EUV, Rn. 3.
59 Streinz/Ohler/Hermann, a.a.O. (Fn. 55), S. 48.
60 Hanschel, NVwZ 2012, S. 995 (998); Schwarze, EuR 2003, S. 535 (558, 559); anders Zeh, ZEuS 2004, S. 173 (193, 194).
61 Europäischer Konvent, Das Sekretariat, CONV 724/03, Entwurf der Verfassung vom 24.5.2003, S. 134 - Überarbeiteter Text, Band I, http://register.consilium.europa.eu/doc/srv?l=DE&f=CV %20724%202003%20INIT, zuletzt besucht: 25.08.2017.
62 Streinz/Ohler/Hermann, a.a.O. (Fn. 55), S. 48.
63 D örr, a.a.O. (Fn. 11), Art. 50 EUV, Rn. 5.
64 Europäischer Konvent, a.a.O. (Fn. 61), S. 135.
65 Fischer, a.a.O. (Fn. 50), S. 192.