Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem autopoietischen Systemverständnis nach Niklas Luhmann für die Führung in Unternehmen? Das Ziel dieser Arbeit ist die Ableitung der Herausforderungen für die unternehmerische Praxis aus dem Verständnis einer Organisation als autopoietisches System nach Luhmann.
Zunächst beschäftigt sich der Autor mit der Thematik der autopoietischen Systeme. In diesem Zusammenhang werden anfangs die theoretischen Grundlagen geschaffen, indem der Systembegriff, die Systemtheorie und das Themenfeld der autopoietischen Systeme vorgestellt werden. Danach wird sowohl die Forschung von Maturana und Varela als auch von Luhmann aufgezeigt. Innerhalb dessen findet eine Darstellung der charakteristischen Merkmale von autopoietischen Systemen statt.
Darauf aufbauend beschäftigt sich der zweite Teil mit den daraus resultierenden Konsequenzen in der Praxis, wobei als Schwerpunkt die Führung gewählt wird. Daher wird zuerst das systemische Führungsverständnis und dessen Besonderheit erläutert. Im Nachgang werden basierend auf den Ergebnissen einer Expertenbefragung Handlungsfelder für die Praxis aufgezeigt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Autopoietische Systeme – Charakteristika und Entwicklung
2.1 Theoretische Grundlagen
2.1.1 Der Systembegriff
2.1.2 Die Entwicklung der Systemtheorie
2.1.3 Definition autopoietischer Systeme
2.2 Forschungen von Maturana und Varela
2.3 Autopoietische Systeme nach Luhmann und ihre Charakteristika
2.3.1 Die Luhmannsche Systemtheorie
2.3.2 Merkmale autopoietischer Systeme
3. Herausforderungen für die unternehmerische Praxis
3.1 Erörterung des systemischen Führungsverständnisses
3.2 Konkrete Handlungsempfehlungen für die Praxis
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
Die aktuelle Covid-19 Pandemie stellt alle Bereiche unserer Gesellschaft vor erhebliche Herausforderungen. Die globalen Auswirkungen und die damit verbundene Komplexität der Situation ist von enormem Ausmaß. Der daraus resultierende Digitalisierungsschub verstärkt diesen Trend zudem. Für Unternehmen bedeutet dies ein Umdenken in einer nie gekannten Dimension. Ein Beispiel dafür ist die Siemens AG. Im Rahmen einer Pressemitteilung gab die Siemens AG am 16. Juli 2020 ihr „New Normal Working Model“ bekannt, welches einen starken Fokus auf mobiles Arbeiten legt. Damit dies gelingen kann, ist unter anderem eine Transformation der Führung notwendig (vgl. Siemens AG, 2020). Besonders einseitiges Denken und Handeln können diese Umsetzung erschweren, weshalb ein ganzheitlicher Ansatz empfehlenswert ist. Ein mögliches Instrumentarium, um die Komplexität der Herausforderungen zu meistern, stellt die Systemtheorie und die damit gekoppelte systemische Führung dar. Aus diesem Grund beschäftigt sich das vorliegende Assignment mit der Forschungsfrage „Welche Konsequenzen ergeben sich aus dem autopoietischen Systemverständnis nach Luhmann für die Führung in Unternehmen?“.
Das Primärziel dieser Hausarbeit ist die Ableitung der Herausforderungen für die unternehmerische Praxis aus dem Verständnis einer Organisation als autopoietisches System nach Luhmann. Ein Teilziel ist es, die Thematik der autopoietischen Systeme aus definitorischen Gesichtspunkten zu erläutern. Darauf basierend stellt die Darstellung der Theorie von Niklas Luhmann und die Erörterung der Merkmale solcher Systeme ein weiteres Teilziel dar. Daraus resultierend ergibt sich das letzte Unterziel, sowohl das systemische Führungsverständnis vorzustellen als auch die sich daraus ergebenden Herausforderungen in der Praxis aufzuzeigen.
