Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob die Pluralisierung sozialer Milieus im 21ten Jahrhundert zu einer ungleichen Gesundheitsförderung in der deutschen Gesellschaft führt. Es folgt ein sozioökonomischer Vergleich zwischen den Sinus-Milieus "Konservativ-Etablierte" und "Prekäre".
Nach einer Einschätzung des Statistischen Bundesamtes (2018) investierte der deutsche Staat 2017 erstmals über eine Milliarde Euro pro Tag in den Bereich Gesundheit. Insgesamt betrugen die Gesundheitsausgaben 374,2 Milliarden Euro – eine Steigerung um 4,9% gegenüber 2016 und ein Anteil von 11,4% des deutschen Bruttoinlandsproduktes. Folglich setzt der Sozialstaat Deutschland kontinuierlich erhebliche finanzielle Mittel ein, um vorhandene Versorgungsdefizite im deutschen Gesundheitssystem abzubauen und auszugleichen.
Die gesellschaftlich relevante Thematik einer ungleichen Gesundheitsförderung wird nicht nur national, sondern auch international kontrovers diskutiert. Schließlich ist die Gesundheit ein Gut, welches für jedes einzelne Individuum eine essentielle und fundamentale Bedeutung darstellt. Soziologisch betrachtet ist die Gesundheit ein generelles und zeitloses Phänomen und die Voraussetzung dafür, dass eine Gesellschaft funktionsfähig ist. Konkret bedeutet diese Erkenntnis, dass ein gesellschaftliches Problem dann auftritt, sobald eine Ungleichheit, ein Defizit oder eine Verletzung dieses kostbaren Gutes vorliegen.
Die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerte Sozialstaatlichkeit setzt sich zum Ziel, dieses gesellschaftliche Problem zu minimieren, erfordert aber gleichzeitig das Bemühen und die Verantwortung um soziale Gerechtigkeit seiner Bürger. Die deutsche Bundesregierung hat 2015 mit § 20a PrävG ein neues Präventionsgesetz zu einem Aufbau sowie zu einer Stärkung gesundheitsfördernder Strukturen verabschiedet. Die Etablierung eines solchen Gesetzes in unserer Gesellschaft ist ein wichtiger Schritt dahingehend, dass ungerechte und ungleiche Gesundheitschancen abgebaut werden, um jedem Individuum das Grundrecht auf eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung zu ermöglichen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Definitorischer Rahmen und aktueller Forschungsstand
2.1 Forschungsfrage
2.2 Definition
2.3 Forschungsstand
2.4 Methode
3 Soziologische Erklärungsansätze – Theorie und Analyse
3.1 Konflikttradition
3.1.1 Anwendung
3.2 Durkheimische Tradition
3.2.1 Anwendung
3.3 Rationalistische Tradition
3.3.1 Anwendung
3.4 Mikrointeraktionistische Tradition
3.4.1 Anwendung
4 Fazit
5 Literatur- und Quellenverzeichnis
1 Einleitung
Nach einer Einschätzung des Statistischen Bundesamtes (2018) investierte der deutsche Staat 2017 erstmals über eine Milliarde Euro pro Tag in den Bereich Gesundheit. Insgesamt betrugen die Gesundheitsausgaben 374,2 Milliarden Euro – eine Steigerung um 4,9% gegenüber 2016 und ein Anteil von 11,4% des deutschen Bruttoinlandsproduktes1 (Statista, 2019). Folglich setzt der Sozialstaat Deutschland kontinuierlich erhebliche finanzielle Mittel ein, um vorhandene Versorgungsdefizite im deutschen Gesundheitssystem abzubauen und auszugleichen.
Die gesellschaftlich relevante Thematik einer ungleichen Gesundheitsförderung wird nicht nur national, sondern auch international kontrovers diskutiert . Schließlich ist die Gesundheit ein Gut, welches für jedes einzelne Individuum eine essentielle und fundamentale Bedeutung darstellt. Soziologisch betrachtet ist die Gesundheit ein generelles und zeitloses Phänomen und die Voraussetzung dafür, dass eine Gesellschafft funktionsfähig ist. Konkret bedeutet diese Erkenntnis, dass ein gesellschaftliches Problem dann auftritt, sobald eine Ungleichheit, ein Defizit oder eine Verletzung dieses kostbaren Gutes vorliegen.
