Der Störfaktor, der in dieser Arbeit thematisiert werden soll, ist die Kinderarmut, von der in Deutschland 18 Prozent der unter 18-jährigen Bevölkerung betroffen sind. Damit handelt es sich um ein aktuelles und weitverbreitetes Problemgebiet, welches von der Gesellschaft anerkannt und diskutiert werden sollte. Die meisten Betroffenen können keine Resilienz gegen Armutsrisiken aufbauen, was sie anfällig für gravierende Entwicklungsdefizite macht.
Im Rahmen der "Speziellen Sozialpolitik für Kinder" dient diese Fallstudie dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ziel ist es, durch eine theoretische Aufarbeitung der Kindes- und Jugendentwicklung, die Auswirkungen von Kinderarmut auf die Entwicklung darzustellen und ein fundiertes Konzept mit wissenschaftlichen Ratschlägen zur Prävention oder Intervention zusammenzustellen.
Von der frühkindlichen Entwicklungsphase bis in die Adoleszenz ist das Leben eines Menschen durch verschiedenste kognitive, soziale, emotionale und selbstbezogene Entwicklungsphasen geprägt. Wird dieser Entwicklungsprozess durch äußere Faktoren gestört, entwickeln sich entsprechende Defizite in diesen Bereichen. Diese Entwicklungsdefizite können bei Kindern und Jugendlichen bis in das Erwachsenenalter hinein noch Folgen und ernsthafte Auswirkungen auf ihr Leben haben.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
3 Die Selbstentwicklung von Kindern und Jugendlichen
4 Die soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
5 Zusammenfassung des Theorieteils
6 Sozialpolitisches Problemfeld: Kinder und Jugendliche in Armut
7 Spezielle Sozialpolitik für Kinder: Gemeinsam gegen Kinderarmut
8 Diskussion
9 Fazit
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
bspw. beispielsweise
bzw. beziehungsweise
IQ Intelligenzquotient
z.B. zum Beispiel
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Stufen der kognitiven Entwicklung nach Piaget
Tabelle 2: Temperamentsmodell nach Thomas und Chess
Tabelle 3: Soziale Beziehungstypen von Kindern
1 Einleitung
Von der frühkindlichen Entwicklungsphase bis in die Adoleszenz ist das Leben eines Menschen durch verschiedenste kognitive, soziale, emotionale und selbstbezogene Entwicklungsphasen geprägt. Wird dieser Entwicklungsprozess durch äußere Faktoren gestört, entwickeln sich entsprechende Defizite in diesen Bereichen. Diese Entwicklungsdefizite können bei Kindern und Jugendlichen bis in das Erwachsenenalter hinein noch Folgen und ernsthafte Auswirkungen auf ihr Leben haben. Der Störfaktor, der in dieser Arbeit thematisiert werden soll, ist die Kinderarmut von der in Deutschland 18 Prozent der unter 18-jährigen Bevölkerung betroffen sind.1 Damit handelt es sich um ein aktuelles und weitverbreitetes Problemgebiet, welches von der Gesellschaft anerkannt und diskutiert werden sollte. Die meisten Betroffenen können keine Resilienz gegen Armutsrisiken aufbauen, was sie anfällig für gravierende Entwicklungsdefizite macht.
Im Rahmen der „Speziellen Sozialpolitik für Kinder“ dient diese Fallstudie dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ziel ist es, durch eine theoretische Aufarbeitung der Kindes- und Jugendentwicklung, die Auswirkungen von Kinderarmut auf die Entwicklung darzustellen und ein fundiertes Konzept mit wissenschaftlichen Ratschlägen zur Prävention oder Intervention zusammenzustellen. Hierfür wird vorerst in den Kapiteln Zwei bis Vier eine theoretische Grundlage zum Thema geschaffen. Kapitel Zwei befasst sich mit der kognitiven Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und erläutert die beiden bekanntesten kognitiven Entwicklungstheorien: die Theorie nach Piaget und den Ansatz der Informationsverarbeitung. In Kapitel Drei wird die Selbstentwicklung thematisiert, bei der das Kind ein Ich-Bewusstsein und ein Selbstkonzept entwickelt, um dann als Jugendlicher nach einer Identität zu suchen. Die soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen soll dann in Kapitel Vier genauer erklärt werden. Dabei liegt der Fokus, neben dem Temperament eines Kleinkindes und der davon ausgehenden emotionalen Entwicklung, vor allem auf den sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen und der Familie. Abschließend werden die theoretischen Erkenntnisse im fünften Kapitel zusammengefasst. Das sozialpolitische Problemfeld der Kinderarmut wird dann im sechsten Kapitel eingeleitet, wo zuerst der Armutsbegriff definiert wird, sodass anschließend die verschiedenen Risiken, die Kinderarmut auf die Entwicklung haben kann, aufgeführt werden und die mögliche Resilienz gegenüber Armut erläutert wird. Daraufhin werden abschließend Mobbing und Diskriminierung thematisiert, da sie oftmals in direktem Zusammenhang mit Armut stehen. Kapitel Sieben befasst sich vollständig mit dem Konzept. Im achten Kapitel sollen dann die Erkenntnisse und Ergebnisse kritisch diskutiert und reflektiert werden, bevor in Kapitel Neun ein Fazit gezogen wird.