Bei der Erarbeitung handelt es sich um eine literaturbasierte Analyse, welche um die Methodik der Expertenbefragungen ergänzt wurde. Das Assignment ist in zwei aufeinander aufbauende Hauptteile untergliedert. Der erste beschäftigt sich mit der Thematik der autopoietischen Systeme. In diesem Zusammenhang werden anfangs die theoretischen Grundlagen geschaffen, indem der Systembegriff, die Systemtheorie und das Themenfeld der autopoietischen Systeme vorgestellt werden. Danach wird sowohl die Forschung von Maturana und Varela als auch von Niklas Luhmann aufgezeigt. Innerhalb dessen findet eine Darstellung der charakteristischen Merkmale von autopoietischen Systemen statt. Darauf aufbauend beschäftigt sich der zweite Teil mit den daraus resultierenden Konsequenzen in der Praxis, wobei als Schwerpunkt die Führung gewählt wird. Daher wird zuerst das systemische Führungsverständnis und dessen Besonderheit erläutert. Im Nachgang werden basierend auf den Ergebnissen einer Expertenbefragung Handlungsfelder für die Praxis aufgezeigt. Den Abschluss der Arbeit stellt das Fazit dar, in dem sowohl die gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf die Forschungsfrage gesetzt werden als auch eine kritische Würdigung dieser vorgenommen wird. Zudem erfolgt ein kurzer Ausblick.
2. Autopoietische Systeme – Charakteristika und Entwicklung
Das zweite Kapitel stellt einen der beiden Hauptteile der Arbeit dar. Zu Beginn wird die theoretische Basis geschaffen, indem der Systembegriff definiert wird. Im Anschluss erfolgt ein Abriss zur Systemtheorie, worin eine Erörterung der Prinzipien, der Grundlagen sowie der Entwicklung enthalten sind. Danach werden autopoietischen Systeme aus definitorischer Perspektive betrachtet. Im Anschluss wird kurz die Forschung von Maturana und Varela skizziert, wodurch eine Brücke zur Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann geschaffen werden soll.
2.1 Theoretische Grundlagen
2.1.1 Der Systembegriff
Für den Systembegriff existieren in der Wissenschaft eine Vielzahl an Definitionen, welche jeweils von der Perspektive und dem betrachteten Gegenstand abhängen. Ludwig von Bertalanffy beschreibt ein System als „eine Menge von Elementen, zwischen denen Beziehungen bestehen oder hergestellt werden können.“ (Helbig, 2018, S.42). Einen stärkeren Blick auf die Gesamtheit legt Ulrich bei seiner Definition. Zudem erweitert er den Ansatz um den Ordnungsgedanken. Er definiert ein System als „eine geordnete Gesamtheit von Elementen, zwischen denen irgendwelche Beziehungen bestehen oder hergestellt werden können“ (ebd., S.43). Luhmann kombiniert die verschiedenen Punkte und schreibt: „[v]on System im allgemeinen kann man sprechen, wenn man Merkmale vor Augen hat, deren Entfallen den Charakter eines Gegenstandes als System in Frage stellen würde. Zuweilen wird auch die Einheit der Gesamtheit solcher Merkmale als System bezeichnet.“ (Luhmann, 1991, S.15) Ferner konkretisiert er in seinen Ausführungen, dass Systeme die „Fähigkeit [besitzen], Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt“ (ebd., S.31). Ludwig hat ebenfalls die Abgrenzung eines Systems zu seiner Umwelt gewählt, da er ein System als „eine durch Konvention getroffene künstliche Abgrenzung von Sachverhalten aus einer Gesamtheit [beschreibt].“ (Helbig, 2018, S.44). Die Definition von Helmut Willke kann als Zusammenfassung der vorherigen gesehen werden. Er charakterisiert ein System „als einen ganzheitlichen Zusammenhang von Teilen, deren Beziehung untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver als ihre Beziehungen zu anderen Elementen [ist]. Diese Unterschiedlichkeit der Beziehungen konstituiert eine Systemgrenze, die System und Umwelt des Systems trennt“ (Willke, 2006, S.250). Trotz der unterschiedlichen Ansätze lassen sich drei gemeinsame Aspekte identifizieren, welche auch in anderen Definitionen des Systembegriffs wiederkehren. Systeme bestehen aus Elementen, welche über Relationen miteinander verbunden sind und sie werden von ihrer Umwelt umgeben (vgl. Greve et al., 2016, S.7). Der Systemzweck definiert die Funktionserfüllung des Systems. Dieser entsteht nicht von allein, sondern wird durch den Beobachter bestimmt. Zudem wird die Funktion von den Elementen und Verknüpfungen determiniert. Des Weiteren weist das System eine eigene Identität auf, welche verschwindet, sobald die Systemintegrität zerstört wird (vgl. Haun, 2016, S.118).
