Die Arbeit zeigt die unterschiedlichen Tendenzen der Heroisierung von Arbeit wie auch von Arbeiter*innen und analysiert diese systemvergleichend. Zur Struktur der Arbeit: Sie besteht aus drei großen Blöcken, in Kapitel 2 wird die Heroisierung von Arbeit in der Sowjetunion analysiert, in Kapitel 3 der Blick auf den Nationalsozialismus gelenkt, in Kapitel 4 ein Vergleich beider Systeme unternommen. Parallel zum Fokus auf idealisierte Arbeiter-Helden werden auch die jeweiligen Feindbilder der Systeme kontrastiert. Dieser Aspekt ist nicht etwa fakultativ oder willkürlich, sondern der Feind ist als notwendiger Gegner dem Konzept des Helden inhärent.
Inhalt
1. Einleitung
2. Heroisierung von Arbeit in der Sowjetunion
2.1. Zeithistorischer und kulturgeschichtlicher Überblick
2.2. Helden und Feinde der Arbeit
2.3. Mediale Vermittlung des Heroischen
3. Heroisierung von Arbeit im Nationalsozialismus
3.1. Zeithistorischer und kulturgeschichtlicher Überblick
3.2. Helden und Feinde der Arbeit
3.3. Mediale Vermittlung des Heroischen
4. Vergleich
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
7. Bilderverzeichnis
1. Einleitung
Aus unserer heutigen Perspektive erscheint Arbeit nüchtern betrachtet als alltäglicher Bestandteil unseres Lebens. Sie ist notwendig, um ein Einkommen zu erwirtschaften und sich so den Lebensunterhalt zu sichern. In diesem Bild wird Arbeit schlicht als Lohnarbeit begriffen, zu der man aus ökonomischen Zwängen gedrängt ist.
Historisch wurde Arbeit nicht immer derart nüchtern und pragmatisch aufgefasst. Der Blick in die totalitären Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt, wie Arbeit sowohl in der Sowjetunion als auch im Nationalsozialismus verherrlicht und überhöht wurde. Dabei erscheint nach Herfried Münkler die Heroisierung von Arbeit als Paradoxon, da sich der Held im Grunde von der bürgerlich-alltäglichen Sphäre- und damit auch von der (Lohn-)Arbeit abzugrenzen sucht. So seien nach Münkler Helden gerade keine Freunde der Arbeit, sie seien vielmehr um Distinktion von den Arbeitenden bemüht. Beide Parteien würden dabei einen Kompromiss eingehen. Die unheroische Gesellschaft (die Mehrheit) ist verantwortlich für die Produktionssphäre und damit die Versorgung der Gesellschaft, während eine kleine heroisch-elitäre Gemeinschaft die Gesellschaft vor Gefahren schützt.1
Die vorliegende Arbeit möchte den Versuch unternehmen, die unterschiedlichen Tendenzen der Heroisierung von Arbeit wie auch von Arbeiter*innen2 zu beleuchten und systemvergleichend zu analysieren.
Schnell zeigt sich hierbei, dass Arbeit sowohl für den Stalinismus als auch für den Nationalsozialismus eine zentrale Kategorie war. Zudem zeigt die Heroisierung von Arbeit, dass Arbeit in beiden Systemen- anders als in Münklers Verständnis- antibürgerlich gedacht wurde und eine generelle Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft unternommen wurde. Die Sowjetunion berief sich auf die marxistisch-leninistische Geschichtsauffassung. Arbeit wurde als Arbeit an der Gesellschaft, hin zum klassenlosen Kommunismus, begriffen. Auch im Nationalsozialismus war die Arbeit zentral in der Ideologie verankert. So wurde die ‚deutsche Arbeit‘ und das Konzept der Volksgemeinschaft stets zusammengedacht. Deutlich wird der hohe Stellenwert der Arbeit in der NS-Ideologie auch dadurch, dass die Nazis die Konzentrationslager unter die zynische Losung ‚ Arbeit macht frei ‘ stellten.