2 Die kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
Die kognitive Entwicklung bezieht sich auf die Fortschritte in der Wahrnehmung, dem Erkennen und dem Denken, wodurch sie ebenfalls einen signifikanten Einfluss auf die Bildung eines Menschen nimmt. Jean Piaget hat mit seiner Theorie der geistigen Entwicklung wichtige Grundsätze für die darauffolgenden und moderneren Ansätze geschaffen. Sie lässt sich in der Kindheit in drei verschiedene Stufen einteilen, wobei das Kind in jeder Stufe die Welt um sich herum auf eine qualitativ andere Art wahrnimmt und erklärt.2 Zusammen mit der letzten Entwicklungsstufe in der Adoleszenz bilden die vier Stufen nach Piaget (siehe Tabelle 1) das kognitive System.3
Die erste Stufe wird als die sensumotorische Stufe bezeichnet, da der Mensch in diesem Alter noch kein Denken und keine Affektivität zeigen kann. Hierbei kommen die sensorischen und motorischen Fähigkeiten wie Augen, Ohren, Mund und Hände zum Einsatz, wodurch sich Taten eher auf praktische Erfolge beziehen. Mithilfe von sogenannten Assimilationsschemata, durch die neue Wahrnehmungsinhalte an bereits vorhandene angeglichen werden, kann ein Kind kausale Zusammenhänge zwischen der praktischen Tat und dem Ergebnis herstellen.4 In der präoperationalen Entwicklungsstufe können die Kinder dann ihre sensumotorischen Entdeckungen mithilfe von Symbolen beschreiben. Diese sogenannte semiotische Funktion ist dennoch stark an die konkrete Wahrnehmung und das eigene Handeln gebunden.5 Die Fähigkeit des mehrdimensionalen und prälogischen Denkens bildet sich in der dritten, konkret-operationalen Entwicklungsstufe aus. Die kognitiven Fähigkeiten bleiben an konkrete Handlungen und Wahrnehmungen gebunden, jedoch lässt sich im Allgemeinen eine komplexere Denkweise feststellen.6 Ab dem zwölften Lebensjahr befindet sich der Mensch nach Piaget in der formal-operationalen Entwicklungsphase, die durch die Fähigkeit zum systematischen und abstrakten Denken nach den Regeln der formalen Logik charakterisiert wird. Konkret bedeutet das, dass die Kinder in dieser Entwicklungsstufe in der Lage sind Meinungen und Erkenntnisse auf Richtigkeit hin zu überprüfen, indem sie Hypothesen aufstellen, sie überprüfen und daraufhin entsprechende Schlussfolgerungen abwägen. Dadurch lässt sich ebenfalls über mündliche Aussagen folgerichtig nachdenken, sodass ein formal-operational denkender Mensch nicht jede Behauptung eines anderen, als die Wahrheit akzeptieren wird.7
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Stufen der kognitiven Entwicklung nach Piaget.
(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Lohaus/Vierhaus (2019), S. 28-33.)