2.1.2 Die Entwicklung der Systemtheorie
Die Organisationstheorie kann in drei Säulen unterteilt werden, welche sich aus den klassischen Theorien, den neoklassischen Ansichten und den modernen Ansätzen, in dem der systemtheoretische Ansatz einzuordnen ist, bilden (vgl. Schreyögg, 2016, S.439). Trotz der unterschiedlichen Fokussierungen innerhalb der verschiedenen Konzepte der Systemtheorie können vier Prinzipien als allgemeingültig angesehen werden. Zum einen stehen die Prozesse von vernetzten Elementen im Vordergrund, wobei besonders die Dynamik derer hervorzuheben ist. Zum anderen ist die Existenz von Rückkopplungen zwischen den Systemelementen gegeben. Des Weiteren wird in Mikro- und Makroebene unterschieden. Ordnung wird dabei auf der Makroebene durch die Dynamik der Elemente in der Mikroebene erzeugt. Diese ist somit selbstorganisiert. Das vierte Prinzip stellt die System-Umwelt-Beziehung dar, welche essenziell für das Fortbestehen des Systems ist (vgl. Kriz, 2016, S.14-15). Die Ursprünge des systemischen Denkens liegen bereits in der Antike. Allerdings stellt die Allgemeine Systemtheorie des Biologen Ludwig von Bertallanfy aus dem Jahr 1956 die Basis der heutigen modernen Ansätze dar. Hervorzuheben ist dabei, der Grundgedanke einer allgemeinen und transdisziplinären Systemlehre und einer Abkehr des mechanistischen Weltbildes. Es stehen nicht mehr Einzelphänomene im Mittelpunkt. Das System wird als Ganzheit, bestehend aus Elementen und deren Verbindungen, verstanden. Dabei wird von einer Offenheit der Systeme ausgegangen, wodurch sie über die Systemgrenzen hinweg mit ihrer Umwelt in Verbindung stehen. Zudem sind sie dynamisch und erhalten sich selbst durch den Aufbau einer geordneten und organisierten Komplexität. Darauf basierend fand eine stetige Weiterentwicklung der Systemtheorie statt. Die Kybernetik von Ashby und Wiener stellt hierbei einen wichtigen Meilenstein dar, indem die Regelkreisthematik aufgegriffen wurde. Dadurch wurde eine Steuerung unter Berücksichtigung von Rückkopplungen in das systemische Denken integriert. Durch diese Rückkopplung ist es dem System nun möglich, Veränderungen aus der Umwelt zu registrieren und schnellstmöglich zu kompensieren (vgl. Hasenmüller, 2013, S.62-63). Später wurden die Erkenntnisse der Allgemeinen Systemtheorie ebenfalls mit sozialen Systemen kombiniert. Als Vorreiter und Begründer der Theorie sozialer Systeme gelten Parsons und Luhmann. Diese Weiterentwicklung lässt sich in fünf Schritten darstellen. Den Ersten stellt die strukturelle-funktionale Systemtheorie dar, bei der die Systemstruktur im Fokus steht und die Funktionen des Systems diese erhalten sollen. Den Zweiten bildet der system-funktionale Ansatz. Abhängig von den jeweiligen Umweltbedingungen ist die Struktur dabei in der Lage, sich zu verändern, um das Überleben des Systems sicherzustellen. Daran schließt sich der funktional-strukturelle Ansatz an. Dabei steht die Entstehung von Systemen im Fokus. Einen wichtigen Faktor stellt die Umwelt dar, welche für die Differenzierung zwischen System und Umwelt und somit für die Komplexitätsreduktion und den Erhalt des Systems notwendig ist. Als vierter Schritt ist der funktional-genetische Ansatz zu nennen, wobei erstmals der Faktor Zeit bei der Systementwicklung berücksichtigt wird. Den letzten Schritt bilden die selbstreferentiellen Systeme, welche durch die Fähigkeit der Autopoiesis gekennzeichnet sind (vgl. Wolf, 2019, S.17).