Die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerte Sozialstaatlichkeit setzt sich zum Ziel, dieses gesellschaftliche Problem zu minimieren, erfordert aber gleichzeitig das Bemühen und die Verantwortung um soziale Gerechtigkeit seiner Bürger. Die deutsche Bundesregierung hat 2015 mit § 20a PrävG ein neues Präventionsgesetz zu einem Aufbau sowie zu einer Stärkung gesundheitsförderlicher Strukturen verabschiedet (Bundesgesetzblatt, 2015, S. 1369). Die Etablierung eines solchen Gesetzes in unserer Gesellschaft ist ein wichtiger Schritt dahingehend, dass ungerechte und ungleiche Gesundheitschancen abgebaut werden, um jedem Individuum das Grundrecht auf eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung zu ermöglichen.
Allerdings stellt sich die offenkundige Frage, inwieweit ein erhöhtes Maß an finanziellen Ausgaben und eine Vielzahl von Gesetzesänderungen im Gesundheitssystem dazu beitragen, dass alle Bevölkerungsgruppen innerhalb des Landes gesundheitlich gerecht versorgt werden oder ob bestimmte Lebensumstände die Voraussetzung dafür sind, dass die einen gesundheitlich besser und die anderen gesundheitlich schlechter gefördert werden.
2 Definitorischer Rahmen und aktueller Forschungsstand
Aufgrund der Vielzahl an empirischen Untersuchungen und Studien wird sich diese Arbeit insbesondere an den Untersuchungen und Studien durch Thomas Lampert, Matthias Richter und Andreas Mielck sowie an den milieuspezifischen Befunden durch Carsten Wippermann orientieren. Einzelne Teile dieser Befunde beziehen sich auf die Milieus „Konservative“ sowie „Konsum-Materialisten“, die ab 2010 namentlich zu den Milieus „Konservativ-Etablierte“ und „Prekäre“ geändert wurden.
2.1 Forschungsfrage
Die Forschungsfrage liegt dem wissenschaftlich relevanten Forschungsproblem zugrunde, dass bestimmte gesellschaftliche Schichten in der deutschen Gesundheitsförderung sozial benachteiligt sind (Janßen, Frie, Dinger, Schiffmann & Ommen, 2009, S. 150). Mit Hilfe einer zeitlichen sowie räumlichen Eingrenzung des Themenspektrums wird nach Möglichkeit die folgende Forschungsfrage beantwortet werden können: Führt die Pluralisierung sozialer Milieus im 21. Jahrhundert zu einer ungleichen Gesundheitsförderung in der deutschen Gesellschaft? Ein sozioökonomischer Vergleich zwischen den Sinus Milieus „Konservativ-Etablierte“ und „Prekäre“. In den folgenden Kapiteln wird die systematische Erläuterung allgemeingültiger Definitionen, das methodische Vorgehen sowie die Darlegung des aktuellen Forschungsstandes eine wissenschaftliche Grundlage schaffen, um die Forschungsfrage verständlich und spezifisch beantworten zu können.
2.2 Definition
Die Gesundheitsförderung ist ein elementar wichtiger Begriff und wurde im Rahmen der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung durch die damals Verantwortliche der Weltgesundheitsorganisation, Ilona Kickbusch, am 21. November 1986 allgemeingültig definiert (Franzkowiak, 2011, S. 259): „Gesundheitsförderung definiert sich durch das Zusammenführen von zwei strategischen Ansätzen: der Stärkung von persönlicher und sozialer Gesundheitskompetenz verbunden mit einer systematischen Politik, die auf die Verbesserung von Gesundheitsdeterminanten und den Abbau von gesundheitlicher Ungleichheit abzielt.“ (Kickbusch, 2003, S. 182). Diese Definition verdeutlicht, dass die Gesundheitsförderung ein Prozess ist, an dem die Gesellschaft sowohl auf Makro- als auch auf Mikroebene, sprich der jeweilige Staatenverbund sowie deren Individuen, stetig handeln müssen, um gesundheitliche Ungleichheiten durch eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik abzubauen (Hildebrandt & Kickbusch, 1995, S. 1).