Aufgrund des wachsenden digitalen Fortschritts ab den 1970er Jahren sowie den damit verbundenen Computersystemen, stellten einige Psychologen die Annahme auf, dass das menschliche Gehirn ebenfalls, als eine Art System betrachtet werden könnte, welches beim Denken die Informationen, wie einen Prozess im Gedächtnis verarbeitet. Dieser Ansatz führte die Forschung weg von Piagets kognitiver Entwicklungstheorie, wodurch sich neuere Ansätze etablierten.8
Der Informationsverarbeitungsansatz geht davon aus, dass die kognitiven Prozesse des menschlichen Gehirns begrenzt sind, so wie die Rechenleistung eines Computers. Klassischen Theorien zufolge erfolgt die Informationsverarbeitung seriell und umfasst die sensorische Wahrnehmung, das Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis und das Langzeitgedächtnis.9 Die Informationen aus der Umwelt werden durch die Sinnesorgane aufgenommen und zum Hippocampus weitergeleitet, wo sie vorläufig im Arbeitsgedächtnis abgelegt und bearbeitet werden, um dann bei Bedarf im Langzeitgedächtnis gespeichert zu werden. Wenn jedoch die Kapazitätsgrenze des Arbeitsgedächtnisses erreicht wird, können die Informationen nicht mehr bearbeitet und weitergeleitet werden, wodurch sie verloren gehen bzw. vergessen werden. Im Laufe des Lebens steigt die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung an und die Gedächtniskapazität erhöht sich, wodurch ältere Kinder komplexere Aufgaben lösen als jüngere.10 Höhere Kompetenzen zur Nutzung effizienterer Gedächtnisstrategien gewährleisten eine wirksamere Nutzung der Gedächtniskapazität. Des Weiteren kommt es im Entwicklungsverlauf, zu einer Steigerung der automatisierten Informationsverarbeitung, die den Speicher des Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnisses zusätzlich entlastet, da hierbei keine bewusste kognitive Anstrengung erforderlich ist. Im Laufe der Entwicklung fällt es Kindern durch ihre Lebenserfahrung immer leichter, neue Informationen zu erkennen und einzuordnen, was zum Anstieg der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit beiträgt.11 Zusammen mit der Ausbildung verschiedener Gedächtnisstrategien kommt auch die Fähigkeit hinzu, eine optimale Strategie für eine bestimmte Situation wählen zu können. Damit eine passende Strategie eingesetzt werden kann, muss das Kind Wissen über Aufgaben, Strategien und Personen besitzen. Diese drei Kategorien bilden das sogenannte metakognitive Wissen, ein Bestandteil der Metakognition. Dadurch, dass das Kind die Aufgabenanforderungen erkennen und die eigenen Fähigkeiten realistisch einschätzen kann, kann es die Nützlichkeit einer Strategie in Bezug auf die Aufgabe bewerten. Die metakognitive Überwachung und Selbstregulierung informiert dann über den kognitiven Prozessfortschritt und wird als die exekutive Funktion der Metakognition bezeichnet.12
3 Die Selbstentwicklung von Kindern und Jugendlichen
Neben der Ausbildung kognitiver Fähigkeit, muss der Mensch bis in die Adoleszenz hinein das eigene Selbst gestalten und sich eine Identität aufbauen. Die Selbstentwicklung kann als ein Prozess der Selbstreflektion bezeichnet werden, welcher ein allmähliches Bewusstwerden und Verstehen des eigenen Selbst voraussetzt. Durch diese Entwicklung erlebt der Mensch das grundlegende Bedürfnis, so zu sein, wie er in Wahrheit ist.13
3.1 Vom Ich-Bewusstsein zum Selbstkonzept