2.1.3 Definition autopoietischer Systeme
Bei dem Begriff Autopoiesis handelt es sich um ein, von Maturana geschaffenes, Kunstwort. Es besteht aus den griechischen Wörtern autos, was so viel wie selbst bedeutet, und poien, was in der deutschen Sprache für bauen oder machen steht. In Kombination kann unter Autopoiesis die Selbstgestaltung oder auch Selbsterzeugung verstanden werden (vgl. Ehlers, 2020, S.156). Luhmann verwendet in seinen Werken den Begriff der Selbstreferenz synonym zu Autopoiesis. Er versteht unter dem Begriff „die Einheit, die ein Element, ein Prozeß, ein System für sich selbst ist. »Für sich selbst« - das heißt: unabhängig vom Zuschnitt der Beobachtung durch andere.“ (Luhmann, 1991, S.58). Als autopoietisch können daher „sämtliche stabilen, langlebigen Systeme [verstanden werden], die neue Fähigkeiten ausbilden können, um sich geänderten Bedingungen anzupassen.“ (Ampofo, 2018, S.26). Bei dieser Definition steht ihre Anpassungsfähigkeit im Vordergrund. Ebenfalls ist eine Betrachtung hinsichtlich der Interaktion mit ihrer Umwelt möglich. Luhmann bezeichnet autopoietische Systeme als geschlossen, jedoch in einer anderen Auslegung im Vergleich zu früheren systemtheoretischen Ansätzen, welche damit eine umweltlose Existenz und keinerlei Austausch verbinden. Er hingegen vertritt die Auffassung, „daß solche Systeme alles, was sie als Einheit verwenden (auf welcher Komplexitätsgrundlage immer), selbst als Einheit herstellen und dabei rekursiv die Einheiten benutzen, die im System schon konstituiert sind.“ (Luhmann, 1991, S.602). Demnach sind autopoietische Systeme „offen für das Erfassen von komplexen und kontingenten Ereignissen im Umfeld. Da sie dies aber nach eigenen Gesetzen machen […] gefährdet die Auseinandersetzung [] mit der umgebenden Komplexität […] nicht die eigene Autonomie, sondern stärkt diese.“ (Kiesewetter, o.A., S.55). Somit können sie für „ihren Fortbestand sorgen […], indem sie die Produkte, die sie zu[m] Überleben benötigen, sowie die Grenze gegenüber ihrer Umwelt selbst herstellen.“ (Willemse/ von Ameln, 2018, S.30). Luhmann hebt bezüglich dieser Interaktion besonders hervor, dass „[a]utopoietische Systeme […] durch andere Systeme, aber auch durch sich selbst beobachtet und beschrieben werden [können]; und Beobachten/Beschreiben heißt nichts anderes als Beziehen auf eine Differenz unter Voraussetzung von Limitationalität, das heißt: auf Differenz in einem auch anders möglichen Unterscheidungsbereich“ (Luhmann, 1991, S.359). Ebenfalls ist die Beschreibung hinsichtlich der zeitlichen Komponente möglich. Bei einem autopoietischen System handelt es sich um ein temporäres System, da es „sich von Moment zu Moment durch die Summation von Einzelereignissen [realisiert]. Ein autopoietisches System erzeugt über seine aneinander anschließenden ereignishaften Operationen Zeit, die Differenz von Vergangenheit und Zukunft in der gegenwärtigen Aktualität seines Operierens.“ (Haun, 2016, S.132).
