Der Begriff der Notlüge bei Immanuel Kant
Zusammenfassung
Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Hauptteil
2.1 Rekonstruktion der Position Immanuel Kants
2.2 Einwand zur Position Immanuel Kants
2.3 Einwände gegen diesen Einwand
3. Schluss
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die in der Allgemeinheit geläufigste These des Philosophen Immanuel Kant ist, dass Menschen jederzeit daran gebunden sind, ihre Versprechen zu halten. Bewusste Falschaussagen sind grundsätzlich nie erlaubt, nicht mal als Notlügen unter den widrigsten Umständen. Die Rechtfertigung dafür erfolgt durch das grundlegende Prinzip Kants deontologischer Moraltheorie, den Kategorischen Imperativ. Tatsächlich ist die Notlüge auch das Beispiel, mit dem Kant eben diesen Kategorischen Imperativ von Beginn an einführt. Doch ist dieses Beispiel als Begründung auch wirklich so einleuchtend und unwiderlegbar wie allgemein angenommen?
Im Folgenden setze ich mich mit der Frage auseinander, ob und inwiefern die Tatsache, dass Lügen aufgrund des Kategorischen Imperativs von Kant nicht erlaubt sind, erklärt, warum keine Notlügen erlaubt sind. Zu diesem Zweck rekonstruiere ich zunächst die Position Immanuel Kants, um schließlich meinen Einwand dagegen vorzubringen. Dabei möchte ich auch Bezug auf mögliche Gegeneinwände gegen diesen Einwand nehmen.
2. Hauptteil
2.1 Rekonstruktion der Position Immanuel Kants
Immanuel Kant erklärt den Kategorischen Imperativ von Beginn an vornehmlich am Beispiel der Lüge. Wenn ich im Begriff bin, in einer für mich unangenehmen Situation ein falsches Versprechen zu begehen, soll ich nicht aufwendig auf die mittelbaren oder unmittelbaren Folgen blicken oder gar ausrechnen, mit welcher Handlungsoption ich mit mehr Nutzen bzw. weniger Kosten aus der Situation herauskomme. Dies würde aufgrund der Komplexität der Gemengelage höchstwahrscheinlich sowieso nicht funktionieren, da ich Dinge vergessen oder einfach nicht beachten würde.
„Die Frage sei z.B.: darf ich, wenn ich im Gedränge bin, nicht ein Versprechen tun, in der Absicht, es nicht zu halten? [...] Zwar sehe ich wohl, daß es nicht genug sei, mich vermittelst dieser Ausflucht aus einer gegenwärtigen Verlegenheit zu ziehen, sondern wohl überlegt werden müsse, ob mir aus dieser Lüge nicht hinterher viel größere Ungelegenheit entspringen könne, als die sind, von denen ich mich jetzt befreie, und, da die Folgen bei aller meiner vermeinten Schlauigkeit nicht so leicht vorauszusehen sind, daß nicht ein einmal verlornes Zutrauen mir weit nachteiliger werden könnte, als alles Übel, das ich jetzt zu vermeiden gedenke, ob es nicht klüglicher gehandelt sei, hiebei nach einer allgemeinen Maxime zu verfahren, und es sich zur Gewohnheit zu machen, nichts zu versprechen, als in der Absicht, es zu halten. Allein es leuchtet mir hier bald ein, daß eine solche Maxime doch immer nur die besorglichen Folgen zum Grunde habe. Nun ist es doch etwas ganz anderes, aus Pflicht wahrhaft zu sein, als aus Besorgnis der nachteiligen Folgen: indem im ersten Falle, der Begriff der Handlung an sich selbst schon ein Gesetz für mich enthält, im zweiten ich mich allererst anderwärtsher umsehen muß, welche Wirkungen für mich wohl damit verbunden sein möchten. Denn wenn ich von dem Prinzip der Pflicht abweiche, so ist es ganz gewiß böse; werde ich aber meiner Maxime der Klugheit abtrünnig, so kann das mir doch manchmal sehr vorteilhaft sein, wiewohl es freilich sicherer ist, bei ihr zu bleiben. “
- Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785
Vielmehr soll ich mich fragen, wie eine Welt aussähe, in der es als allgemeines Gesetz gilt, dass alle Menschen grundsätzlich immer Lügen begehen. Die Folge daraus wäre, dass mir niemand meine Aussage abnehmen und auch ich ständig von anderen Menschen bewusste Falschaussagen erfahren würde, womit ich mein falsches Versprechen letztlich gar nicht mehr tätigen könnte. Die Handlung ist somit also in sich widersprüchlich.
