Diese Arbeit befasst sich mit dem Phasenmodell Günter Waldmanns. Inhaltlich beschäftigt sich dieses Modell mit dem Verstehen literarischer Texte.
Die Arbeit gliedert sich in die unterschiedlichen Phasen dieses Modells. Zu Beginn behandelt es das Lesen und Aufnehmen eines literarischen Textes. Anschließend behandelt es die konkretisierende subjektive Aneignung eines solchen Textes. Im dritten Teil wird die Phase des textuellen Erarbeitens erläutert und zuletzt wird näher auf die textüberschreitende Auseinandersetzung eines literarischen Textes eingegangen.
Inhalt
1. Einleitung
2. Das didaktische Phasenmodell nach Waldmann (2000)
2.1 Vorphase: Spielhafte Einstimmung in literarische Texte
2.2 Phase 1: Lesen und Aufnehmen literarischer Texte
2.3 Phase 2: Konkretisierende subjektive Aneignung literarischer Texte
2.4 Phase 3: Textuelles Erarbeit en literarischer Texte
2.4 Phase 4: Textüberschreitende Auseinandersetzung mit literarischen Texten
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Bevor zu einem späteren Zeitpunkt die einzelnen Phasen des didaktischen Phasenmodells nach Waldmann (2011) erläutert werden können, ist es erforderlich darzustellen, warum dieses dramendidaktische Konzept erläutert wird und zusätzlich, wie der Umgang mit literarischen Texten in den Kernlehrplänen und in den Bildungsstandards legitimiert ist.
Im Kernlehrplan für die Gesamtschulen des Landes Nordrhein-Westfalen für das Fach Deutsch wird explizit zwischen Sachtexten und literarischen Texten unterschieden (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen, 2004). Hier kommt die Frage auf, wodurch sich diese unterscheiden und warum literarische Texte im Schulunterricht anders behandelt werden müssen, als die sogenannten Gebrauchstexte. Es ist festzuhalten, dass Gebrauchstexte – anders als literarische Texte – darauf ausgerichtet sind, „die Wirklichkeiten [die sie] berichten, darstellen, behandeln [und] auf die sie sich beziehen“ (Waldmann, 2010, S. 135) möglichst sachlich und informativ darzustellen. Im Gegensatz zu den Alltagstexten, sind literarische Text „nicht […] durch eine Wirklichkeit bestimmt, auf die sie sich beziehen, etwa in dem sie [diese] […] wiederspiegeln oder abbilden“ (Waldmann, 2010, S. 135). Zwar stellen sie Wirklichkeiten in Form von Personen, Handlungen, Ereignissen, Räumen (Waldmann, 2010, S. 135) etc. dar, dabei hängt allerdings ihr Status literarischer Text nicht davon ab, „ob diese auf reale Personen, Handlungen, Ereignisse, Dinge, Räume bezogen sind“ (Waldmann, 2010, S. 135). Diese Wirklichkeiten können also auch rein fiktiv und von dem Autor frei erfunden sein. Zusätzlich unterscheiden sich die literarischen Texte darin von den Gebrauchstexten, dass sie reale Personen – ob sie noch leben oder gelebt haben – sowie real existente Räume und Landstriche, sowohl verändert als auch verfremdet darstellen können (Waldmann, 2010, S. 135). Für diese Form der Texte spielt es keine Rolle, ob sie nun die reale Wirklichkeit wiedergeben oder eben nicht, denn „ihre Kriterien sind allein Komposition, Strukturiertheit, Stimmigkeit [und] Intensität ihrer literarischen Gestalt“ (Waldmann, 2010, S. 135) – also ihre generelle „Literarität“ (Waldmann, 2010, S. 135) selbst. Ein literarischer Text „referiert nicht auf eine bestehende Wirklichkeit, sondern entwirft seine Wirklichkeit selbst, und zwar als durchaus realitätsanaloge Wirklichkeit“ (Waldmann, 2010, S. 140). Des Weiteren sind literarische Texte autoreflexiv, d.h. selbstreferierend (Waldmann, 2010, S. 135), wobei sie nicht „selbstursprünglich, selbstgegeben, selbstgesetzlich [oder] autonom“ (Waldmann, 2010, S. 135) sind. Unter anderem aus der Tatsache der Autoreflexivität dieser literarischen Texte wird deutlich, dass diese fremdkonstruiert sind, denn „was [der literarische Text] ist, ist er dadurch, dass ein Autor die in ihm dargestellte Wirklichkeit produziert hat und ein Leser ihn rezipiert“ (Waldmann, 2010, S. 135). Waldmann (2010) postuliert weiterführend, dass die literarischen Texte eine Deviation, d.h. eine Abweichung von den Normen und Regeln der Alltagstexte darstellen (Waldmann, 2010, S. 136). Er „verändert, erweitert, verkürzt, verdichtet, überstrukturiert, verletzt, überlagert [und/oder] verfremdet“ (Waldmann, 2010, S. 136) diese Regeln und Normen. Es wird ersichtlich, dass der literarische Text eine Differenz zu den Alltagstexten aufweist. Diese Differenz wird unter anderem dadurch produziert, „dass der Autor bestimmte literarische Formen zur Bearbeitung seines Sprach-, Wirklichkeits- und Fantasiematerials wählt“ (Waldmann, 2010, S. 136). Anhand dieser Differenz zu den Alltags- bzw. Gebrauchstexten, erhält der literarische Text seinen literarischen Status (Waldmann, 2010, S. 136).
