Die Arbeit thematisiert die Situation der Heimatvertriebenen/Ost-Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik Deutschland. Sie widmet sich neben sozialen und wirtschaftlichen Faktoren auch der politischen Rolle der Ost-Deutschen und wirft dabei ein Schlaglicht auf die Entwicklungen der BRD nicht nur während der unmittelbaren Nachkriegszeit. Vor dem Hintergrund dieser Aspekte versucht diese Arbeit auch eine Antwort auf die Frage zu geben, inwieweit von einer "gelungenen Integration" gesprochen werden darf.
Heimat. Ein Begriff, der heute jedem nur allzu leicht über die Lippen geht. Heimat, das ist dort, wo man aufwuchs, wo Familie zu Hause ist, wo Freundschaften geknüpft wurden und die Erinnerung daran nur Gutes birgt. Heimat aber war – und ist es für manche noch heute – ein Begriff, der weder Gutes verheißt, noch Freude bringt. Für die 14 Millionen Menschen, die nach Kriegsende aus den deutschen Reichs- und Siedlungsgebieten im Osten in das verbliebene Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches kamen, bedeutete Heimat nur eines: Verlust.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Vorgeschichte
III. Vertriebene im Nachkriegsdeutschland
III.a Ankunft und Aufnahme
III.b Sozialer und wirtschaftlicher Faktor
III.c Politische Rolle
IV. Deutschland im Wandel
V. Gelungene Integration?
VI. Literatur
I. Einleitung
„14 Millionen Deutsche waren nach 1945 ohne Heimat.“1
Heimat. Ein Begriff, der heute jedem nur allzu leicht über die Lippen geht. Heimat, das ist dort, wo man aufwuchs, wo Familie zu Hause ist, wo Freundschaften geknüpft wurden und die Erinnerung daran nur Gutes birgt. Heimat aber war – und ist es für manche noch heute – ein Begriff, der weder Gutes verheißt noch Freude bringt. Für die 14 Millionen Menschen, die nach Kriegsende aus den deutschen Reichs- und Siedlungsgebieten im Osten in das verbliebene Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches kamen, bedeutete Heimat nur eines: Verlust.
Selten darauf vorbereitet und meist unter Gewalt mussten sie ihre Dörfer, Städte, Höfe und Häuser verlassen und fanden sich in der beängstigenden Situation wieder, auf der Flucht und vertrieben worden zu sein – ohne Hab und Gut und nur mit dem, was sie tragen konnten, hatten sie eine für viele tödliche Reise in den Westen in eine ungewisse Zukunft anzutreten. Wie würde „Deutschland“ aussehen nach dem Krieg? Würde man willkommen geheißen? Immerhin war man ja selbst Deutscher! Und immerhin hatte man doch ebenso wie „die anderen Deutschen“ den Krieg verloren! Mit Ablehnung und unverhohlenem Hass hatten die Flüchtlinge und Vertriebenen2 sicher nicht gerechnet – und doch war dies ihre erste Erfahrung an dem Ort, der ihre neue Heimat sein sollte. Aufgeteilt auf viele verschiedene Orte, mehr oder minder allein und auf sich gestellt mussten sie sich in ihrem neuen Leben in der gerade entstehenden Bundesrepublik zurechtfinden. Sitten, Bräuche, Sprachen und Dialekte wirkten auf die Einheimischen fremd und unverständlich und so bildeten die Vertriebenen bald eine große eigenständige Gruppe, die im Laufe der Jahre nicht nur politische Teilhabe, sondern auch von Anfang an rechtliche und soziale Gleichstellung mit denen forderte und durchsetzte, mit denen sie die neue Heimat wieder aufbauen und vielleicht auch zu ihrer eigenen werden lassen sollten. Die vielen Heimatvereine, die auch heute in der Politik aktiven Vertreter der Ost-Deutschen und die regelmäßige historische Auseinandersetzung mit dem Motiv von Flucht, Vertreibung und Heimatvertriebenen zeigt das Selbstverständnis, mit dem die heutige Gesellschaft die (Heimat-)Vertriebenen als in ihrer Mitte angekommen betrachtet.