„Um indessen mich in Ansehung der Beantwortung dieser Aufgabe, ob ein lügenhaftes Versprechen pflichtmäßig sei, auf die allerkürzeste und doch untrügliche Art zu belehren, so frage ich mich selbst: würde ich wohl damit zufrieden sein, daß meine Maxime (mich durch ein unwahres Versprechen aus Verlegenheit zu ziehen) als ein allgemeines Gesetz (sowohl für mich als andere) gelten solle, und würde ich wohl zu mir sagen können: es mag jedermann ein unwahres Versprechen tun, wenn er sich in Verlegenheit befindet, daraus er sich auf andere Art nicht ziehen kann? So werde ich bald inne, daß ich zwar die Lüge, aber ein allgemeines Gesetz zu lügen gar nicht wollen könne; denn nach einem solchen würde es eigentlich gar kein Versprechen geben, weil es vergeblich wäre, meinen Willen in Ansehung meiner künftigen Handlungen andern vorzugeben, die diesem Vorgeben doch nicht glauben, oder, wenn sie es übereilter Weise täten, mich doch mit gleicher Münze bezahlen würden, mithin meine Maxime, so bald sie zum allgemeinen Gesetze gemacht würde, sich selbst zerstören müsse. “
- Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Riga 1785
Soweit die bekannte Position Immanuel Kants, meinen Einwand dagegen erläutere ich im nun folgenden Abschnitt.
2.2 Einwand zur Position Immanuel Kants
Tatsächlich nehme ich an, dass Kant hier an einer entscheidenden Stelle einen Logikfehler begangen hat. Der Kategorische Imperativ verbietet nach seiner eigenen Definition nur Handlungen, die in sich widersprüchlich wären, wenn alle sie immer ausführen würden. Nun zeichnen sich ausgerechnet Notlügen aber dadurch aus, dass sie letztlich nicht alle immer, sondern nur vereinzelt in konkreten Notsituationen, ausführen. Das Argument enthält also einen entscheidenden Übertragungsfehler: Statt „ein allgemeines Gesetz, in Notsituationen zu lügen“ fügt Kant in seine Formel „ein allgemeines Gesetz zu lügen“ ein. So erhält er als Ergebnis, dass der Kategorische Imperativ Lügen verbietet, aber was er zum Thema Notlügen sagt, ist nicht Teil der Argumentation.
Werfen wir einen Blick auf das zentrale Argument: Wenn der Kategorische Imperativ Notlügen verbietet, dann sind sie in sich widersprüchlich. In der ersten Prämisse wird sichergestellt, dass die einzige Bedingung für das Verbot einer Handlung durch den Kategorischen Imperativ laut Kant die innere Widersprüchlichkeit der Handlung ist. Wenn Notlügen nun in sich widersprüchlich sind, dann können alle sie immer ausführen. Diese zweite Prämisse besagt, dass nur Handlungen als in sich widersprüchlich gelten können, die auch alle immer ausführen können. Notlügen aber können nicht alle immer ausführen. Als dritte Prämisse meines Arguments fungiert die Tatsache, dass Notlügen, also Lügen mit dem Zweck, sich selbst aus einer unangenehmen Situation zu befreien, nicht durch alle immer ausgeführt werden können. Das folgt a priori allein aus der Begriffsdefinition. Kant selbst beschreibt die Situation sogar mit der Formulierung „wenn ich im Gedränge bin“, die bereits sehr stark impliziert, dass sich eben nicht jeder Mensch immer im Gedränge befindet.
Also: Notlügen sind nicht in sich widersprüchlich. Die Zwischenkonklusion folgert aus der zweiten und dritten Prämisse, dass Notlügen nicht in sich widersprüchlich sein können. Der Kategorische Imperativ verbietet Notlügen also nicht. In der Konklusion wird schließlich mithilfe der ersten Prämisse und der soeben gefolgerten Zwischenkonklusion sichergestellt, dass der Kategorische Imperativ Notlügen nicht verbietet. Streng genommen kann der Kategorische Imperativ sogar gar keine Aussage zum Thema Notlügen tätigen, da sich diese ja gar nicht verallgemeinern lassen, weil sie sich eben dadurch auszeichnen, nicht immer durch alle ausgeführt zu werden.
Ganz praktisch und verallgemeinernd lässt sich auch sagen: Eigentlich befinden wir uns in einer Welt, in der Menschen sehr oft in Notsituationen lügen. Trotzdem nimmt das aber nicht solche Ausmaße an, dass ich tatsächlich bei jeder einzelnen von mir im Alltag getätigten Aussage davon ausgehen muss, dass mir Menschen wahrscheinlich nicht glauben, weil Aussagen dadurch allgemein keinen Wert mehr hätten.