Der direkte Vergleich zwischen den zwei gesellschaftlich wirklichkeitsgetreuen Milieugruppen des aktuellen Sinus Modells (2017) „Konservativ-Etablierte“ sowie „Prekäre“ ist eine Möglichkeit, um soziale Ungleichheiten, definiert als „ … gesellschaftliche Vor- und Nachteile von Menschen … “ (Hradil, 2009, S. 36) in der deutschen Gesundheitsförderung objektiver und realer feststellen zu können. Das Sinus Modell umfasst zehn soziale Milieus, welche als „ … Gruppen Gleichgesinnter mit ähnlichen Grundwerten und Prinzipien der Lebensführung, die sich durch … Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen auszeichnen“ beschrieben werden (Barth, Flaig, Tautscher & Schäuble, 2018, S. 3). Das Sinus Milieu ist seit über drei Jahrzehnten „ein wissenschaftlich fundiertes Gesellschaftsmodell“ (Barth et al., 2018, S. 6) und bildet die pluralisierte Lebenswelt, in der die Menschen eine Vielzahl an Möglichkeiten und Freiheiten zur Auswahl haben, entlang der Dimension „soziale Lage“, die die zugehörige Schicht in der Gesellschaft angibt, sowie der „Grundorientierung“ mit jeweiligen Werten der Tradition, Modernisierung, Individualisierung und Neuorientierung ab (Barth et al., 2018, S. 11): „Grundlegende Werteorientierungen werden dabei ebenso berücksichtigt wie Alltagseinstellungen (zu Arbeit, Familie, Freizeit, Konsum, Medien etc.) und die soziale Lage“ (Barth et al., 2018, S. 5). Das Leitmilieu „Konservativ-Etablierte“ ist auf der vertikalen Achse im Bereich der Oberschicht und oberen Mittelschicht und auf horizontaler Achse mit der Grundorientierung Tradition und Modernisierung angeordnet (Barth et al., 2018, S. 11). Das „Prekäre Milieu“ wird in die Unterschicht mit der Grundorientierung Modernisierung und Individualisierung gruppiert (Barth et al., 2018, S. 11). Nach einer Studie der VuMa Touchpoints (2019) sind beide Milieus mittleren Alters, allerdings verfügt das Milieu „Konservativ-Etablierte“ über hohe Bildungsabschlüsse, qualifizierte Angestellte und einem gehobenen Haushaltsnettoeinkommen. Hingegen ist das Prekäre Milieu durch niedrige Bildungsabschlüsse, einfache Angestellte, einem hohen Arbeitslosenanteil und einem niedrigen Haushaltsnettoeinkommen gekennzeichnet. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die beiden sozialen Milieus eine divergente Beziehung aufweisen: „Je höher ein Milieu in dieser Grafik angesiedelt ist, desto gehobener sind Bildung, Einkommen und Berufsgruppe … Je weiter rechts ein Milieu positioniert ist, desto moderner im soziokulturellen Sinne ist seine Grundorientierung“ (Barth et al., 2018, S. 11-12).