Den Weg zu dieser Geisteshaltung und die Rolle, die die (Heimat-)Vertriebenen in der Bundesrepublik spielten und immer noch spielen, soll diese Hauptseminararbeit untersuchen. Konnten die vielen Millionen Menschen wirklich eine zweite Heimat finden nach allem, was ihnen widerfahren war?
Zur Beantwortung dieser Frage erfolgt zu Beginn ein Überblick über die Vorgeschichte der Flucht- und Vertreibungsbewegungen aus den deutschen Staats- und Siedlungsgebieten im Osten. Nachfolgend widmet sich diese Arbeit der Situation der Vertriebenen im (unmittelbaren) Nachkriegsdeutschland, wobei neben Aufnahmestrategien auch soziale, ökonomische sowie politische Faktoren dargestellt werden sollen. Weiter soll der sich wandelnde Umgang mit der Vertriebenen-Thematik vorgestellt werden. Die Arbeit schließt mit einer genauen Betrachtung der im Hauptteil erlangten Erkenntnisse.
II. Vorgeschichte
Der langen und in vielerlei Hinsicht tragischen Geschichte der (Heimat-)Vertriebenen aus den deutschen Staats- und Siedlungsgebieten im Osten in der Bundesrepublik Deutschland muss notwendigerweise ein Überblick über die Geschehnisse der letzten Kriegsjahre und -handlungen vorangestellt werden. Ebenso ist es unerlässlich elementare Unterscheidungen sowie Definitionen der Begriffe (Heimat-)Vertriebener und Flüchtling anhand unterschiedlicher Bestimmungen darzulegen.
Die am 22. Juni 1944 gestartete große Sommeroffensive der Sowjetunion löste die wohl größte und nachhaltigste Migrationsbewegung des vergangenen Jahrhunderts auf dem europäischen Kontinent aus. Zwischen 12 und 14 Millionen Menschen waren gezwungen ihre Häuser zu verlassen und zu fliehen. Bereits im Oktober 1944 kam es zu einigen Fluchtbewegungen aus den evakuierten deutschen Ostgebieten3, die nach dem Einfall der Roten Armee und dem anschließenden Zusammenbruch der gesamten Ostfront in sogenannte wilde Vertreibungen übergingen und bis zum Sommer 1945 andauerten.
Flüchtlinge und Vertriebene stehen sich hier bereits in ihrer Bedeutung gegenüber, eine Erläuterung der Begriffe ist daher unbedingt notwendig.
Flüchtling, nicht nur in diesem Zusammenhang, ist allgemein die Person, die „aus politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder ethnischen Gründen ihre Heimat eilig verlassen hat oder verlassen musste und dabei ihren Besitz zurückgelassen hat“.4
Als weiteren und spezifischeren Fall definiert das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (auch Bundesvertriebenengesetz, kurz BVFG) vom 19. Mai 1953 den Begriff Flüchtling unter §§3 Abs. 1 und 4 Abs. 1 als ausschließlich jene deutschen Volks- oder Staatsangehörigen, die ihren Wohnsitz in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin haben oder hatten bzw. dies im Zeitpunkt der Besetzung zutraf.5
Der Vertriebene, „der aus seiner Heimat vertrieben, ausgewiesen wurde“6, steht dem gegenüber. Er ist eine „Person, die mit Gewalt oder sonstigen Zwangsmitteln aus ihrer Heimat entfernt [wurde], gleichgültig ob dem eine völkerrechtliche Übereinkunft zugrunde liegt oder nicht“7 Auch diesen Begriff definiert das Bundesvertriebenengesetz unmissverständlich und legt fest, welche Personen(-gruppen) dazu gezählt werden können und müssen. Gleichzeitig erweitert das BVFG diesen Betroffenenkreis um den Heimatvertriebenen und widmet beiden Personenkreisen die ersten beiden rechtlichen Regelungen. Nach §1 Abs.1 S.1 BVFG ist derjenige Vertriebener, der „als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat.“8 §2 BVFG definiert den Heimatvertriebenen: „(1) Heimatvertriebener ist ein Vertriebener, der am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seinen Wohnsitz in dem Gebiet desjenigen Staates hatte, aus dem er vertrieben worden ist (Vertreibungsgebiet); die Gesamtheit der Gebiete, die am 1. Januar 1914 zum Deutschen Reich oder zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie oder zu einem späteren Zeitpunkt zu Polen, zu Estland, zu Lettland oder zu Litauen gehört haben, gilt als einheitliches Vertreibungsgebiet. (2) Als Heimatvertriebener gilt auch ein vertriebener Ehegatte oder nach dem 31. Dezember 1937 geborener Abkömmling, wenn der andere Ehegatte oder bei Abkömmlingen ein Elternteil als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger am 31. Dezember 1937 oder bereits einmal vorher seine Wohnsitz im Vertreibungsgebiet (Absatz 1) gehabt hat.“9