2.2 Forschungen von Maturana und Varela
Das Konzept der Autopoiesis basiert auf den Forschungen der beiden chilenischen Biologen Francisco Varela und Humberto Maturana Anfang der 70er Jahre. Die Intention lag in der Beschreibung der selbstorganisierenden Funktion von lebenden Zellen. Diese soll bis auf die Ebene einer einzelnen Zelle erfasst und definiert werden. Besonders wichtig ist einerseits die Abgrenzung von Zellen mittels ihrer Zellmembran gegenüber anderen Zellen. Andererseits „die operativ-autonome Selbstproduktion der Bestandteile (Zellkern, Mitochondrien etc.) durch ebendiese Bestandteile. Eine lebende Zelle wird also als ein Netzwerk chemischer Prozesse verstanden, welches durch ebendiese chemischen Reaktionen in rekursiv-rückgekoppelter Weise genau jene Teile und Prozesse erzeugt, die sich selbst erzeugen.“ (Kriz, 2016, S.19). Daher werden sie als operational geschlossen betrachtet und weisen ihren autopoietischen Charakter auf. Unter dem Begriff autopoietische Systeme zweiter Ordnung versteht Maturana Organismen, welche aus einer besonders hohen Zellanzahl bestehen. Die Erkenntnis der funktionalen und operationalen Abgeschlossenheit überträgt er schwerpunktartig auf das Nervensystem, da eine Differenzierung zwischen externen und internen Auslösern nicht möglich sei. Infolgedessen vertritt er die Ansicht, dass sowohl Wahrnehmung als auch Illusion ununterscheidbar seien und die menschliche Erkenntnis nur ein neurobiologisches Phänomen ist (vgl. ebd., S.20). Luhmann greift für seine Forschung dieses Verständnis auf und bezieht es anstelle von lebenden auf soziale Systeme und deren Prozesse. Er möchte damit soziale Systeme als komplex autopoietisch erörtern (vgl. Özdemir, 2019, S.122-123). Dies hat ebenfalls Auswirkungen auf die Systemtheorie, da sich infolgedessen das Interesse „von der Grenzbildung und -änderung zur Konstitution und Verzeitlichung ihrer Elemente [verschiebt]“ (Schreyögg, 2016, S.484).
2.3 Autopoietische Systeme nach Luhmann und ihre Charakteristika
2.3.1 Die Luhmannsche Systemtheorie
Die Theorie sozialer Systeme geht auf den Soziologen Niklas Luhmann zurück. Für seine Theorie greift er neben den bereits erörterten Forschungen von Maturana und Varela auf weitere Konzepte wie beispielweise den systemtheoretisch-kybernetischen Ansatz von Heinz von Foerster oder auch das Prinzip der Ordnung durch Koevolution von Heinz Hollings zurück. Luhmanns Theorie kann als Metatheorie der Beziehungen verstanden werden, welche sich aus der Differenzierungs-, der Evolutions- und der Kommunikationstheorie zusammensetzt (vgl. Ternes, 2011, S.662-663). Zudem gilt sein Ansatz als antihumanistisch, da „der Mensch als individuelle Entität „verschwindet“. Stattdessen wird er unterschieden in ein lebendes System (Körper, Organe, Gehirn etc.) und ein psychische[s] System (das Bewusstsein).“ (Greve et al., 2016, S.9). Eine weitere Besonderheit ist die autopoietische Realitätsannahme in Luhmanns Theorie. Nach seinem Verständnis haben die Dinge der Welt keinen direkten Realitätsbezug, sondern stellen nur Beobachtungen dar. Die Struktur des beobachtenden Systems bestimmt, was beobachtet wird (vgl. Hasenzagl, o.A., S.29). Eingeschlossen sind ebenfalls netzwerkförmige und reflexive Wechselwirkungen. Die Realitätsannahme weist zudem die Spezifika auf, dass bei den Beobachtungen nicht nur die sachliche Dimension (Was?) einfließt, sondern ebenfalls die soziale (Wer?) und die zeitliche Dimension (Wann?) integriert sind (vgl. ebd., S.32-33). Ferner unterscheidet er, wie in Abbildung eins dargestellt, zwischen allopoetischen Systemen, wie Maschinen, und autopoietischen Systemen, welche jeweils systemspezifische Operationen durchführen. Alle drei autopoietischen Systeme können nur in ihrer systemeigenen Logik, basierend auf ihren Strukturen, operieren.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1 Systemarten nach Luhmann
