In der vorliegenden Arbeit betrachte ich Benjamins geschichtsphilosophische Thesen als Versuch die Erkenntnis und das Aufdecken der Wirkung wahrer Leidursachen durch Analyse und Aufarbeitung kollektiver Geschichte zu ermöglichen. Da dieser Versuch dem Versuch der Psychoanalyse ähnelt, die statt der kollektiven Geschichte die Geschichte des Individuums analysiert, werde ich bei meiner Untersuchung auf Überlegungen und Begriffe der Psychoanalyse rekurrieren, von denen angenommen werden kann, dass sie Benjamin nicht unbekannt gewesen sind. Auf Leselisten des Autors möchte ich deshalb verzichten, weil diese erwiesenermaßen unvollständig sind. Bevor ich Benjamins Geschichtstheorie im Hinblick auf ihre Potentiale untersuche, möchte ich zeigen, dass die Geschichtstheorie Benjamins sowohl zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung 1940 als auch heute nicht nur relevant, sondern gleichermaßen viabel ist. Um dies zu beweisen, stelle ich zunächst die gemeinsamen Merkmale soziopolitischer und psychosozialer Strukturen in den 1930er Jahren und heute heraus.
Ziel der Arbeit ist zu zeigen, inwieweit Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen relevant für aktuelle Diskussionen zum Thema Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung, Ressentiments (Rassismus, Sexismus, Antijudaismus etc.) oder Fortschritts-, Herrschafts-, Historismuskritik etc. ist. Seit der ersten, von Peter Bulthaup 1975 herausgegebenen Sammlung von Aufsätzen zu Benjamins Thesen, hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung vorwiegend auf den Widerstreit der beiden wichtigsten Denkrichtungen konzentriert: Theologie (Sholem) und Marxismus (Brecht)1. Meine Untersuchung beginnt ihre Suchbewegung auf der Grundlage eines marxistisch-materialistischen Verständnisses, mit der Absicht psychoanalytisches Gedankengut in den Thesen Benjamins zu erfassen bzw. daraus abzuleiten und für einen künftigen Diskurs nutzbar zu machen.
Inhaltsverzeichnis
1. Arbeitshypothese und Vorgehen
2. Merkmale soziopolitischer Strukturen in den 1930er Jahren und heute
3. Merkmale psychosoziale Strukturen in den 1930er Jahren und heute
4. Zuvor noch eine Bemerkung
5. Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen - Eine (psycho)analytische Geschichts theorie
5.1 Abgrenzung vom Fortschrittsbegriff der Moderne
5.2 Abgrenzung vom konservativen Historismus
5.3 Eingedenken als Mittel materialistischer Geschichtsschreibung
5.4 Neue Perspektiven durch materialistische Geschichtsschreibung
5.5 Archäologie der Erinnerung
6. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Arbeitshypothese und Vorgehen
Benjamins geschichtstheoretische Überlegungen plädieren für einen neuen Zugriff auf die Geschichte in der Stunde höchster Not. Der Text entstand unter dem Eindruck des rapiden Aufstiegs des Faschismus und während einer scheinbar aussichtslosen weltgeschichtlichen Lage im Jahr 1940. In seinen geschichtsphilosophischen Thesen problematisiert Walter Benjamin allerdings nicht in erster Linie den Faschismus als symptomatisches Phänomen, sondern die Ursache der Krise: Die Universalgeschichte, die Arbeitsweise konventioneller Geschichtsschreibung sowie den Fortschrittsoptimismus als soziopolitische Ideologie. Durch Rekonstruktion und Analyse der Krisenursache soll in der Arbeit folgender Kausalnexus vor dem Hintergrund seiner materialistischen und psychologischen Dimensionen beleuchtet werden:
(P1) Durch Kontrolle der Vergangenheit (universale Geschichtsschreibung), die das Leiden der Verlierer der Geschichte nicht oder nur bedingt erwähnt, können erfahrene Leiden nicht verarbeitet werden.
(P2) Die bestehende Herrschaftsordnung kann nicht unmittelbar als Ursache für vergangenes und aktuelles Leid erkannt werden, da die Herrschaftsordnung die Ursachen von Leid verzerrt (Herrschaftsnarrativ) und hinsichtlich des steigenden Wohlstands (Fortschrittsoptimismus) messbare Erfolge erzielt.
(P3) Zur Kompensation projizieren Leidende z.B. ihre Gefühle auf konstruierte Feindbilder, die als vermeintliche Ursache und Bedrohung stilisiert werden. Resultat sind Ressentiments, die von (rechts)populistischen Parteien konstruiert oder geschürt werden. Die wahren Ursachen für Leid bleiben verdeckt.