Doch ist die Arbeit nur das eine zentrale Element für die vorliegende Arbeit. Ebenso wichtig ist der Heroismus, der ebenfalls in beiden Systemen evident war. So wurde das Heldentum in der Sowjetunion der dreißiger Jahre gar diskursiv zur „natürlichen Eigenschaft des Sowjetmenschen“ verklärt.3 Auch dem Nationalsozialismus waren die Topoi des Helden und des Heroischen nicht fremd. Sie erschienen Victor Klemperer- einem dezidierten Gegner des Nationalsozialismus- gar so zentral, dass dieser seinem Werk LTI (Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches) anstelle eines Vorwortes einige Überlegungen zum Heroismus im Nationalsozialismus voranstellte. Er kommt darin zu dem Schluss, dass Heldentum nicht nur immer wieder herausgestellt und betont wurde, sondern „ er [der Nazismus] den ganzen Begriff verfälscht und in Mißkredit gebracht [hat]. “4
Nicht zuletzt aufgrund der Pervertierung des Heldenbegriffs durch den Nationalsozialismus, bezeichnet Herfried Münkler unsere heutige Gesellschaft sehr zu Recht als postheroisch.5
Zur Struktur der Arbeit: Sie besteht aus drei großen Blöcken, in Kapitel 2 wird die Heroisierung von Arbeit in der Sowjetunion analysiert, in Kapitel 3 der Blick auf den Nationalsozialismus gelenkt, in Kapitel 4 ein Vergleich beider Systeme unternommen. Parallel zum Fokus auf idealisierte Arbeiter-Helden werden auch die jeweiligen Feindbilder der Systeme kontrastiert. Dieser Aspekt ist nicht etwa fakultativ oder willkürlich, sondern der Feind ist als notwendiger Gegner dem Konzept des Helden inhärent. Die Held- und Feindkonstruktionen werden auch jeweils im selben Kapitel behandelt, da beides nicht zu trennen ist. So konstatiert etwa auch Hans Günther, „ dass Held und Feind untrennbar zusammengehören, sich gegenseitig bedingen. “6
Für beide Typen- Arbeiterhelden wie Feinde- gilt in dieser Arbeit ein antiessenzialistisches Verständnis. Das Heldenhafte ist also nicht etwas dem Helden tatsächlich Innewohnendes. Es gibt somit keine geborenen Helden, vielmehr handelt es sich um eine Konstruktion. Im Sinne einer Dekonstruktion muss der Blick also auf den zeithistorischen Kontext, sowie die Produzent*innen und Rezipient*innen gelenkt werden, um so die „ Künstlichkeit ihrer Fabrikation und ihre manipulative Funktion “7 zu entschlüsseln. Hinzu kommt, dass sich Heldengeschichten nicht von sich aus ergeben und die heroischen Taten sich nicht von selbst verbreiten. So gilt nach Herfried Münkler: „Von Helden muß berichtet werden.“ 8 Daher will die Arbeit auch auf die mediale Vermittlung des Heroischen eingehen.
Zum Schluss noch einige Worte zum Forschungsstand: Es findet sich keine Monografie, die die Heroisierung von Arbeit im Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus beleuchtet. Dies ist merkwürdig, war doch- wie gezeigt- Arbeit eine zentrale Kategorie in beiden Systemen und der Vergleich zwischen beiden ein ansonsten oft geübter.9 Aufgrund dieser Forschungslücke soll in dieser Arbeit zunächst zum „Rundumschlag“ ausgeholt werden. Die einzelnen Aspekte, die behandelt werden, hätten sicherlich jeweils Potenzial für tiefgreifende Einzelanalysen. In dieser Arbeit sollen aber zunächst die großen Parallelen und Unterschiede holzschnittartig herausgestellt werden.