Die Entwicklung des Ich-Bewusstseins beginnt bereits kurz nach der Geburt eines Kindes. Säuglinge nehmen sich in ihrer Umwelt, als unabhängig von anderen Dingen und Lebewesen wahr,14 was sich bspw. darin zeigt, dass sie auf äußerliche Umweltreize stärker reagieren als auf die Reize ihres eigenen Körpers.15 In einem Alter von zwei Jahren hat sich das Verständnis von Kindern über die eigene Person als körperlich unabhängiges Wesen bereits deutlich verbessert. Sie können ihr Spiegelbild erkennen und sich auf Fotos wiederfinden. Die Entwicklung des Ich-Bewusstseins führt ebenfalls dazu, dass Kinder erstmalige Anzeichen von Empathie zeigen, da sie versuchen, die Perspektive eines anderen Menschen zu verstehen. Am Ende des zweiten Lebensjahres fangen Kinder an, sich selbst mithilfe ihres sprachlichen Wissens noch stärker von ihrer Umwelt zu differenzieren. Diese Differenzierung gelingt ihnen durch die Entwicklung von Kategorien, in denen sie sich selbst und andere in Alter, Geschlecht und Eigenschaften unterteilen können.16 Aufbauend auf dem Ich-Bewusstsein bildet sich die Selbstregulation aus, die Fähigkeit sich sozial angemessen zu verhalten, negative Emotionen zu steuern und verschiedene Impulse zu unterdrücken. Dadurch zeigen Kinder ihren Eltern Folgsamkeit, wodurch sie lernen, ihre Reaktionen willentlich nachzuvollziehen und zu befolgen.17
Durch die Entwicklung des Ich-Bewusstseins wird gleichzeitig die Grundlage für das Selbstkonzept gelegt, also die kognitive und affektive Einstellung, die man sich selbst gegenüber vertritt. Das erste Anzeichen für die Selbstkonzeptentwicklung ist das Erkennen des eigenen Spiegelbilds. Bereits mit zwei Jahren können Kinder Personalpronomina einsetzen, um sich in einem Gespräch auf sich selbst zu beziehen. Bis zum vierten Lebensjahr beziehen Kinder ihr Selbstkonzept noch auf die Gegenwart, da sie erst mit der Entwicklung eines autobiografischen Gedächtnisses auf ihr vergangenes und zukünftiges Selbst Bezug nehmen können.18 In der frühen Kindheit können sich Menschen aus einer fremden Perspektive betrachten, was eine Unterscheidung zwischen der subjektiven Einschätzung des Selbst und der subjektiven Erwartung anderer an das Selbst ermöglicht. Nach der Einschulung treten soziale Vergleiche in den Vordergrund des Selbstkonzepts, die eine realistischere Selbsteinschätzung ermöglichen. Indem negative und positive Aspekte der eigenen Person voneinander getrennt und in das Selbstkonzept integriert werden, gewinnt das Selbstbild weiter an Realität. In der Adoleszenz werden die Selbstkonzeptaspekte an situative Kontexte angepasst, wodurch Jugendliche lernen, dass sie sich abhängig von ihrer sozialen Rolle in bestimmten sozialen Situationen verhalten.19
Direkt verbunden mit dem Selbstkonzept ist der Selbstwert, mit dem eine Person ihre Einstellung sich selbst gegenüber beschreibt.20 Der Selbstwert kann sich aus verschiedenen Ebenen der eigenen Selbstbewertung zusammensetzen, wie den akademischen Fähigkeiten, den sozialen Kompetenzen und dem äußerlichen Erscheinungsbild. Ein positiver Selbstwert kann sich ebenso positiv auf die Gesundheit, die Motivation und die allgemeine Lebenszufriedenheit auswirken.21 Besonders jüngere Kinder entwickeln während der mittleren Kindheit einen sehr positiven, jedoch unrealistischen Selbstwert, da sie die Meinungen von anderen noch nicht in ihr Selbstkonzept aufnehmen können. Dies gelingt ihnen spätestens ab dem Schuleintritt, der den Selbstwert bis in die Adoleszenz hinein stetig sinken lässt. Im Jugendalter kommen zudem noch pubertäre Faktoren hinzu, wie z.B. die Unzufriedenheit mit dem eignen Aussehen.22 Der größere Fokus bei der jugendlichen Selbstentwicklung, liegt jedoch eher in der Identitätsfindung, die nun im Folgenden näher erläutert werden soll.