2.3 Forschungsstand
Um das Phänomen einer ungleichen Gesundheitsförderung zwischen den Sinus Milieus „Konservativ-Etablierte“ und „Prekäre“ besser darstellen zu können, bedarf es einer genauen Untersuchung des Kernbegriffes der gesundheitlichen Ungleichheit, die den Zusammenhang zwischen dem sozialen Status und der Gesundheit angibt und als eine „extreme Ausprägungsform sozialer Ungleichheit“ benannt wird (Lampert, Richter, Schneider, Spallek & Dragano, 2015, S. 153). Ursprünglich gilt der sogenannte Black Report, der 1980 in Großbritannien veröffentlicht wurde, als Initiator für weitere Forschungsuntersuchungen sozialer Determinanten der Gesundheit (Lampert et al., 2015, S. 154). In Deutschland gibt es epidemiologische Studien durch Untersuchungen des Robert Koch Instituts seit den 1990er- Jahren (Lampert, 2009, S. 121).
Die Forschung durch Richter und Hurrelmann (2009) stellen empirisch fest, dass Menschen mit niedrigem sozialem Status häufiger von Krankheiten, diversen gesundheitlichen Beschwerden und einer früheren Sterblichkeit betroffen sind (S. 16-19). Diese These wird seit mehreren Jahrzehnten kontinuierlich mit neuen Daten und Erhebungen empirisch belegt: „Privilegierte Schichten in Deutschland sind gesünder und haben eine längere Lebenserwartung als Menschen, die über geringere Bildung, weniger Einkommen und einen niedrigeren Berufsstatus verfügen“ (Wippermann, Arnold, Möller-Slawinski, Borchard & Marx, 2011, S. 105).
Als Gesundheitsindikator wird häufig die Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes erhoben, um subjektive Unterschiede zwischen Einkommensgruppen feststellen zu können. Die Studie zeigt auf, dass 30% der Männer und Frauen mit unter 60% des mittleren Einkommens ihren Gesundheitszustand als „weniger gut“ oder „schlecht“ bewerten. Je höher das Einkommen eines Menschen, desto besser wird der persönliche Gesundheitszustand bewertet (Robert Koch-Institut, 2018, S. 5). Es ist empirisch belegt, dass das soziale Milieu „Prekäre“ aufgrund eines geringeren Einkommens, Bildungsniveaus und problematischen Familienverhältnissen im Durchschnitt größere gesundheitliche Probleme und eine kürzere Lebenserwartung verglichen zu dem Milieu der „Konservativ-Etablierten“ hat (Wippermann et al., 2011, S. 67-106). Bei Betrachtung der Kumulation von Krankheitslasten sowie der Prävalenz von chronischen Krankheiten zeigt sich eine milieuspezifische Differenz, da das Prekäre Milieu der Unterschicht im Vergleich zu den Leitmilieus häufiger von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen, Fettleibigkeit, Diabetes und Allergien betroffen ist (Wippermann et al., 2011, S. 69-95; Robert Koch-Institut, 2018, S. 6-7). Die verhaltenskorrelierten Risikofaktoren durch den Tabakkonsum, der sportlichem Inaktivität und das Übergewicht bei 25- bis 69-jährigen Frauen und Männern nach Bildungsstatus weisen ebenfalls weitreichende Unterschiede zuungunsten der Bevölkerungsgruppe mit einem niedrigen sozialen Status (Robert Koch-Institut, 2018, S. 8). Das verdeutlicht, „dass die höhere Krankheitsbelastung der niedrigen Statusgruppe zumindest teilweise auf einen gesundheitsriskanten Lebensstil zurückzuführen ist“ (Hensen & Hensen, 2008). Schlussendlich korrespondieren die aufgeführten Krankheiten, Beschwerden und Risikofaktoren zwischen den beiden Schichten mit einer erhöhten vorzeitigen Mortalität zuungunsten statusniedriger Bevölkerungsgruppen (Lampert, 2009, S. 121). Die offenkundig ungleich verteilte Krankheitslast zwischen den beiden Milieus führt auf eine nicht transparente Gesundheitsversorgung zurück, da die Gesundheitsangebote nicht auf die Wünsche und Bedürfnisse einer pluralisierten Lebenswelt eingehen: „Erfolgt diese Anpassung der Angebotsseite an die Differenzierung der Nachfragerseite nicht, kommt es zu Phänomenen sozialer Ungleichheit – und letztlich zu gesellschaftlicher Ungerechtigkeit“ (Wippermann et al., 2011, S. 21-22). Beide Milieus klagen über eine mangelnde Transparenz bei der Gesundheitsversorgung, wobei sich insbesondere das Prekäre Milieu aufgrund eines teuren und komplizierten Gesundheitssystem vom deutschen Staat, der Politik sowie der Krankenkassen vernachlässigt fühlt (Wippermann et al., 2011, S. 32, S. 256).