2. Heroisierung von Arbeit in der Sowjetunion
2.1. Zeithistorischer und kulturgeschichtlicher Überblick
Zur Annäherung an den Gegenstand ist die Einordnung in den zeithistorischen Kontext unerlässlich, da nur so verstanden werden kann, wieso die Heroisierung von Arbeit dem Regime als Notwendigkeit erschien. 1927 gelingt es Stalin, seine missliebigen Konkurrenten auszuschalten und die Alleinherrschaft über die Sowjetunion zu erringen. Von der folgenden Epoche- bis zum Tod Stalins 1953- spricht man vom Stalinismus. Die Sowjetunion entstand aus der bolschewistischen Oktoberrevolution und dem nachfolgenden Bürgerkrieg. 1927 war die Sowjetunion also noch keine zehn Jahre alt und war noch immer mit der nachholenden Modernisierung und der planwirtschaftlich forcierten Industrialisierung zu Gange. Das bedeutete beträchtliche ökonomische Härten für die Bevölkerung. Es brachte aber auch eine tiefgreifende soziale Dynamik ins Rollen, die die Gesellschaft spürbar veränderte.
Es formierte sich „ eine neue Schicht, die erste, eigentlich sowjetische Arbeiterschaft. Jung, mobil, agrarisch und mit einem hohen weiblichen Anteil, insgesamt qualifizierter als ihre Vorgänger, anspruchslos und im Kern loyal […]10 Sowohl Ende der 20er Jahre als auch in den 30er Jahren herrschten also eine ungeheure soziale Dynamik mit Chancen des sozialen Aufstiegs. Dennoch blieb das Leben bescheiden und kärglich, die nachholende Modernisierung war eine riesige gesellschaftliche Herausforderung. Dies lag auch darin, dass effiziente Methoden in der Produktion Fehlanzeige waren. Es wurde viel Ausschuss produziert, der Umgang mit Maschinen war vielfach achtlos, häufig fehlten Arbeiter ohne triftigen Grund.11 So konnte es nicht weiter gehen, die Arbeiter*innen mussten also durch ein nachahmenswertes Beispiel zur Disziplin erzogen werden.
Soweit zu den Ausgangsbedingungen beim Regierungsantritt Stalins. Trotz der ökonomisch schwierigen Lage- oder vielleicht auch gerade deswegen- erscheint für die 30er Jahre das Konzept des Helden im sowjetischen Diskurs omnipräsent. Eine mögliche Erklärung, die durchaus überzeugt, sieht Hans Günther in der Psychologie C.G. Jungs, die den Helden als Archetyp begreift. So spiele der Archetyp des Helden eine wichtige Rolle beim Erwachsenwerden, bzw. bei der Individuation. Der Held fungiere dabei als Unterstützung des Ichs bei Krisen und Herausforderungen, die ansonsten psychologisch nicht zu meistern wären. Günther überträgt diesen intraindividuellen Vorgang auf gesellschaftliche Krisen und Herausforderungen und vertritt die These, dass es bei Krisen ein kollektives Bedürfnis nach Unterstützung durch einen Helden gebe.12 Generell wird für die 30er Jahre deutlich, wie omnipräsent utopische Visionen und Heldennarrative im Diskurs vertreten sind. Klar ist, dass diese utopischen und grenzensprengenden Visionen irrationale Auswüchse hervorbringen mussten, die für uns heute wie eine Parodie wirken, aber ernst gemeint waren. So waren die literarischen Helden der Stalin-Zeit in der Lage, „ allein durch die Willenskraft die Tuberkulose zu überwinden, ohne Treibhäuser tropische Gewächse in der Tundra zu züchten, mit der bloßen Kraft des Blicks den Feind zu paralysieren. “13