3.2 Die Identitätsfindung
Die Identität beschreibt eine wechselseitige Beziehung aus dem inneren Sich-Selbst-Gleichsein und dem äußeren Teilhaben an gruppenspezifischen Charakterzügen.23 Das Jugendalter ist durch die starke Entwicklung des inneren Bewusstseins gekennzeichnet, wodurch der Mensch eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit und ein höheres Maß an Selbstreflexion ausbilden kann. Durch die sogenannte ideationale Prädikatenzuweisung, einer Strategie, bei der man vergangene Erfahrungen und deren Einfluss auf neue Erfahrungen reflektiert, um neues Wissen über sich selbst zu erlangen, können Jugendliche, während der Interpretation ihrer aktuelle Selbstbeobachtung, zusätzliche Informationen aus ihrer eigenen Biografie miteinbeziehen.24 Mithilfe der erweiterten Reflexionsfähigkeiten hinterfragt man seine subjektive, gewünschte und zugeschriebene Identität. Dabei verläuft die Selbstfindung stets von außen nach innen, das heißt, dass zuerst äußerliche Merkmale wie die Frisur, der Körperbau oder die Klamotten bewertet und gegebenenfalls verändert werden. Danach verlagert sich der Fokus des Findungsprozesses und nimmt verstärkten Bezug auf die eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten.25
Einer Studie von Marcia (1966) zufolge lassen sich insgesamt vier Typen in der Identitätsentwicklung unterscheiden. Der erste Typ ist durch eine übernommene Identität gekennzeichnet und beschreibt eine verbindliche Festlegung ohne eigene Erforschungen. Der zweite Typ ist die Identitätskrise, bei der zwar eine Exploration stattfindet, jedoch keine Festlegung erfolgt. Die Identitätsdiffusion bildet den dritten Typ, für den geringe Erforschung und Festlegung charakteristisch sind. Durch den vierten Typ wird die erarbeitete Identität beschrieben, bei der man sich nach einer erfolgten Exploration auf eine Identität festgelegt hat.26 Die Identitätsfindung geht sogar über die Adoleszenz hinaus und kann abhängig vom jeweiligen Individuum weit in das Erwachsenenalter hinein andauern. Ein gelungener Findungsprozess zeichnet sich dadurch aus, dass die eigene Identität auf einer persönlichen Verknüpfung von sozialen Identitäten und Rollen beruht.27
4 Die soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
Im Gegensatz zur Selbstentwicklung ist die soziale Entwicklung stark von Bindung und Kontakt gekennzeichnet. Als soziales Wesen, ist der Mensch naturgemäß von Beziehungen zu anderen abhängig, wie die vergleichsweise lange Abhängigkeit von Kindern zu ihrer Mutter zeigt. In diesem Zusammenhang ist auch emotionale Entwicklung von Bedeutung, die das generelle Verhalten eines Menschen stark mitbestimmt.
4.1 Das Temperament und die emotionale Entwicklung
Bereits im Kleinkindalter können Eltern bei ihren Kindern gewisse interindividuelle Unterschiede in sozialen und emotionalen Verhaltensweisen feststellen. Während das eine Kind ruhig am Stuhl sitzen bleibt und sich nur dem Essen widmet, lässt sich das andere Kind nur schwer beruhigen, da es zu energisch ist und lieber aufstehen möchte, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Solche Verhaltensweisen sind auf das frühkindliche Temperament zurückzuführen, welches für die stabilen Unterschiede zwischen Individuen in der Qualität und Intensität emotionaler Reaktionen und Selbstregulation sowie im Aktivierungsniveau der Aufmerksamkeit verantwortlich ist. Da diese Unterschiede wiederholt auftreten, bildet das Temperament die Basis für Persönlichkeitsunterschiede.28 Das erste grundlegende Modell des Temperaments wurde von Thomas und Chess entwickelt (1977) und besteht aus neun verschiedene Temperamentsdimensionen. Auf Grundlage dieser Dimensionen und mithilfe von mehreren Eltern-Interviews haben die beiden Forscher drei Typen von kindlichem Temperament unterscheiden können.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Temperamentsmodell nach Thomas und Chess.
(Quelle: Thomas/Chess (1977); zitiert nach Berk (2011), S. 253.)