(C) Durch die Erkenntnis und das Aufdecken der Wirkung wahrer Ursachen kann sich die Triebenergie der nach Kompensation trachtenden Betroffenen gegen die wahren Ursachen richten und sich am Leiden abarbeiten. Dadurch verlieren Ressentiments ihre Funktion.
In der vorliegenden Arbeit betrachte ich Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen als Versuch die Erkenntnis und das Aufdecken der Wirkung wahrer Leidursachen durch Analyse und Aufarbeitung kollektiver Geschichte zu ermöglichen. Da dieser Versuch dem Versuch der Psychoanalyse ähnelt, die statt der kollektiven Geschichte die Geschichte des Individuums analysiert, werde ich bei meiner Untersuchung auf Überlegungen und Begriffe der Psychoanalyse rekurrieren, von denen angenommen werden kann, dass sie Benjamin nicht unbekannt gewesen sind. Auf Leselisten des Autors möchte ich deshalb verzichten, weil diese erwiesenermaßen unvollständig sind. Bevor ich Benjamins Geschichtstheorie im Hinblick auf ihre Potentiale untersuche, möchte ich zeigen, dass die Geschichtstheorie Benjamins sowohl zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung 1940 als auch heute nicht nur relevant, sondern gleichermaßen viabel ist. Um dies zu beweisen, stelle ich zunächst die gemeinsamen Merkmale soziopolitischer und psychosozialer Strukturen in den 1930er Jahren und heute heraus.
Ziel der Arbeit ist zu zeigen, inwieweit Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen relevant für aktuelle Diskussionen zum Thema Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung, Ressentiments (Rassismus, Sexismus, Antijudaismus etc.) oder Fortschritts-, Herrschafts-, Historismuskritik etc. ist. Seit der ersten, von Peter Bulthaup 1975 herausgegebenen Sammlung von Aufsätzen zu Benjamins Thesen, hat sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung vorwiegend auf den Widerstreit der beiden wichtigsten Denkrichtungen konzentriert: Theologie (Sho- lem) und Marxismus (Brecht)1. Meine Untersuchung beginnt ihre Suchbewegung auf der Grundlage eines marxistisch-materialistischen Verständnisses, mit der Absicht psychoanalytisches Gedankengut in den Thesen Benjamins zu erfassen bzw. daraus abzuleiten und für einen künftigen Diskurs nutzbar zu machen.
2. Merkmale soziopolitischer Strukturen in den 1930er Jahren und heute
Mit den geschichtsphilosophischen Thesen legt Benjamin ein Konzept materialistischer Geschichtsschreibung vor, das heute an Relevanz deshalb nicht verloren hat, weil die soziopolitische Lage strukturelle Ähnlichkeiten zu den 1930er Jahren aufweist:2
1. Die Erosion des Vertrauens in die Regierung und der Rückgang der liberalen repräsentativen Demokratie
2. Der gleichzeitige Aufstieg von rechtspopulistischen Bewegungen, die von mehr oder minder charismatischen Führerpersönlichkeiten organisiert werden
3. Neue Massenmedien, die die politischen Inhalte von rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien massiv verbreiten können
Wesentlich plädieren Benjamins Thesen für einen alternativen Zugang zu und einen neuen Umgang mit Geschichte. Die letzte Arbeit Benjamins entsteht während einer Zeit, in der das autoritär-faschistische Regime Europa zu verschlingen droht. Zwar befindet sich Deutschland heute nicht unter der Ägide eines repressiven Faschismus. Doch haben sich totalitäre Strukturen in der neoliberalen Marktradikalität erhalten und nehmen in Form eines sekundären Autoritarismus Einfluss auf die Gesellschaft.3 4 Dieser Autoritarismus wirkt durch die Idee einer starken Wirtschaftsnation, die Wohlstand durch Fortschritt verspricht:
„The economic miracle and the strong economy are ideal objects to stabilise self-esteem among citizens in Germany from the post-war period to this day. One reason for this may be the similar connection between the economy and self-esteem that already existed before the war. The postwar economical miracle was the second economic miracle that happened in Germany.“5
Die Vorstellung von und Identifizierung mit einer starken Wirtschaft(sideologie), die durch die Kraft der Arbeit vorangetrieben wird, herrscht auch in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg vor. So wird die Arbeit bereits im Gothaer Programm von 1875 als „Quelle alles Reichtums und aller Kultur“6 definiert. Später verkündet Josef Dietzgen, ein sozialistischer Philosoph, Marxist und Journalist:
„Arbeit heißt der Heiland der neueren Zeit ... In der ... Verbesserung ... der Arbeit ... besteht der Reichtum, der jetzt vollbringen kann, was bisher kein Erlöser vollbracht hat.“7
Benjamin kritisiert den Fortschrittsoptimismus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, weil dadurch der Sklavenstatus des Arbeiters konsequent verleugnet wird. Die Illusion des Wohlstands durch Fortschritt verdeckt die Ursache von Leid und Elend, nämlich die bestehenden Herrschaftsverhältnisse.