In der Kultur der 30er Jahre war der Held also omnipräsent. Man verbindet diese Zeit allen voran mit dem sozialistischen Realismus. Der Begriff wurde 1932 geprägt, beteiligt waren dabei Stalin, Maxim Gorki und einflussreiche Teile der kulturellen Elite. Zentrale Themen waren Leben und Arbeit des Sowjetmenschen. Der positiv konnotierte Held, dessen Leistungen klar als nachahmenswert herausgestellt wurden, war zentral. Aleksander Morozov betont daher die „sozialerzieherische Funktion“14 des sozialistischen Realismus. Er wollte die Massen nicht einfach unterhalten und befriedigen, sondern sie erziehen. So glaubte die sowjetische Massenkultur der Stalinzeit fest an die Wandelbarkeit des Menschen und war daher eine Kultur für die Massen, die es so de facto nicht gab, aber in Zukunft geben sollte.15 Ziel war dabei der sozialistische Neue Mensch. Dieser wurde prinzipiell heroisch gedacht, oder hatte zumindest potenziell das Zeug zum Helden. Dieser Gedanke stellt eine Abkehr zum Heldenbild vergangener Zeiten dar, in der der Held stets als der dem Kollektiv enthobene, heroische Einzelne gedacht und gezeichnet wurde. Entscheidend für den Gedanken, jeder könne ein Held sein, war auch hier wiederum Maxim Gorki, der Mitte der Zwanziger Jahre einen Aufsatz mit dem Titel Über den Helden und die Menge veröffentlichte. Darin schrieb er:
Für mich ist jede Menge eine Ansammlung von Heldenkandidaten […] Jeder einzelne aus der Menge will sich an der Stelle oder in der Lage eines dieser Leute sehen, die es fertiggebracht haben, aus dem dichten Dunkel des alltäglichen Lebens herauszuspringen. […] Daher ist jeder Held ein soziales Phänomen, dessen pädagogische Bedeutung äußerst wichtig ist. Ein Held sein zu wollen, heißt mehr Mensch sein zu wollen, als man ist. […] Wir alle sind als Helden geboren und leben als solche. Und wenn die Mehrheit das verstanden hat, wird das Leben durch und durch heroisch werden.16
Mitte der Zwanziger Jahre geschrieben, lässt sich dies rückblickend als programmatisches Manifest, dessen was kommen wird, lesen. Der Glaube an die Potenzialität der Masse, heroisch zu handeln, war tief verankert. Gleichzeitig glaubte man, dass Helden nötig waren, die der Masse als Vorbild dienten und zur Nachahmung ihrer heroischen Taten aufriefen.
Da aber bereits erwähnt wurde, dass Heroisierungen immer narrative und mediale Konstruktionen sind und kulturphilosophische Überlegungen ohne Rückbindung an die klassische Geschichtswissenschaft oftmals nur wenig fruchtbar sind, sollen die heroisch-idealistischen Erzählungen noch einmal mit der Realität kontrastiert werden. So wurde nach Hildermeier Anfang der 30er Jahre deutlich, „ dass Enthusiasmus für die Sache als Stimulus nicht ausreichte. Breite Identifikation sollte erneut und ganz und gar unsozialistisch durch bessere Bezahlung und sonstige materielle Privilegierung erzeugt werden.“17 Folge dieser Erkenntnis waren Prämien bei Akkordarbeit und eine größere Spannweite in den Lohngruppen.
Beides zusammen, die Aufwertung der Arbeit über idealisierende und heroisierende Narrative und die materielle Aufwertung von Arbeit bildet den Kern der stalinistischen Maßnahmen.
Nachdem in diesem Kapitel grundlegende Überlegungen zur Bedeutung des Helden in der stalinistischen Kultur angestellt wurden, wird im nächsten Kapitel die konkrete Heroisierungspraxis des Stalinismus dargestellt.
2.2. Helden und Feinde der Arbeit
Denkt man an sowjetische Arbeiterhelden, dürfte einem zuallererst der Name Stachanows in den Sinn kommen18. Der sowjetische Bergmann übertraf die festgelegte Arbeitsnorm in einer Nachtschicht im Jahre 1935 um unglaubliche 1457 Prozent. Diese ‚Tat‘ bildete die Basis für die Verehrung, die ihm öffentlich zu Teil wurde. Dabei hat Stachanow den Rekord nicht alleine bewerkstelligt, sondern es gelang ihm mit tatkräftiger Hilfe und ideal präpariertem Arbeitsplatz. Die Wahl für den Rekordversuch fiel auf Stachanow, da er als zuverlässiger Arbeiter galt, er „ einen aufrichtigen, offenen Charakter und eine unduldsame Haltung gegenüber Faulenzern “19 hatte. Ausgeführt wurde die Rekordtat in einer Nachtschicht, da man die Schädlingstätigkeit von Saboteuren fürchtete.20 Diese Paranoia bereits im frühen Stadium der Bewegung zeigt, dass das Held-Feind-Schema von Anfang an inhärent war. Darauf wird später noch genauer einzugehen sein.