Die einfachen Kinder bilden den ersten Temperamentstypen und sind offen für neue Reize, weisen eine stabile Rhythmizität sowie eine positive Grundstimmung auf und sind leichter zu beruhigen. Im direkten Gegensatz dazu stehen schwierige Kinder, die eher negativ auf neue Reize reagieren, eine unregelmäßige Rhythmizität zeigen und schnell abgelenkt oder nur schwer zu beruhigen sind. Der dritte Typ ist das nur langsam aktiv werdende Kind, das wenig Interesse an Aktivität zeigt, eine negative Grundstimmung hat und sich nur langsam an neue Situationen oder Reize anpassen kann.29
Als Grundpfeiler der Persönlichkeit liefert das Temperament weitreichende Informationen über die emotionale Entwicklung eines Kindes. Hinreichend ausgebildete emotionale Kompetenzen erweisen sich besonders im sozialen Umfeld, als essenziell für erfolgreiche Kommunikation und werden im Laufe der Entwicklung erworben. Zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr erweitern Kinder ihr Verständnis gegenüber eigenen und fremden Emotionen, wodurch sie in der Lage sind nachvollziehbar über ihre Gefühle zu reden und die emotionalen Signale anderer Menschen zu interpretieren. Das erweiterte emotionale Verständnis verbessert ebenso die emotionale Selbstkontrolle, durch die vor allem negative Impulse leichter kontrolliert werden können. Auch das Erleben von Empathie und selbstbezogenen Emotionen wie Schuld, Scham oder Stolz wird dadurch gefördert.30 Im Entwicklungsverlauf des Kindes werden die emotionalen Kompetenzen dann durch eine stärkere Ausprägung des Ich-Bewusstseins und einer intensiveren sozialen Sensibilität weiter verbessert.31 Sie können dann unter anderem für Beziehungen zu Gleichaltrigen eingesetzt werden, welche im Folgenden zusammen mit der Eltern-Kind-Beziehung näher erläutert werden soll.
4.2 Soziale Beziehungen außerhalb und innerhalb der Familie
Der Kontakt zu Gleichaltrigen liefert Individuen während ihrer Entwicklung einzigartige soziale Erfahrungen, die sich stark von familiären Beziehungen unterscheiden. Anders als die Eltern-Kind-Beziehung oder andere familiäre Beziehungen, wird eine Beziehung zu Gleichaltrigen durch Gleichberechtigung, Kooperation und Symmetrie, die sich in gegenseitiger Toleranz zeigt, charakterisiert. Gleichaltrige Kinder interagieren auf demselben Entwicklungsniveau miteinander, wodurch eine erfolgreiche Kommunikation von jedem Beteiligten gleichermaßen abhängig ist. Unter anderem können Kinder dabei lernen, Konflikte zu lösen und ihr Selbstbild durch Vergleiche weiterzuentwickeln.32
[...]
1 Vgl. Statistisches Bundesamt (2018)
2 Vgl. Berk (2011), S. 22
3 Vgl. Berk (2011), S. 200
4 Vgl. Piaget/Inhelder (1973), S. 15-16
5 Vgl. Lohaus/Vierhaus (2019), S. 30; Piaget/Inhelder (1973), S. 61
6 Vgl. Lohaus/Vierhaus (2019), S. 32-33
7 Vgl. Berk (2011), S. 22; Piaget/Inhelder (1973), S. 134
8 Vgl. Sodian (2018), S. 403
9 Vgl. Sodian (2018), S. 403
10 Vgl. Sodian (2018), S. 403-404
11 Vgl. Lohaus/Vierhaus (2019), S. 38-40
12 Vgl. Flavell (1979), S. 906-907; Sodian (2018), S. 405
13 Vgl. Neumann (2017), S. 1514
14 Vgl. Spangler/Schwarzer (2008), S. 150
15 Vgl. Rochat/Hespos (1997), S. 109-110
16 Vgl. Berk (2011), S. 275-276
17 Vgl. Berk (2011), S. 276-277
18 Vgl. Rakoczy (2017), S. 1518
19 Vgl. Lohaus/Vierhaus (2019), S. 214-216
20 Vgl. Schütz (2017), S. 1526
21 Vgl. Hannover/Greve (2018), S. 572
22 Vgl. Robins/Trzesniewski/Tracy/Gosling/Potter (2002), S. 430
23 Vgl. Erikson (1973), S. 124
24 Vgl. Lohaus/Vierhaus (2019), S. 215
25 Vgl. Schenk-Danzinger (1999), S. 371-372
26 Vgl. Marcia (1966), S. 557-558; Weichold/Silbereisen (2018), S. 258
27 Vgl. Weichold/Silbereisen (2018), S. 25
28 Vgl. Elsner/Pauen (2018), S. 174
29 Vgl. Chess/Thomas (1984); zitiert nach Elsner/Pauen (2018), S. 174
30 Vgl. Berk (2011), S. 346
31 Vgl. Berk (2011), S. 451
32 Vgl. Berk (2011), S. 350; Lohaus/Vierhaus (2019), S. 250-251