Die oben erwähnte völkerrechtliche Komponente spielt hier eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Mit der im Juli und August 1945 von den drei alliierten Mächten USA, Großbritannien und Sowjetunion abgehaltenen Potsdamer Konferenz erfolgte eine völkerrechtlich bindende Beschlussfassung über Territorialfragen, die die Gebiete Nord-Ostpreußen, Polen und die damit ebenso beschlossene vorläufige Oder-Neiße-Grenze, die Lausitzer Neiße und Stettin betrafen. Weiter sollte den wilden Vertreibungen durch gelenkte Umsiedlungsaktionen ein Ende gesetzt werden. „Human und ordnungsgemäß waren sie aber nur im Vergleich zu den vorangegangenen „wilden Vertreibungen““10 und waren trotz offiziellen Regelungsgehalts Zwangsumsiedlungen. Die rechtlichen Bestimmungen legitimierten nachträglich also nur, was zuvor ohne jegliche Grundlage durchgeführt worden war.
Die von den Umsiedlungsplänen betroffenen Gebiete waren zum einen die durch die Alliierten Polen zugesprochenen Teile des Deutschen Reiches (südliches Ostpreußen, Danzig-Westpreußen, östliches Pommern, Schlesien und Neumark Brandenburg), das nördliche Ostpreußen, welches der Sowjetunion zugesprochen und in die russischen Teilrepubliken eingegliedert wurde, das Memelland sowie Westpreußen und das westliche Oberschlesien, die deutschen Siedlungsgebiete im Baltikum, das Sudetenland (südlicher Böhmerwald, Südböhmen und Südmähren), mehrere deutsche Städte – darunter Prag, Brünn und Olmütz – sowie zahlreiche Regionen in Südosteuropa wie Siebenbürgen und Slawonien.11 12
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Ostdeutsche Flucht- und Vertreibungsgebiete.13
Zwischen 12 und 14 Millionen Menschen waren von der Umsiedlungspolitik der Alliierten betroffen und mussten ihre Heimat verlassen. Auf dem Weg Richtung Westen verloren ca. 2,1 Millionen Menschen bei Flucht, (wilder) Vertreibung oder Deportation ihr Leben.14 15 16
Die Gründe für Vertreibung und Flucht waren vielfältig. Neben der Instrumentalisierung deutscher Volksgruppen für nationalsozialistische Zwecke spielte auch die massive Störung im Verhältnis deutscher Volksgruppen zu der jeweiligen Mehrheitsbevölkerung, die im Zuge der nationalsozialistischen Raub-, Expansions- und Ausrottungspolitik entstanden war, eine beachtliche Rolle. Darüber hinaus erfolgte die auf der Potsdamer Konferenz beschlossene Westverschiebung Polens, welche von Stalin angeordnete Zwangsumsiedlungen zur Folge hatte.17 Weiterhin waren die Vertreibungen ein wichtiger Stabilisierungs- und Machtfaktor für neue, und oft kommunistische, Parteibündnisse, für die der Antikommunismus der deutschen Wähler problematisch gewesen wäre. Auch fürchtete man einen etwaigen Revanchismus der deutschen Vertriebenen und sicherte sich mit kommunistischer Ausrichtung der Landespolitik den Schutz der Sowjetunion. Plünderungen und Enteignungen waren ebenso von Bedeutung wie das Vorhaben der Gründung weitgehend homogener Staaten, deren Ziel eine Beseitigung möglichst vieler „Vorkriegskonflikte“ war, deren Ursprung in den Vielvölkerstaaten der Vorkriegszeit gesehen wurde.18
III. Vertriebene im Nachkriegsdeutschland
Diejenigen, die Flucht und Vertreibung aus der Heimat im Osten überlebten, standen nach ihrer Ankunft im von alliierten Truppen besetzten Nachkriegsdeutschland vor neuen nicht minder schwerwiegenden Herausforderungen. Tiefe Ablehnung, Misstrauen und allzu oft auch purer Hass schlugen den Neuankömmlingen entgegen, die sich doch deutsch fühlten und in ihrem Selbstverständnis deutsch waren. Zahlreiche Widrigkeiten, die die ersten Jahre nicht einfach sein ließen, schlugen ihnen entgegen.