Man kann nicht sagen, dass sich Stachanows Tat sofort im ganzen Land verbreitete, es gab keine direkte Massenwirkung. In Gang kam die Bewegung erst, als Presse-Artikel darüber in den Betrieben verlesen wurden.21 Es kam im Laufe der Zeit zu einer wachsenden Bereitschaft, Stachanow nacheifern zu wollen und selbst auf Rekordjagd zu gehen. So konstituierte sich die Stachanow-Bewegung. Ein wichtiger Schritt zur nächsten Stufe war die erste Allunionsversammlung der Stachanowisten im November 1935, auf der auch Stalin sprach und der Bewegung so Autorität und Größe verlieh.
Die soziale Zusammensetzung der Stachanow-Bewegung war äußerst heterogen und hinterlässt einen eher ‚unheroischen‘ Eindruck. So waren viele mit ländlichem Hintergrund dabei, viele straffällig gewordene, die im Straflager ‚umerzogen‘ wurden und fortan zum produktiven Nutzen der Gesellschaft handeln wollten.22 Für andere wiederum galt: „Sie kannten nur Karten, Tabak und Branntwein“23 und damit lasterhafte Verhaltensweisen, die dem Konzept des sozialistischen Neuen Menschen wesensfremd waren. Jene neue Schicht, die vom Lande kommende, junge Arbeiterschaft, nimmt auch Dietmar Neutatz in seinen zahlreichen Fallstudien zum Bau der Moskauer Metro in den Blick. So brachten die aus dem agrarischen Kontext stammenden Arbeiter bäuerliche Verhaltensweisen und traditionelle Strukturen mit in die Stadt.24 Viele waren daher ‚rückständig‘ und wenig kultiviert, dem Ideal des Neuen Menschen also klar widersprechend. Den Diskurs widergebend, schreibt Neutatz: „ Man sprach häufig von klassenfremden oder klassenfeindlichen Elementen, die sich eingeschlichen hätten und durch langsames Arbeiten, mangelndes Bewußtsein, häufiges Krankfeiern und ständiges Wechseln des Arbeitsplatzes die Planerfüllung gefährdeten. “25 Auch diese Charakterisierung klingt nicht gerade nach einer heroischen Arbeiterschaft. Der Bau der Moskauer Metro26 wird aber von einem Diskurs des Wachsens und der Transformation begleitet. Durch die Arbeit an der Baustelle transformieren sich die vormals rückständigen Arbeiter und erfahren eine kulturelle Hebung. Arbeit erscheint hier also als Instrument der Transformation hin zum Neuen Menschen. Neutatz‘ Verdienst ist es, den Diskurs der Transformation und der Hebung anhand von Interviews, die mit Beteiligten der Baustelle geführt worden, erschlossen zu haben. Hier ein exemplarisches Beispiel:
Die Leute transformieren sich buchstäblich und wachsen mit der Arbeit. […] Leute, die vor einem Jahr praktisch nichts wußten, sind jetzt nicht nur qualifizierte Arbeiter, sondern haben ihrerseits schon wieder viele andere erzogen oder sind Helden der Baustelle. Wenn wir so einen Genossen wie Cholod nehmen, was stellte er früher dar? Er war ein abgestumpfter, rückständiger Bursche, kam nach Moskau aus dem Donbass. […] Hier begann er in der dritten Lohnstufe. Heute ist Genosse Cholod ein Izotovec unseres Schachtes im wahrsten Sinne des Wortes, Bestarbeiter, einer der besten Stoßarbeiter der ganzen Baustelle. […] Da haben sie den Typus des Neuen Menschen. Gleichzeitig wuchs Cholod auch in kultureller und politischer Hinsicht. Genosse Cholod ist Parteimitglied, Gruppenorganisator, Parteiorganisator. Genosse Cholod ist Mitglied des Büros unserer Parteizelle, er ist Mitglied des Parteikomitees von Metrostoj. […] “27
Das Beispiel spricht für sich. Es wird klar, dass Arbeit hier weit mehr ist als bloße Lohnarbeit und in ihrer Bedeutung weit über sich hinausweist. Gleichzeitig macht Neutatz auf die Quellenproblematik aufmerksam. So bleibe unklar, ob es sich bei den Äußerungen um innere Überzeugungen oder um die bloße Übernahme des Parteidiskurses handle. Die Aussagen entstanden in einem halböffentlichen Kontext (Schriftsteller führten die Interviews, den Arbeiter*innen war klar, dass diese zur Veröffentlichung bestimmt waren). Viele Aussagen erweckten einen stereotypen Ausdruck, man sagte offenbar, was der Interviewer hören wollte.28
Letztendlich ist es wohl auch sekundär, ob es sich um authentische Selbstoffenbarungen oder um ein Einschreiben in den Diskurs handelte, da auch die bloße Übernahme ein erstaunliches Gespür der Arbeiter für das, was gesellschaftlich erwartet wird, bedeuten würde.