2.3 Einwände gegen diesen Einwand
Gegen den von mir vorgetragenen Einwand lässt sich mit der These argumentieren, dass man sich vielleicht durchaus eine mögliche Welt vorstellen könnte, in der alle Aussagen eines jeden Menschen immer Notlügen wären. In dieser Welt würden sich Notlügen dann nicht dadurch auszeichnen, dass nicht alle sie immer, sondern nur vereinzelt in Notsituationen, ausführen können, womit die dritte Prämisse entkräftet wäre. Vielmehr wären sie dann sogar die Regel. Dieses Szenario jedoch mutet allein aufgrund des Begriffs „Notlüge“ bzw. der Beschreibung der Situation als „wenn ich im Gedränge bin“ schwer vorstellbar an. Schließlich impliziert dieser Begriff bereits als logische Wahrheit, dass er nur in Notsituationen vorkommt, und eine Welt, in der sich jeder Mensch dauerhaft im Gedränge befindet, erscheint ebenfalls nicht logisch vorstellbar. Hierbei handelt es sich um ein sogenanntes analytisches Urteil a priori, wie es auch in der theoretischen Philosophie Kants selbst vorkommt.
„Es ist also wenigstens eine der näheren Untersuchung noch benötigte und nicht auf den ersten Anschein sogleich abzufertigende Frage: ob es ein dergleichen von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges Erkenntnis gebe. Man nennt solche Erkenntnisse a priori, und unterscheidet sie von den empirischen, die ihre Quellen a posteriori, nämlich in der Erfahrung, haben. “
- Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1787 Ein solches analytisches Urteil a priori ist immer zwingend notwendig. Genauso, wie man sich keine Welt vorstellen kann, in der Junggesellen verheiratet sind, kann man sich also auch keine Welt vorstellen, in der Notlügen immer durch alle Menschen ausgeführt werden. Deshalb kann dieses Gegenargument nicht greifen.
„Findet sich also erstlich ein Satz, der zugleich mit seiner Notwendigkeit gedacht wird, so ist er ein Urteil a priori;“
- Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1787 Befürworter von Kants Position könnten außerdem das Dammbruchargument gegen meinen Einwand anführen. Sie könnten sagen, dass im Falle einer moralischen Akzeptanz von Notlügen die Hemmschwelle für Menschen schnell geringer würde, dann zunächst auch in Situationen zu lügen, die gar keine so starke Notsituation darstellen, und schließlich auch in Momenten, in denen man es eigentlich gar nicht müsste, es aber schlicht aus Gewohnheit weiterhin tut. Dieser Einwand gehört jedoch zu den konsequentialistischen Argumenten und kann daher nur sehr schwer von Kant intuiert sein, da solche mit den Grundsätzen seiner deontologischen Ethik nicht vereinbar sind.
Richtig ist allerdings, dass mit der Widerlegung der Tatsache, dass das angeführte Beispiel einen Beweis für den Kategorischen Imperativ darstellt, nicht gezeigt ist, dass die Formel nicht gilt oder es gar kein Beispiel gibt, dass man für die Einführung verwenden könnte. Grundsätzliche Befürworter des Kategorischen Imperativs müssen also im Zweifel gar keinen Gegeneinwand, sondern lediglich ein neues, besser passendes Beispiel ausfindig machen.
3. Schluss
Alles in allem lässt sich also sagen, dass Immanuel Kant ein sehr uneindeutiges Beispiel zur Einführung des Kategorischen Imperativs gewählt hat. Während es vielleicht auf den ersten Blick passt, stellt sich bei genauerem Hinsehen doch heraus, dass in der Konstruktion viele Unebenheiten vorhanden sind. So muss er für die Aufstellung seiner Formel ein Beispiel verallgemeinern, zieht dazu aber eines heran, dass sich nicht ohne weiteres verallgemeinern lässt.
Gegenargumente gegen den Einwand sind entweder nicht mit Kants theoretischer Philosophie, also seiner kritizistischen Erkenntnistheorie, oder dem Rest seiner praktischen Philosophie, vornehmlich der deontologischen Moraltheorie, vereinbar. Trotzdem lässt sich das jedoch nicht als allgemeines Argument gegen den Kategorischen Imperativ werten, da es mit Sicherheit auch Beispiele gibt, die problemlos in die Formel passen würden und mit denen man sie besser einführen könnte.
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