Quelle: Luhmann, 1991, S.16
Organismen sind biologische Systeme und operieren in Form von biochemischen Vorgängen. Psychische Systeme führen Operationen in Form von kognitiven Vorgängen wie Gedanken oder Gefühlen durch. Die sozialen Systeme unterteilt Luhmann in Interaktionen, Organisationen und Gesellschaft. Trotz der operationalen Geschlossenheit der Systeme ist eine gegenseitige Beeinflussung möglich, welche Luhmann als Interpenetrationen bezeichnet (vgl. Kriz, 2016, S.20-21). Im Rahmen dieses Assignments sind besonders Organisationen relevant, welche aus Kommunikationen und nicht aus Menschen bestehen und sich durch diese ebenfalls reproduzieren. Kommunikation bildet sich dabei aus der Selektion von Information, der Mitteilung an sich und dem Verstehen. Dabei kann sich Kommunikation immer nur an die vorangegangene Kommunikation anschließen. In Organisationen ist dieses Grundelement besonders in der Kultur, den Prozessen oder auch den Regelwerken erkennbar (vgl. Maurer, 2020, S.48-49). Allerdings können hierbei auch Kommunikationsprobleme auftreten wie beispielsweise das Verstehensproblem, bei dem der Sinn der Kommunikation nicht erkannt wird. Ferner gibt es Distanzprobleme, wenn die Kommunikation den Adressaten aufgrund der Entfernung nicht erreicht. Zudem ist auch ein Erfolgsproblem vorstellbar. Wichtig ist dabei, dass nicht nur die reine Annahme der Information als Kommunikationserfolg gesehen wird, sondern auch eine entsprechende Reaktion entsteht (vgl. Özdemir, 2019, S.133).
2.3.2 Merkmale autopoietischer Systeme
Autopoietische Systeme haben gemäß Luhmann die Aufgabe, die Komplexität ihrer Umwelt zu selektieren, zu ordnen und zu reduzieren. Dadurch werden ihr Bestehen und Überleben gesichert. Umso höher die interne Komplexität des Systems ist, desto wahrscheinlicher erfolgt eine Anpassung an die Umwelt. Damit sie diese Aufgaben erfüllen können, bedürfen sie spezifischer Charakteristika, welche im nachfolgenden Kapitel vorgestellt werden (vgl. Özdemir, 2019, S.122).
In Bezug auf die Merkmale von autopoietischen Systemen liegen in der Literatur verschiedene Ansichten vor. Dr. Feriha Özdemir ist beispielsweise der Auffassung, dass die Charakteristika die Selbsterzeugung, -erhaltung und -organisation seien (vgl. Özdemir, 2019, S.123). Deutlich detaillierter hingegen ist Matthias Haun in seinen Ausführungen. Er beschreibt autopoietische Systeme als umweltangepasst, strukturdeterminiert, operativ geschlossen, sich temporär selbst produzierend und kognitiv offen (vgl. Haun, 2016, S.131). Ähnlich beschreibt Marc-Philipp Hasenmüller diese Systemart. Einig sind sich die beiden in der Strukturdeterminiertheit, welche besagt, dass Systeme nur auf Basis ihrer Strukturen und Erfahrungen und somit dem aktuell befindlichen Zustand agieren können. Die möglichen Handlungen eines Systems werden folglich durch die Entscheidungen der Vergangenheit bestimmt. Es bestimmt also durch die Handlungen seine eigene Struktur. Des Weiteren stimmen die beiden in Bezug auf die Umweltangepasstheit aller existierender Systeme überein. Damit dies möglich ist, wird jedoch die Nutzung der Komplexität von anderen Systemen vorausgesetzt. Ferner vertreten sowohl Haun als auch Hasenmüller die Meinung, dass autopoietische Systeme operativ geschlossen sind. Unterschiedlich sind hingegen die weiterführenden Merkmale. Hasenmüller nennt dabei die Komplexität, da bei autopoietischen Systemen die Elementenvielzahl eine Verknüpfung aller