Diese einseitige Betrachtung übersieht zum einen, dass während das allgemeine Wohlstandsniveau steigt, immer mehr Menschen ihre Alltagsrealität in einem sich verschärfenden Gegensatz dazu empfinden oder sogar von akuter Armut bedroht sind. Solange diese Widersprüche bestehen, bleiben Teile der Gesellschaft empfänglich für die Demagogie populistischer Bewegungen oder charismatischer Führerpersonen, die vermeintliche Ursachen und Lösungen propagieren. Zum anderen werden die Kosten und die „Rückkehr der aufgeklärten Zivilisation zur Barbarei in der Wirklichkeit“8, - ein Nebenprodukt des Fortschritts - als notwendiger Bestandteil desselben rationalisiert: Der Zweck heiligt die Mittel? Doch der Umstand sich manifestierenden Barbarismus gilt als Indiz dafür, dass der Klassenantagonismus sich fortsetzt und die „Katastro- phe“9, d.h. Ungerechtigkeit, Leid, Unterdrückung, der Zustand ist, in dem wir permanent Leben. So kritisiert Benjamin am Begriff der Arbeit, „dass [er] nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben [will]“10.
Die sozipolitischen Strukturen weisen sowohl in 1930er Jahren wie auch aktuell zwei eklatante Merkmale auf:
1. Ein weitverbreiteter Fortschrittsoptimismus und Glaube an eine starke, florierende Wirtschaft, die durch die Arbeit vorangetrieben wird.
2. Der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und/oder (charismatischer) Führerpersönlichkeiten, die Herrschaftsansprüche dadurch legitimieren, dass sie einen radikalen Fortschritt (durch eine starke Wirtschaft) oder des Verfalls (durch eine äußere Bedrohung) in der Zeit propagieren, der zu seiner Realisierung oder Reparatur ebendieser authentischer Führerpersönlichkeiten Bedarf.11
3. Merkmale psychosozialer Strukturen in den 1930er Jahren und heute
Eine Konsequenz der Frustrationserlebnisse unbewusst erlebter Repression oder alltäglichen Enttäuschungen, sind Ressentiment gegen Minderheiten12, die in der Regel nicht auf tatsächlichen Erfahrungen beruhen, sondern eine emphatische Konstruktionsleistung sind.
Das „Centre for the Study of Right-Wing Extremism and Democracy“ hat im Rahmen einer Langzeitstudie von 2002-2018 nachgewiesen, dass durchschnittlich rund jeder vierte in Deutschland lebende Mensch xenophobes Gedankengut besitzt.13 Deutlich angestiegen sind die Zustimmungen zu xenophoben Bemerkungen der Studienteilnehmer*innen während der globalen Finanzkrise 2008. Schlussfolgernd lässt sich feststellen, dass Ressentiments zunehmen, sobald die Identifizierung mit dem Ideal einer starken Wirtschaftsnation gefährdet ist. Deshalb sieht Decker es heute als eine Herausforderung, zu verstehen, auf welche Weise autoritäre soziopolitische Prozesse wie z.B. Wirtschaft mit individuellen Ressentiments verknüpft sind.14 In Anbetracht der Tatsache, dass die Hinwendung zu der Vorstellung einer starken Wirtschaft im Anschluss an den Niedergang des 3. Reichs als Identifikationsfläche zu Kompensation von Verlustgefühlen diente, scheint auch die Frage interessant, inwiefern die imaginierte oder tatsächliche Gefährdung der Wohlstandsidentität, Ressentiments und eine nicht aufgearbeitete Vergangenheit (auch Triebunterdrückung) zusammenhängen.