Auch bei den Stachanowist*innen zeigt sich, wie einige den Diskurs der Heroisierungen auf sich selbst bezogen und wie dieser internalisiert und zum Selbstbild wurde. So bekannte M. Vidogradova: „ Wir fühlten uns als Helden. Wir fühlten uns als verehrungswürdige Menschen.“29 Ein weiteres Beispiel ist das Phänomen, wie Stachanowist*innen in Briefen an die Parteiführung die selbstbewusste Titulierung „die besten Menschen der Fabrik“ verwendeten.30 So ist auch hier die Frage zu stellen, ob dies authentische Überzeugungen sind, oder bloß zur Partizipation am Diskurs dient. Zudem wird hierdurch auch deutlich, wie die narrativen Konstruktionen, die Heroisierungen ja immer sind, sukzessive zur Realität werden, bzw. beide Ebenen verschwimmen.
Das außerordentlich elitäre Selbstbewusstsein der Stachanow-Arbeiter*innen war jedenfalls gegeben und resultierte auch und vor allem aus der engen Verbindung zu Stalin. Sie wurde als „personale Gefolgschaftsbeziehung“31 inszeniert. Auch ein Vater-Sohn-Verhältnis wurde propagandistisch suggeriert.32 So erhielten Stachanowist*innen, die die die Quote zweifach erfüllten, die Ehre und das Anrecht, Stalin darüber in Kenntnis zu setzen.33 Stalin spielte dann die Rolle eines huldvollen Vaters, der die Taten der ‚Söhne‘ (und ‚Töchter‘) gebührend anerkannte. Freilich tat Stalin dies nicht selbstlos, sondern er instrumentalisierte die Bewegung gezielt zu seinen Zwecken. Denn zusätzlich zu dem wirtschaftlichen Aspekt34 wies die Bewegung auch eine dezidiert politische Komponente auf.
So definierten N. Chruschtschow und L.M. Kaganovic auf der Allunionsversammlung „ die Entlarvung von Feinden “ als die Hauptaufgabe der Stachanowist*innen.35 Damit zeigt sich die Richtigkeit von Hans Günthers These, dass es sich bei Helden und Feinden um korrespondierende Größen handle.36 Und an Feinden mangelte es im Stalinismus wahrlich nicht. Barry McLoughlin gibt einen umfassenden Überblick. So habe die Mentalität der Bolschewiki viele Feindbilder benötigt. Bei diesen habe es sich aber eher um attributive Zuschreibungen, als um klar definierte Zielgruppen gehandelt. Man könne dabei zwischen langlebigen und situationsbedingten Feindbildern unterscheiden.37 Zu den langlebigen Feindbildern, den „üblichen Verdächtigen“, zählte der Klerus, Gläubige, reiche Bauern und ehemalige Diener, Repräsentanten oder Anhänger des Zarismus. Zu den situationsbedingten „Trotzkisten“ und damit sämtliche Parteioppositionelle, „Spione“ und „Saboteure“, die für Fehlentwicklungen in der Industrie während der ersten beiden Fünfjahrespläne verantwortlich gemacht wurden.38 Insgesamt wird dabei deutlich, dass die Feindbilder einen verschwörungstheoretischen Gehalt aufweisen und die Attribuierungen und Kategorien bewusst vage gehalten sind, um nötigenfalls jeden mit den Vorwürfen belegen zu können. Eine Leugnung des Vorwurfs bezweckt nichts, beweist sie doch nur die Gerissenheit und das insgeheime Agieren im Hintergrund. So wurden überall in der Wirtschaft „Schädlinge“ vermutet, dabei wurde zum Teil auch gewissenhaften Arbeitern vorgeworfen, diese Rolle nur zu imitieren, um ihre wahren, verbrecherischen Absichten zu verheimlichen.39 Die Stachanowist*innen wurden hier also gezielt als Kontrollinstrument eingesetzt, um in der Arbeiterklasse die Spreu vom Weizen zu trennen, und „ Wölfe im Schafspelz “ zu „ entlarven. “40 Zudem wurde auch der „Antagonismus zwischen Arbeitern und Ingenieuren heraufbeschworen, soziale Konflikte in den Fabriken provoziert und der „Klassenhaß“ instrumentalisiert.