Dieser Forschungsstand legt dar, dass in Deutschland „nur derjenige eine optimale gesundheitliche Versorgung bekommt, der über hohes Einkommen und Vermögen, Bildung und soziales Kapital verfügt“ (Wippermann et al., 2011, S. 33) und je höher ein soziales Milieu angeordnet ist, desto besser ist sein Gesundheitszustand sowie -förderung. Dieses Phänomen, welches seit Jahrzehnten in unserer Gesellschaft omnipräsent ist, wird als „Statussyndrom“ bezeichnet (Lampert et al., 2015, S. 157).
2.4 Methode
Zur Beantwortung meiner Forschungsfrage wird ein analytischer Theorienvergleich herangezogen, indem die vier soziologischen Theorietraditionen nach Randall Collins (1994) beschrieben, erläutert und auf die Forschungsfrage angewendet werden. Diese Traditionen beschreiben und erklären gesellschaftliche Phänomene und Ungleichheiten sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene, sodass die Forschungsfrage durch die Perspektive der vier soziologischen Theorietraditionen, die im Forschungsstand erläuterten wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie neuer Erklärungsansätze ungleicher Gesundheitsförderung vielschichtig beantwortet werden kann.
Durch den Vergleich zwei zueinander konträr stehender Sinus Milieugruppen aus der aktuellsten Milieustudie (2017) lässt sich die Forschungsfrage transparenter darstellen und erläutern. Das Forschungsproblem benötigt die Einbeziehung der subjektiven Wirklichkeit gepaart mit Kenntnissen von Lebensstilen und Werten der Milieugruppen, um die Ursachen einer ungleichen Gesundheitsförderung in der deutschen Gesellschaft konkret feststellen zu können. Neben den verschiedenen Meinungen, Ansichten und Lebenswelten der Menschen aus den beiden Milieugruppen wird diese wissenschaftliche Arbeit den sozioökonomischen Status, hauptsächlich bestehend aus den Kerndimensionen Bildung, Beruf und Einkommen, der beiden Milieus „Konservativ-Etablierte“ und „Prekäre“ vergleichen. Folglich lassen sich soziale Ungleichheiten, die sich auf die gesundheitliche Förderung in den jeweiligen Milieus ausüben, empirisch feststellen.
3 Soziologische Erklärungsansätze – Theorie und Analyse
Im Folgenden wird die ungleiche Gesundheitsförderung durch die Lebenswelten beider Milieus, kombiniert durch empirische Befunde und subjektive Prävalenzen der Milieuangehörigen sowie die soziologischen Traditionen erläutert und empirisch belegt.
3.1 Konflikttradition
Die Konflikttradition ist aus einem Zeitalter heraus entstanden, welches von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen, Innovationen und Interessen gekennzeichnet war. Als Ende des 18. Jahrhunderts in England und ab etwa 1840 die Industrialisierung in Deutschland einsetzte, wandelte sich die Lebens- und Arbeitsweise der Menschen und der gesamten Gesellschaft radikal (Collins, 1994, S. 53). Diese schlagartige Entwicklung war der Auslöser für viele Bewegungen und Prozesse innerhalb der deutschen Gesellschaft: Teile der Familien zogen in die Stadt, um dort der Arbeit in den neu errichteten Fabriken nachzugehen, wachsende Kinderarbeit, Ausbeutung, Umweltverschmutzungen und eine wachsende Wohndichte durch den Zuzug aus den ländlichen Regionen (Collins, 1994, S. 53-56).