III.a Ankunft und Aufnahme
Die Verteilung derjenigen, die nach Flucht und Vertreibung in das von den Alliierten besetzte Rest-Deutschland gelangten, erfolgte nach nicht einheitlichen Verteilungsschlüsseln für die verschiedenen Regionen. Zu Beginn lag der Anteil der Umsiedler19 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wesentlich höher als in den westlichen Zonen und variierte zwischen 17,2% und 44,3%.20 Diese Situation änderte sich jedoch rasch und bald „waren in den Hauptaufnahmeländern der westlichen Zonen von 100 Personen 33 Flüchtlinge oder Vertriebene“21 22, während der Anteil dieser Personen im von Frankreich kontrollierten Rheinland-Pfalz lediglich bei circa 3% bzw. in der gesamten Französischen Zone bei knapp 1% lag, was den Bemühungen Frankreichs, in diesem Gebiet möglichst keine Deutschen mehr anzusiedeln, geschuldet war.23 24 Flüchtlinge und Vertriebene stellten mit knapp 10 Millionen Personen etwa 25% der Gesamtbevölkerung der Trizone.25
Dieses „ethnic engineering“26 führte zum ersten Problem, welches sich den Vertriebenen offenbarte: Gewachsene Gemeinden und Gemeinschaften wurden durch die alliierte Verteilungspolitik aufgelöst, Familien auseinandergerissen und soziale Strukturen zerstört.27 28
Aufgrund der im ländlichen Raum wesentlich geringeren Bombenschäden erfolgte die Unterbringung der Vertriebenen vor allem dort. Trotz der im Vergleich zum städtischen Raum weniger angespannten Lebenssituation war auch hier die Unterbringung einer so großen Anzahl an Menschen schwierig, weshalb der Alliierte Kontrollrat (AKR) am 16. März 1946 das „Gesetz Nr. 18 – Wohnungsgesetz“29 erließ, welches es den Besatzungsmächten erlaubte Wohnungslose auch bei Privatpersonen, wenn nötig auch zwangsweise, unterzubringen.30 31 32 Auch nicht genehmigte, gleichwohl jedoch geduldete Barackenlager entstanden und blieben bis zu ihrer Auflösung knapp 20 Jahre nach Kriegsende fester Bestandteil in bundesdeutschen Städten.33
Die verheerende Situation, in der sich die Vertriebenen wiederfanden, kann am Beispiel Bayerns ausführlicher dargestellt werden.
Waren bis Ende 1945 nur knapp 735.000 Personen, zu denen neben Vertriebenen und Flüchtlingen auch Displaced Persons (DP), „während des Zweiten Weltkriegs nach Deutschland verschleppte oder geflüchtete ausländische Person[en], die sich bei Kriegsende im damaligen deutschen Reichsgebiet aufhielt[en]“ 34 , gehörten, betrug ihre Zahl Ende 1946 bereits circa 1,9 Millionen. Die Verteilung der Neuankömmlinge erfolgte nach Regierungsbezirken, wobei Schlesier vornehmlich in Niederbayern und Oberfranken untergebracht wurden, Sudetendeutsche in Schwaben und Oberfranken und Ostpreußen vor allem in Niederbayern.35 Denkbar gewesen wären in Bayern auch alternative Verteilungsstrategien wie zum Beispiel eine Ansiedlung, die früheren Wohngemeinden oder Regionen entsprochen, konfessionelle Zugehörigkeit berücksichtigt oder auf „freiem Feld“ stattgefunden hätte, wo also keine Ursprungsbevölkerung mehr hätte vorhanden sein dürfen. Mit Berücksichtigung der akuten Notsituation aber stellte die aufgeschlüsselte und von den Alliierten als am besten umsetzbare Methode angesehene Verteilung wie in Rest-Deutschland die ideale Lösung dar.