miteinander nicht mehr zulässt. Zudem ergänzt er das Merkmal der Selbstreferenzialität, worauf im Verlauf dieses Kapitels noch eingegangen wird (vgl. Hasenmüller, 2013, S.65). Wie die beiden Autoren ist auch Luhmann der Auffassung, dass autopoietische Systeme das Merkmal der operativen Geschlossenheit aufweisen, was jedoch nicht im Widerspruch zu ihrer Umweltoffenheit steht. Die „Geschlossenheit der selbstreferentiellen Operationsweise ist vielmehr eine Form der Erweiterung möglichen Umweltkontaktes; sie steigert [sich] dadurch, daß sie bestimmungsfähigere Elemente konstituiert, die Komplexität der für das System möglichen Umwelt.“ (Luhmann, 1991, S.63). Die operative Geschlossenheit besagt zudem, dass die Operationen eines Systems nur innerhalb der Systemgrenzen stattfinden können und eine Operation sich an die nächste anschließt. Das System kann sich allerdings nicht mit anderen Systemen in seiner Umwelt über Operationen in Verbindungen setzen, da jedes System nur in der systemeignen Logik operiert. Allerdings benötigen Systeme ihre Umwelt, da die eigene Identifizierung als System nur auf Basis der System-Umwelt-Differenz möglich ist (vgl. Bardmann, 2019, S.461-462). Diese Unterscheidung und Bildung einer eigenen Identität ist durch Beobachtungen möglich. Dabei wird jedoch zwischen Selbst- und Fremdbeobachtungen unterschieden. Daraus resultierend lässt sich das Merkmal der Selbstreferenzialität ableiten, da sich ein System selbst beobachtet. Dies findet allerdings nur nach systemeigenen Kriterien durch eigene Operationen statt. Die Selbstbeobachtung kann auf drei verschiedenen Ebenen geschehen. Auf der ersten erfolgt gemäß Luhmann zum einen die basale Selbstreferenz, wobei sich das System gegenüber seiner Umwelt ausdifferenziert, indem es die eigenen grundlegenden Operationen beobachtet. Zum anderen ist auf dieser Ebene auch die prozessuale Selbstreferenz verortet, welche sich mit der Anschlussfähigkeit von Operationen beschäftigt. Durch diese Beobachtungen ist das System in der Lage, systemeigene Elemente als solche zu identifizieren und daraus zu reproduzieren. Auf der zweiten Ebene beobachtet das System die eigene Struktur. Dies wird auch als Selbstorganisation bezeichnet. Durch die Kombination der ersten und zweiten Ebene kann das System seine Struktur anpassen. Die letzte Ebene stellt eine ganzheitliche Beobachtung des Systems dar und wird daher als Systemreferenz bezeichnet (ebd., S.467-468). Auf Basis der Selbstreferenz ist es dem System möglich, die Komplexität der Umwelt für die eigene Reproduktion zu nutzen, da es sich permanent selbst reproduziert und somit aufrechterhält (vgl. Kiesewetter, o.A., S.17). Richard Münch hingegen vertritt die Auffassung, dass die Selbstreferenz auf drei anderen Systemebenen stattfindet. Er differenziert hierbei in den Code, welcher eine binäre Unterscheidung wie z.B. wahr/falsch beinhaltet; das Programm oder auch als Struktur bezeichnet, welche Werte, Rollen oder generalisierte Erwartungen umfasst und die Prozesse, welche die Interaktion, die Kommunikation und die Handlung beinhaltet. Die Ausgestaltung der drei Ebenen ist jedoch systemspezifisch (vgl. ebd., S.32-34). Ein weiteres Merkmal von autopoietischen Systemen stellt die Emergenz dar. Die Vielzahl der Elemente eines Systems in ihrer Gesamtheit weisen neue oder höhere Eigenschaften auf als die Elemente für sich. Somit ist ein System mehr als die Summe seiner Teile. Beispielhaft dafür ist die systemspezifische Organisation in einem autopoietischen System, welche auch bestehen bleibt, wenn einzelne Systemelemente ausgetauscht werden (vgl. Ehlers, 2020, S.157-158).
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