In diesem Zeitabschnitt setzt die Konflikttradition ein, die insbesondere durch die Theoretiker Karl Marx, Friedrich Engels und Max Weber begründet wird (Collins, 1994, S. 48). Die Konflikttradition erklärt diese gesellschaftlichen Veränderungen und ist daher auf der Makroebene materialistisch-ökonomisch mit den Nachbarn der Geschichte und Ökonomie orientiert (Collins, 1994, S. 49). Der Schwerpunkt liegt auf dem Handeln der Akteure, da mikroperspektivisch die Herrscher, die Klassen und der Staat die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen ändern möchten (Collins, 1994, S. 52, S. 106). Marx und Engels formen die grundlegenden und fundamentalen Aspekte dieser Tradition: „´Marx´ is a symbol … because he pulled together the various ingredients of conflict analysis“ (Collins, 1994, S. 50). Marx kritisiert die Ideologie des Kapitalismus, welche die Menschen und die Gesellschaft ungleich ausbeutet, einen Entfremdungsprozess und eine gegensätzliche Klassengesellschaft auslöst (Collins, 1994, S. 53, S. 55). Seiner Ansicht nach wird die Gesellschaft in eine gehobene und herrschende Klasse, bestehend aus den Kapitalisten, der Bourgeoise, und einer unterdrückten Klasse aus Lohnarbeitern, dem Proletariat, gespalten (Collins, 1994, S. 64). Grundlegend in seiner Annahme ist der Besitz von Produktionsmitteln, die die eine Gruppe von Menschen begünstigt und die andere vernachlässigt (Collins, 1994, S. 62, S. 64). Die Besitzer einer solchen materiellen Macht wollen die bestehenden Verhältnisse erhalten, hingegen intendieren die Nichtbesitzer mit einem Umsturz dieser ungleichen und ungerechten Verhältnisse, sodass daraus zwangsläufig ein Klassenkampf resultiert (Collins, 1994, S. 106). Dieser wird dazu führen, dass die unterdrückte Klasse eine Revolution gegen den Kapitalismus startet „to bring down the system“ (Collins, 1994, S. 107).
Max Weber, der knapp 60 Jahre später geboren wurde, erweiterte Marx´ Idee einer Klassengesellschaft, indem er sich zusätzlich an sozioökonomischen Faktoren orientiert (Collins, 1994, S. 48, S. 85). Neben den ökonomischen Erläuterungen ergänzt Weber die Theorie um kulturelle und religiöse Charakteristika, um die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich tiefgründiger zu erfassen (Collins, 1994, S. 83, S. 85). Seiner Ansicht nach ist die soziale Klasse ungleich der ökonomischen Klasse, sodass er Marx´ Modell um eine zusätzliche Mittelschicht aus Händlern, Handwerkern und Lohnarbeitern, die über dem Lumpenproletariat, aber unter den positiv Privilegierten steht, ergänzt (Collins, 1994, S. 85-88, S. 102). Collins (1994) merkt an, dass Webers Konzept der sozialen Klassen eine höhere Multidimensionalität aufweist, weil er „saw the world as multidimensional … His multidimensional perspective made him fundamentally a conflict theorist“ (S. 84). Weber orientiert sich am Marxismus, aber er “set off modern conflict sociolgy“ (Collins, 1994, S. 92), damit er die Gesellschaft und deren soziales Handeln deutlich konkreter und umfassender verstehen und ursächlich erklären kann (Collins, 1994, S. 83-84). Im Zuge dessen umfasst seine Theorie sowohl ökonomisch orientierte Klassen als auch Statusgruppen, Menschen, die „identify with one another as belonging to a group“ (Collins, 1994, S. 88) und Parteien oder Interessengruppen, die innerhalb des Staates legitimiert sind (Collins, 1994, S. 88-91).