“41 Die Stachanowist*innen wurden dabei als Kontrollinstrument von unten eingesetzt und gezielt gegen Ingenieure etc. gehetzt. Diese wurden als konservativ, rückständig, starr und unflexibel charakterisiert.42 Die Arbeiterschaft hingegen erfuhr eine Aufwertung, die Hierarchie zwischen Arbeiter*innen und Ingenieuren wurde umgewertet. So war der Ingenieur in der Darstellung „nicht mehr Leiter und Planer, sondern Handlanger der Stachanovisten.“43 Aufgrund der Unerfahrenheit und dem Übermut der Stachanowist*innen kam es jedoch zu zahlreichen Unfällen und Katastrophen. Für die Ingenieure bot sich so ein Dilemma: „Weigerten sie sich, den riskanten „Methoden“ der Arbeiter nachzugeben, konnten sie als „Saboteure der Stachanovbewegung“ angeklagt werden. Ließen sie die Stachanovisten gewähren, wurden sie für die eintretende Katastrophe zur Verantwortung gezogen.“44 Für diese eindeutig irrationale Situation findet Jörg Baberowski deutliche Worte: Er bezeichnet die Stachanow-Bewegung als „‘politische[n] Pogrom‘, der an Technikern, Fachleuten und Direktoren verübt wurde.“45
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1 Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften, in: Spreen, Dirk; von Trotha, Trutz: Krieg und Zivilgesellschaft, Berlin 2012, S.180f.
2 Für die Sowjetunion wird in der Arbeit von Arbeiter*innen und Stachanowist*innen die Rede sein, für den Nationalsozialismus von Arbeitern. Im Stalinismus waren weibliche Erwerbsarbeit und die Heroisierung weiblicher Arbeit normal und typisch, im Nationalsozialismus war Arbeit typischerweise dem Mann zugedacht, während Frauen Hausfrauen und Mütter waren. Mehr dazu: Maier, Robert: Von Pilotinnen, Melkerinnen und Heldenmüttern, in: Vetter, Matthias (Hg.): Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert, Opladen 1996, S.64-84.
3 Vgl. Sartorti, Rosalinde: Helden des Sozialismus in der Sowjetunion, in: Gries; Satjukow (Hg.): Sozialistische Helden, Berlin 2002, S.35.
4 Klemperer, Victor: LTI. Notizbuch eines Philologen, 21. Auflage, Leipzig 2005, S. 16.
5 Vgl. Anmerkung 1.
6 Günther, Hans: Der Feind in der totalitären Kultur, in: Gorzka (Hg.): Kultur im Stalinismus, Bremen 1994, S.95.
7 Ders.: Der sozialistische Übermensch, Stuttgart 1993, S.175.
8 Münkler: Heroische und postheroische Gesellschaften, S.176.
9 Was sich hingegen zuhauf finden lässt, ist der Vergleich zwischen Gulag und KZ. Prominent hierzu: Ernst Noltes Essay Vergangenheit, die nicht vergehen will, der damals den Historikerstreit auslöste. Darin: „ War nicht der „Archipel GULag“ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der „Klassenmord“ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des „Rassenmordes“ der Nationalsozialisten? […]“ Der Vergleich zwischen Gulag und KZ soll uns in dieser Arbeit daher nicht beschäftigen.