Doch auch in Hinblick auf die verwendete Sprache unterscheiden sich literarische Texte von den Alltags- bzw. Gebrauchstexten. Die lyrische Sprache der literarischen Texte ist phonologisch „durch Metrum, Rhythmus, Reim, semantisch etwa durch Metapher, Leitmotiv, Wiederholungsformen, syntaktisch etwa durch Enjambament, Inversion, harte Fügung, textuell etwas durch Strophen- und Gedichtsformen bestimmt“ (Waldmann, 2010, S. 136). Im Gegensatz zu den Alltagstexten besitzt der literarische Text eine Form des literarisch-fiktionalen Erzählens (Waldmann, 2010, S. 136), was unter anderem bedeutet, dass eine bestimmte Erzählerrolle eingenommen wird. Dieser Erzähler weist eine bestimmte Erzählhaltung auf und verwendet eine bestimmte Redeform (innerer Monolog, erlebte Rede etc.), die die Handlung mit bestimmten Strukturen in Hinblick auf Raum, Zeit und bestimmten Dialogformen erzählt (Waldmann, 2010, S. 136). In Bezug auf die Unterschiede, der im jeweiligen Text dargestellten Dialoge, postuliert Waldmann (2010):
Das literarische Drama ist verschieden von alltäglichen Dialogen, weil es bestimmte dramatische Strukturierungsformen (geschlossene, offene, epische, dokumentarische usw.), bestimmte Figurendarstellungen und -konstellationen, Handlungsformen und Konfliktlöseverfahren, Raum- und Zeitordnungen, teilweise besondere Dialog- und Monologformen, gegebenenfalls bestimmte sprachlich-metrische oder chorische oder epische Merkmale aufweist und in allem auf Zuschauer bezogen ist (Waldmann, 2010, S. 136).
Literarische Texte implizieren also indirekt ein Publikum bzw. einen Zuschauer. Aufgrund des vorgegebenen Umfangs dieser Arbeit, soll der Darstellung der Unterschiede zwischen Gebrauchs- und literarischen Texten hiermit Genüge getan sein. Anhand der erläuterten Unterschiede wird deutlich, dass die literarischen Texte eine ganz andere Didaktik erfordern und in Folge dessen auch im Kernlehrplan separat behandelt werden müssen. Der Umgang mit literarischen Texten ist im Kernlehrplan für das Unterrichtsfach Deutsch, den Kompetenzerwartungen Lesen – Umgang mit Texten und Medien zuzuordnen. Demnach können Schülerinnen und Schüler, die den Mittleren Schulabschluss erworben haben, „epische, lyrische, dramatische Texte unterscheiden“ (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen, 2004, S. 17). Neben der Fähigkeit, die zentralen Inhalte des jeweiligen Textes zu erschließen, können die Schülerinnen und Schüler „sprachliche Gestaltungsmittel in ihren Wirkungszusammenhängen und in ihrer historischen Bedingtheit erkennen“ (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen, 2004, S. 17). Sie können „Zusammenhänge zwischen Text, Entstehungszeit und Leben des Autors/der Autorin bei der Arbeit an Texten aus Gegenwart und Vergangenheit herstellen […] [sowie] eigene Deutungen des Textes entwickeln“ (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen, 2004, S. 17f.). Zusätzlich können sie „analytische Methoden anwenden [und] Handlungen, Verhaltensweisen und Verhaltensmotive bewerten“ (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen, 2004, S. 18). Neben den bereits genannten, finden sich unter dem Punkt Umgang mit literarischen Texten weitere Kompetenzerwartungen. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass dies Erwartungen sind, was bedeutet, dass nicht garantiert werden kann, dass alle Schülerinnen und Schüler, die die Fachoberschulreife abschließen, auch diese Kompetenzen aufweisen können. Diese Kompetenzerwartungen fungieren eher als wünschenswertes Ziel der Bildungspolitik. Des Weiteren wird nicht genauer differenziert, wie stark die jeweilige Kompetenz ausgeprägt ist. In Hinblick auf die Dramendidaktik ist es erforderlich – wie in jedem anderen schulischen Kontext – die Heterogenität der Lerngruppe mit einzubeziehen, denn auch hier tritt eine Heterogenität der kognitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler in Erscheinung (Waldmann, 2011, S. 35). Als Lehrperson kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieses eine Verfahren, mit dem der jeweilige Text bearbeitet werden soll, bei jeder Schülerin und jedem Schüler den gleichen Lerneffekt zu Tage bringt. Aus diesem Grund muss im Kontext der Dramendidaktik individualisiert werden, indem die Lehrperson auf die individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler eingeht. Gemäß §1 Abs. 1 des Schulgesetz f ü r das Land Nordrhein-Westfalen hat „jeder junge Mensch […] ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft und sein Geschlecht ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2018), sodass sich dieser Individualisierung keine Lehrperson entziehen kann. Hierzu ein kurzer Exkurs. Häufig werden die Begriffe Individualisierung und Differenzierung in einem Atemzug genannt (Streber & Haag, 2004, S. 43). Jedoch bedeuten diese beiden Begriffe keineswegs ein und dasselbe. Bei der Individualisierung handelt es sich keineswegs um eine „Spezialform der Differenzierung“ (Streber & Haag, 2014, S. 43). Diese ist vielmehr als ein „didaktischer Oberbegriff [zu verstehen], dem entsprechenden Organisations- und Unterrichtsformen untergeordnet werden“ (Streber & Haag, 2014, S. 43). Aufgrund des Umfangs dieser Arbeit ist es jedoch nicht möglich weiter in die Materie einzusteigen (siehe hierzu Streber & Haag (2004); Kunze (2016)). Trotzdem sei kurz erwähnt, wie die Lehrperson auf die individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler eingehen kann. Kracke & Driesel-Lange (2016) postulieren, dass „pädagogische Settings, die sich an der Selbstbestimmungstheorie orientieren, immer individualisiertes Lernen [erlauben]“ (Kracke & Driesel-Lange, 2016, S. 170). Orientiert sich die Lehrperson bei der Gestaltung des Unterrichts an der Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 2000), so kann sie immer auf die individuellen Voraussetzungen ihrer Schülerinnen und Schüler eingehen und diese berücksichtigen.
2. Das didaktische Phasenmodell nach Waldmann (2000)
Ein produktiver Umgang mit Dramentexten ergänzt die traditionelle und konventionelle Textanalyse bzw. -interpretation im Unterrichtsgespräch beispielsweise durch „Formen des Umgestaltens, des Ergänzens [oder] des Umsetzens in andere Medien“ (Haas, Menzel & Spinner, 1994, S. 17). Die „Schülerinnen und Schüler füllen Lücken in Texten aus, schreiben Geschichten aus veränderter Sicht um, verfassen eigene Texte nach vorgegebenen Mustern, spielen, malen zu Texten“ (Haas et al., 1994, S. 17). Ein produktionsorientierter Literaturunterricht kann den Schülerinnen und Schülern die Gelegenheit geben, ihre Kreativität zu üben und Erfahrungen mit der Imagination und Fantasie zu machen (Waldmann, 2011, S. 39), weil der Dramentext nur als Skizze fungiert, die vom Leser vervollständigt werden muss (Lösener, 2005, S. 308). Waldmann (2011) postuliert, dass das literarische Lesen ein produktives Lesen sei, was den Leser zum Koproduzenten macht (Waldmann, 2011, S. 141). Für Waldmann steht die „mentale Inszenierung des Lesers [im] Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Text“ (Lösener, 2005, S. 310). Diese mentale Inszenierung spielt sich, anders als die aufgef ü hrte Inszenierung, welche auf der Bühne realisiert wird, im Kopf des Lesers oder der Leserin ab (Lösener, 2005, S. 297).