Diese Ausführungen zeigen, dass die Konflikttradition sowohl durch offene in Form von Kriegen und Disputen als auch durch geschlossene Konflikte in Form versteckter Herrschaftsgefüge und Unterdrückungen in der Gesellschaft gekennzeichnet ist (Collins, 1994, S.47). Die Konflikttradition hat der Soziologie ein essentielles Thema mitgegeben: soziale Klassen. Collins (1994) meint, dass „the tradition of conflict sociology is very much alive today and continues to make intellectual progress on many fronts” (S. 111).
3.1.1 Anwendung
Den bereits im Forschungsstand empirisch dargestellten Status Quo, dass das Milieu der „Konservativ-Etablierten“ gesünder als das „Prekäre Milieu“ ist, wird die These zugrunde gelegt, dass das Zweiklassen-Versicherungssystem zu einer sozialen Benachteiligung in der Gesundheitsförderung zuungunsten des „Prekären Milieus“ führt.
Das Zwei-Klassen Versicherungssystem bietet der deutschen Bevölkerung die Möglichkeit, eine private oder eine gesetzliche Krankenversicherung zu beziehen. Die Mehrheit des „Konservativ-Etablierten Milieus“ ist privatversichert, hingegen sind Menschen aus dem „Prekären Milieus“ gesetzlich versichert (Wippermann et al., 2011, S. 129, S. 253). Dieser Zustand bietet ein hohes Konfliktpotenzial, da die finanziell besser gestellten „Konservativ-Etablierten“ eine bessere Gesundheitsversorgung erhalten: „Diese (zusätzlich) Privatversicherten verfügen in sozialen Krisensituationen über einen umfassenderen Schutz als diejenigen, die eine private Versicherung nicht finanzieren können“ (Wendt, 2009, S. 59). Die Menschen beider Milieus sind der Meinung, dass „nur derjenige eine optimale gesundheitliche Versorgung bekommt, der über hohes Einkommen und Vermögen, Bildung und soziales Kapital verfügt“ (Wippermann et al., 2011, S. 33). Anhand empirischer Untersuchungen und Aussagen des „Prekären Milieus“ fühlen diese sich aufgrund der eingeführten Praxisgebühr, dem Eindruck, dass ihnen nur die günstigeren Medikamente verschrieben werden, fehlender Kostenübernahme und der Bevorzugung von Privatpatienten sozial ausgeschlossen (Wippermann et al., 2011, S. 253; Lampert et al., 2016, S. 161): „In vielen Fällen konstatieren sie jedoch, dass sie höchstens Patienten zweiter, wenn nicht sogar dritter Klasse behandelt werden und der Arzt sich nur oberflächlich mit ihren Beschwerden auseinandersetzt“ (Wippermann et al., 2011, S. 250). Folglich entsteht eine Entfremdung zum deutschen Gesundheitssystem. Die Qualität der Gesundheitsförderung hängt von der Erwerbsstätigkeit und den monetären Mitteln eines Individuums ab (Wendt, 2009, S. 49). Aufgrund großer Unterschiede in der Berufstätigkeit und des Nettoeinkommens zwischen beiden Milieus ist eine gleiche Gesundheitsförderung nicht gegeben, sodass dadurch eine Grundlage für soziale Konflikte geschaffen wird: „ … power depends on the material conditions of mobilization“ (Collins, 1994, S. 72).
Die „Konservativ-Etablierten“ als begünstigte Gruppe möchten ihre optimale gesundheitliche Versorgung mittels einer Privatversicherung erhalten, hingegen fühlt sich das „Prekäre Milieu“ sozial benachteiligt und ist aufgrund des sozioökonomischen Status gezwungen, Abstriche in der Gesundheitsversorgung zu machen.