10 Hildermeier, Manfred: Geschichte der Sowjetunion 1917-1991, 2. Aufl. München 2017, S.535f.
11 Vgl. Ebd. S.540.
12 Günther, Hans: Der sozialistische Übermensch, Stuttgart 1993, S.179f.
13 Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin, München/Wien 1988, S.67.
14 Morozov, Aleksander: Der sozialistische Realismus als Fabrik des Neuen Menschen, in: Groys, Boris (Hg.): Traumfabrik Kommunismus, Frankfurt 2003, S.70.
15 Vgl. Groys, Boris: Die Massenkultur der Utopie, in: Ders. (Hg.): Traumfabrik Kommunismus, S.24.
16 Zit.n. Gries; Satjukow: Zur Konstruktion des sozialistischen Helden. Geschichte und Bedeutung, in: Dies. (Hg.): Sozialistische Helden, Berlin 2002, S.16.
17 Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion, S.539.
18 Stachanows ‚Tat‘ wurde schnell als heroisch stilisiert. Der offizielle Ehrentitel Held der sozialistischen Arbeit wurde ihm jedoch erst 1970 verliehen. Bereits vor Stachanows Rekord 1935 gab es aber eine Auszeichnungspraxis vorbildhafter Arbeiter, etwa durch den Orden des Roten Banners der Arbeit oder den Titel Held der Arbeit.
19 Zit. n. Maier, Robert: Die Stachanov-Bewegung, Stuttgart 1990, S.62.
20 Vgl. Ebd. S.62f.
21 Vgl. Ebd. S.83.
22 Vgl. Ebd. S.125. Das Narrativ der ‚Umerziehung‘ ist ein oft wiederkehrendes. Prominent dazu: Maxim Gorkis Von Feinden der Gesellschaft zu Helden der Arbeit. Unnötig zu erwähnen, dass hier die Straflager zynisch relativiert werden. Ferner zeigt das aufgeworfene Bild die Polarität zwischen Held und Feind, das keine Mitte kennt.
23 Zit.n. Ebd. S.126.
24 Vgl. Neutatz, Dietmar: Arbeiterschaft und Stalinismus am Beispiel der Moskauer Metro, in: Hildermeier (Hg.): Stalinismus vor dem zweiten Weltkrieg: neue Wege der Forschung, München 1998, S.104.
25 Ebd. S.103.
26 Sie wurde 1935 eröffnet und liegt damit zeitlich vor Stachanows ‚Tat‘ und der Stachanow-Bewegung. Vieles aus dem Metro-Diskurs findet sich aber beim Diskurs um Stachanow wieder und greift somit vor.
27 Zit. n. Neutatz: Die Moskauer Metro, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 340.
28 Vgl. Ebd. S.337f.
29 Zit. n. Maier: Die Stachanov-Bewegung, S.151.
30 Vgl. Ebd.
31 Ebd. S.170.
32 Vgl. Ebd. S.179.
33 Vgl. Ebd. S.172.
34 Insgesamt hatte die Rekordjagd keine Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Produktivität, bzw. war dieser sogar hinderlich. Zudem wurde die Arbeiterschaft durch den Stachanowismus gespalten.
35 Vgl. Ebd. S. 90.
36 Vgl. Günther: Der sozialistische Übermensch, S.140. Wie bereits erwähnt begründet dieser seine Überlegungen lediglich kulturgeschichtlich, sie lassen sich aber auch auf der realpolitischen Ebene belegen.
37 Vgl. McLoughlin, Barry: Geschichtlicher Überblick, in: Ders.; Vogl, Josef (Hg.): Ein Paragraf wird sich finden, Wien 2013, S.33.
38 Vgl. Ebd.
39 Vgl. Ebd. S.35.
40 Ebd.
41 Schattenberg, Susanne: Stalins Ingenieure, München 2002, S.339. Hervorragende Darstellung zum Verhältnis zwischen Stachanowist*innen und Ingenieuren, Managern und Bürokraten.
42 Vgl. Ebd. S.341.
43 Ebd. S.340.
44 Ebd. S.349f.
45 Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde, München 2012, S.320. Generell liefern die Seiten 317ff. eine gute, knappe Zusammenfassung zur Darstellung Susanne Schattenbergs.