Einmalig in dieser „Siedlungsgeschichte“ dürften die fünf in Bayern entstandenen Flüchtlingsgemeinden Neu-Gablonz, Geretsried, Waldkraiburg, Traunreut und Neutraubling sein, die dem alliierten Wunsch nach Auflösung gewachsener Sozialstrukturen bei den Flüchtlingen vollkommen zuwiderliefen.
Diese „Siedlungsgeschichte“ kann und darf jedoch keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass bis Anfang der 1950er-Jahre kaum ausreichend Wohnraum vorhanden war: 1950 stand beispielsweise nur jedem Dritten eine eigene Küche zur Verfügung, auf einen eigenen Kochherd im Wohnraum konnten ca. 50% zugreifen. 17% der Einquartierten waren sogar gezwungen die Kochgelegenheiten der Wohnungsgeber zu benutzen oder hatten schlicht keine Möglichkeit Mahlzeiten auf einer Kochstelle zuzubereiten. Bei den in Städten Untergebrachten war die Situation noch verheerender.36
Im Laufe der Jahre erfolgte schließlich eine Abwanderung von ca. 200.000 Personen, teils in Städte, teils in andere Bundesländer, womit eine leichte Linderung des Wohnungs- und Unterbringungsproblems eintrat.37
III.b Sozialer und wirtschaftlicher Faktor
War die erste Not der Vertriebenen mit einem ihnen zugewiesenen und bezogenen Obdach gelindert, standen sie vor einer weiteren Herausforderung: Nahezu jeder, der noch während oder unmittelbar nach dem Krieg auf das verkleinerte Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches kam, hatte sein gesamtes Hab und Gut bei der Flucht zurücklassen müssen. Oft war alles, was den Vertriebenen geblieben war, der Inhalt ihres Koffers oder die Fracht auf dem Handkarren. Zu nahezu vollkommener Mittellosigkeit kamen enormer sozialer Abstieg und, was oft noch schlimmer wog, die moralische Degradierung seitens der Einheimischen. Angst vor Überfremdung und grundsätzliche Ablehnung der neuen „Mitbürger“ war allgegenwärtig und anfänglich sogar salonfähig. Den Vertriebenen wurden durchweg schlechte Eigenschaften zugeschrieben: Grundsätzlich seien diese schmutzig, faul und primitiv, unehrlich, betrügerisch, streitsüchtig und darüber hinaus sowieso undankbares Pack.38 39 40
[...]
1 Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008, S. 10.
2 Anm.: Die Begriffe Flüchtling und Vertriebener werden in dieser Arbeit der Vereinfachung wegen weitgehend synonym verwendet. Unterscheidungen im Wortsinn sind im Kontext ersichtlich.
3 Vgl. Beer, Mathias: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen, München 2011, S. 67f.
4 Flüchtling, https://www.duden.de/node/694437/revisions/1657689/view.
5 Vgl. Bundesgesetzblatt Nr. 22 vom 22. Mai 1953, Teil I, S. 203.
6 Vertriebener, https://www.duden.de/node/694436/revisions/1656898/view.
7 Bulitta, Hildegard und Erich: Schritte zu einer Erinnerungs- und Gedenkkultur. Band I: Grundlagen einer Erinnerung – Analyse, epubli Berlin 2017, Kapitel 5.9.2 (keine Seitenangaben vorhanden).