3.2 Durkheimische Tradition
Emile Durkheim ist der Hauptvertreter der Durkheimischen Tradition, die aber auch um Theoretiker wie Comte, Parson, Merton und Goffman ergänzt werden. Diese Tradition ist auf der Markroebene symbolisch mit dem Nachbarn der Anthropologie orientiert (Collins, 1994, S. 182-183), wobei gemäß Collins (1994) die Tradition „ … applies both to the large-scale macrostructure of society and to the small-scale microinteractionist or rituals” (S. 193). Diese Tradition legt den Fokus auf die Struktur, die das Handeln des Individuums bestimmt. Darin liegt der Hauptunterschied zu der Konflikttradition, denn Durkheim möchte wissen, wie die Struktur, die Moral und die Religion einer Gesellschaft die Gewohnheiten und Ansichten der Menschen bestimmt und beeinflusst (Collins, 1994, S. 181). Sein Hauptaugenmerk liegt auf der Frage: „What holds society together?“ (Collins, 1994, S. 186). Das bedeutet, dass Durkheim nicht den Auswirkungen der industriellen und Französischen Revolution, sondern dem Problem sozialer Integration auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nachgeht (Collins, 1994, S. 184-186). Seine Intention besteht darin „to compare, to look for the conditions under which something happens by contrasting them with the conditions under which it does not happen” (Collins, 1994, S. 183).
Durkheim beschäftigt sich mit den Konditionen sozialer Integration, indem er das gesellschaftliche Problem des Suizids untersucht (Collins, 1994, S. 185). Er möchte wissen, was Menschen bewegt, welche Faktoren den Suizid beeinflussen und wie schlussendlich eine gesellschaftliche Ordnung möglich ist: „ … groups that have a higher social density have less likelihood that their members will kill themselves“ (Collins, 1994, S. 190). Collins (1994) merkt an, dass die soziale Dichte in dieser Tradition eine fundamentale Rolle spielt: “These variations in social density are the key determinant in every aspect of Durkheim´s theory“ (S. 187). Die soziale Dichte beschreibt die sozialen Beziehungen zwischen Individuen und je höher diese ist, desto besser sind die Konditionen einer sozialen Integration (Collins, 1994, S. 187-191). Im Zuge dessen erklärt Durkheim, dass soziale Tatbestände die soziale Dichte beeinflussen können: „all those external and collective ways in which society shapes, structures, and constrains our behavior“ (Dillon, 2014, S. 81-82). Soziale Tatbestände sind vielfältige Handlungsweisen und Rituale, wie Begrüßungsrituale, Gottesdienste oder Hochzeiten, die in der Gesellschaft als allgemeingültig gelten (Collins, 1994, S. 190).
Durkheim glaubt, dass sich die Gesellschaft aufgrund äußerlicher Einflüsse und Veränderungen der sozialen Dichte von einer traditionalen zu einer modernen Gesellschaft wandelt (Collins, 1994, S. 194). Die Etablierung einer neuen, modernen Gesellschaftsform hat eine Arbeitssteilung zur Folge, wodurch sich die mechanische Solidarität in der traditionalen Gesellschaft, charakterisiert durch geringe soziale Bindungen in einer kaum ausgeprägten Arbeitsteilung zu einer organischen Solidarität entwickelt (Collins, 1994, S. 193-198). Diese bildet eine arbeitsteilige Gesellschaft ab, in der die einzelnen Individuen voneinander abhängig sind. Diese gegenseitige Abhängigkeit sorgt einerseits für eine hohes Individual-, anderseits für ein ausgeprägtes Kollektivbewusstsein in der Gesellschaft, welches insbesondere durch die soziale Dichte geschaffen wird (Collins, 1994, S. 211-214): „The making of the social world is always a collaboration; we can neither make nor remake anything social by ourselves (Schwalbe, 2001, S. 23).
3.2.1 Anwendung
Durkheim weist der sozialen Solidarität eine hohe Bedeutung zu, da diese den allgemeinen Zusammenhalt und die Beziehungen in der Gesellschaft gewährleistet und stärkt. Meine folgenden Ausführungen stützen sich auf die These, dass die abnehmende Solidarität im deutschen Gesundheitssystem die ungleiche Gesundheitsförderung zwischen den beiden Milieus fördert.
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1 Eigenständige Berechnung: Anteil der Gesundheitsgaben in Relation zum deutschen BIP (tatsächlicher absoluter Wert des BIPs beträgt 2017 3,28 Billionen Euro)