Warum sollte mit Dramentexten produktiv umgegangen werden? Diese Frage ist relativ schnell zu beantworten. Die dramatische Literatur fordert einen produktiven Umgang (Waldmann, 2010, S. 134), weil „literarisches Verstehen […] notwendigerweise produktive Formen aufweist“ (Waldmann, 2010, S. 134). „Einen Text literarisch zu verstehen, bedeutet […] seine Produziertheit zu verstehen“ (Waldmann, 2010, S. 136). Folglich das Verständnis, dass der Text „nicht aus und durch sich besteht, sondern das Produkt literarischer Arbeit seines Autors ist“ (Waldmann, 2010, S. 136). Lesen ist nicht einfach die „Informationsentnahme aus einem Text […], sondern [die Tatsache], daß der Sinn eines Textes immer vom Leser mitgeschaffen wird“ (Haas, Menzel & Spinner, 1994, S. 18). Bei einem produktionsorientierten Ansatz wird das Mitschaffen der Schülerinnen und Schüler gezielt gefördert, weil diese dazu angeregt werden „eigene Vorstellungen zum Text zu entfalten und sie in mannigfacher Form gestaltend zum Ausdruck zu bringen“ (Haas et al., 1994, S. 18). Auch aus der Perspektive des Poststrukturalismus scheint der Ansatz eines produktiven Umgangs legitim. Haas et al. (1994) formulieren:
Der Poststrukturalismus propagiert einen Zugang zu literarischen Texten, der nicht nur auf den Aufweis der geschlossenen Ganzheit eines literarischen Textes zielt, sondern die Texte als dynamisches Gebilde begreift, die durchzogen sind von verschiedenen Bedeutungssträngen, die sich durchaus widersprechen mögen (Haas et al., 1994, S. 18)
Aus diesem Grund kann der „Umgang mit Texten nur in einem Eingreifen und einem Dekonstruieren (Aufbrechen) der scheinbaren Geschlossenheit bestehen“ (Haas et al., 1994, S. 18). Auch auf die Frage, welche Vorteile ein produktiver Umgang mit Dramentexten mit sich bringt sei an dieser Stelle eingegangen. Die Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler sind geringer (Waldmann, 2011, S. 35). Zusätzlich werden die „Erträge formanalytischer Bemühungen um den Text […] unmittelbar als eigene Erfahrung gemacht“ (Waldmann, 2011, S. 35), wobei sich die Verbalisierung dieser Erträge hier nicht ausschließlich auf einen fremden Text bezieht, sondern immer auch auf den, von der Schülerin oder dem Schüler, eigenständig produzierten Text. Dadurch ist die Verbalisierung seitens der Schülerinnen und Schüler motivierter, als eine starre Textanalyse (Waldmann, 2011, S. 35). Die zentrale Aufgabe des Literaturunterrichts ist es, die Schülerinnen und Schüler zum Verstehen literarischer Texte zu führen (Waldmann, 2011, S. 27). Hierbei stellt das literarische Verstehen einen einheitlichen, komplexen Vorgang dar (Waldmann, 2011, S. 27). Um diesen komplexen Vorgang in den Schulunterricht zu integrieren und „ihn einzuüben, also um ihn didaktisch handhabbar zu machen, ist er in seine einzelnen Momente aufgefächert, womit die einzelnen Momente aufeinander folgende Phasen bilden“ (Waldmann, 2011, S. 27). Diese Momente bilden insgesamt ein „vierstufiges […] Phasenmodell unterrichtlicher Vermittlung literarischen Textverstehens“ (Waldmann, 2011, S. 27). Waldmann (2011) formuliert, dass dieses Phasenmodell „allgemein und für jeglichen Literaturunterricht [gilt] und […] sowohl mit produktiven als auch mit analytischen Verfahren zu realisieren [ist]“ (Waldmann, 2011, S. 28). Im Folgenden werden die einzelnen Phasen des Modells nach Waldmann (2011) beschrieben und Realisierungsmöglichkeiten dargestellt.
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