8 Bundesgesetzblatt Nr. 22 vom 22. Mai 1953, Teil I, S. 203.
9 Bundesgesetzblatt Nr. 22 vom 22. Mai 1953, Teil I, S. 203.
10 Beer, Flucht und Vertreibung, S. 77.
11 Vgl. Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München 2008, S. 17ff.
12 Vgl. Tabelle in: Kossert: Kalte Heimat, S. 22f.
13 https://www.hdg.de/lemo/img/galeriebilder/nachkriegsjahre/didaktische-karte_druckgut_LEMO-8-011.jpg.
14 Vgl. Frerich, Johannes/Frey, Martin: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Band 3, München 19962, S. 31f.
15 Schwartz, Michael: Vertrieben im doppelten Deutschland. Integrations- und Erinnerungspolitik in der DDR und in der Bundesrepublik, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 56 (2008), Heft 1, S. 101.
16 Faulenbach, Bernd: Die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 51/52, 2002, S. 44.
17 Vgl. Rhode, Gotthold: Phasen und Formen der Massenzwangswanderung in Europa, Abschnitt 4: Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa im Rahmen europäischer Zwangswanderungen, in: Lemberg, Eugen/Edding, Friedrich (Hg.): Die Vertriebenen in Westdeutschland, Kiel 1959, S. 34ff.
18 Vgl. Beer, Flucht und Vertreibung, S. 53-66.
19 Anm.: Dieser Begriff ersetzt in der SBZ den des Vertriebenen und des Flüchtlings und soll über die Unfreiwilligkeit und den Zwang des Ortswechsels hinwegtäuschen.
20 Vgl. Beer, Flucht und Vertreibung, S. 99.
21 Beer, Flucht und Vertreibung, S. 100.
22 Anm.: Westliche Zonen entsprechen in diesem Zusammenhang Britischer und Amerikanischer Besatzungszone.
23 Vgl. Beer, Flucht und Vertreibung, S. 100.
24 Vgl. Oltmer, Jochen Prof. Dr.: Zwangswanderungen nach dem Zweiten Weltkrieg, Bundeszentrale für politische Bildung, http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration-ALT/56359/nach-dem-2-weltkrieg.
25 Vgl. Münz, Rainer/Seifert, Wolfgang/Ulrich, Ralf: Zuwanderung nach Deutschland. Strukturen, Wirkungen, Perspektiven, Frankfurt/Main 1999, S. 28f.
26 Krauss, Marita: Fremde Heimat. Ankunft und erste Jahre (bis 1949), in: Fremde Heimat. Das Schicksal der Vertriebenen nach 1945. Das Buch zur Fernsehserie, Berlin 2011, S. 25.
27 Vgl. Beer, Flucht und Vertreibung, S. 104.
28 Vgl. Kossert, Kalte Heimat, S. 56.
29 Vgl. Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Nr. 14 vom 1. Oktober 1947, S. 171-173.
30 Vgl. Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt, Gesetz Nr. 18, Artikel IV, VI, VIII, S. 172f.
31 Vgl. Beer, Flucht und Vertreibung, S. 104f.
32 Vgl. Kossert, Kalte Heimat, S. 49.
33 Vgl. Kossert, Kalte Heimat, S. 68.
34 Displaced Person, https://www.duden.de/node/774618/revisions/1666008/view.
35 Vgl. Ziegler, Walter: Flüchtlinge und Vertriebene, Kapitel Ankunft und Verteilung, publiziert am 6. September 2011, in: Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fl%C3%BCchtlinge_und_Vertriebene.
36 Vgl. Ziegler, Flüchtlinge und Vertriebene, Kapitel Arbeit und Wohnung, Auseinandersetzungen, in: Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fl%C3%BCchtlinge_und_Vertriebene.
37 Vgl. Ziegler, Walter: Flüchtlinge und Vertriebene, Kapitel Ankunft und Verteilung, publiziert am 6. September 2011, in: Historisches Lexikon Bayerns, https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fl%C3%BCchtlinge_und_Vertriebene.
38 Vgl. Krauss, Marita: Die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in Bayern in vergleichender Perspektive, in: Kraus, Marita (Hg.): Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945, Göttingen 2008, S. 71f.
39 Vgl. Beer, Flucht und Vertreibung, S. 108.
40 Vgl. Krauss, Fremde Heimat, S. 33.