Adorno hat bereits in seiner Studie zur autoritären Persönlichkeit Verbindungen zwischen psychischen Dispositionen und politisch-ideologischen Orientierungen aufgezeigt und kommt zu dem Schluss, dass Antisemitismus nur politisch oder mit langfristig angelegter Bildungsarbeit bekämpft werden kann.15
Wilhelm Reich hatte 1933 mit seiner „Massenpsychologie des Faschismus“ die erste größere Auseinandersetzung mit dem Faschismus aus psychoanalytisch-gesellschaftskritischer Sicht geliefert. Darin deckt er einen fundamentalen Zusammenhang zwischen autoritärer Triebunterdrückung, Wirtschaft und (faschistischer) Ideologie auf.16 Um die Ursachen des Faschismus aufzudecken, deduziert Reich aus seiner Kritik am Vulgärmarxismus die Forderung Widersprüche der Ökonomie in der Ideologie aufzusuchen, und zweitens die Ideologie als geschichtliche Kraft zu erfassen.17
Insgesamt scheinen Gesellschaften mittels Ideologien (z.B. Wohlstand durch Fort- schritt/starke Wirtschaft) Einfluss auf die psychische Konstitution des Menschen zu nehmen, um seine Energien als gesellschaftliche Produktivkraft zu nutzen. Um dies zu erreichen, müssen seine Triebneigungen gehemmt und kanalisiert werden, denn im Naturzustand - so hat Freud gezeigt - scheint der Mensch seinen Aggressionsneigungen ungehindert Ausdruck verleihen zu wollen:
„Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Ver- suchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo homini lupus; [...]“18
Der Gesellschaft kommt die Aufgabe zu, Methoden aufzubieten, die Aggressionsneigungen des Menschen zu hemmen, um Kultur, Fortschritt und Wohlstand zu erzeugen. Solange der Schein von steigendem Wohlstand authentisch vermittelt werden kann, genügt die Ideologie von Fortschritt als Legitimation von Herrschaft.19
Im Zentrum Freuds Analysen steht die Einsicht, dass nur durch Verdrängung nützliche Arbeit geleistet werden kann, obschon er eingesteht, dass diese Verdrängung sich im Gefühl eines Unbehagens äußert. Während Freud sich damit begnügt das resultierende Unbehagen unbestimmt zu lassen und sich somit einer stichhaltigen Kritik entzieht, möchte ich den Kausalnexus weiterverfolgen. So ist anzunehmen, dass aus dem Unbehagen resultierendes Leid und kompensierendes Ressentiment direkt auf die triebhemmende Einrichtung der Gesellschaft zurückgeht, die die Produktivkräfte des Menschen zu nutzen sucht. Bleibt dieser von Freud alternativlos geschilderte Vorgang tatsächlich ohne Alternative?
Marcuse begegnet dieser von Freud angeführten Wechselbeziehung, indem er an die Stelle der Verdrängung die Befreiung setzt, die wiederum zu nützlicher Arbeit führt.20 Ziel hierbei ist es, die repressiven Strukturen, die auf Individuen durch Herrschaftssysteme einwirken, aufzudecken. Sobald die Unbewussten Spannungen zu Bewusstsein kommen, wird ein Potential frei, dass sowohl zur Bearbeitung der Gründe für Repression (Revolution, Reformation etc.) als auch zu Aussöhnung mit der Vergangenheit (Erlösung) genutzt werden kann. Dieser Prozess ist deshalb Spannungsgeladen, da er unbewusste Leiden zu Tage treten lässt. Sobald die Quelle des Übels im Selbst oder einem identifizierbaren Außen bestimmt wird, kann die Triebenergie, die bislang zur Projektion auf Minderheiten gelenkt wurde, zur aktiven Bewältigung wirklicher Ursachen gelenkt werden.
Die psychosozialen Strukturen weisen sowohl in 1930er Jahren wie auch aktuell zwei Merkmale auf:
1. Aufgrund der spezifischen Einrichtung von Gesellschaft, die sich auf dem Prinzip von Herrschaft und Triebunterdrückung gründet, reichern sich in den der Gesellschaft angehörigen Individuen Spannungen und Leiden an, die latent bleiben oder manifest werden.
2. Um die latenten oder manifesten Leiden zu kompensieren, konstruieren die Individuen Projektionsflächen oder reagieren auf bestehende Projektionsflächen, denen sie mit Ressentiment und/ oder Aggression begegnen. Die tatsächlichen Leidensursachen bleiben verdeckt.
In seinen Überlegungen problematisiert Walter Benjamin nicht in erster Linie den Faschismus als symptomatisches Phänomen, sondern die Ursache der Krise: Die Universalgeschichte, die Arbeitsweise konventioneller Geschichtsschreibung sowie den Fortschrittsoptimismus als soziopolitische Ideologie. Jene Ursachen der Krise sind es, die die Kontinuität repressiver Herrschaftsverhältnisse verschleiert und die Aggressionspotentiale des Menschen von sich ablenkt und dadurch indirekt auf alternative Projektionsflächen umleitet.
Im biographischen Kontext hat die Psychoanalyse bei Aufarbeitung der individuellen Vergangenheit bemerkenswerte Erfolge erzielt. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Möglichkeiten eine materialistische Geschichtsschreibung bei der Triebbefreiung und Leidensminimierung durch Aufarbeitung der kollektiven Geschichte (psychosozial) bietet. Zunächst muss jedoch anhand der geschichtsphilosophischen Thesen die Kritik am modernen Fortschritts- und Geschichtsbegriff (sozipolitisch) rekonstruiert werden, von dem gezeigt wurde, dass er in inhaltlicher Hinsicht auch heute noch die Ursache von Leiden und Ressentiment ist.
4. Zuvor noch eine Bemerkung
Mit ihrer Dissertation legt Wiegmann 1989 erstmals eine Studie zur Freud-Rezeption Walter Benjamins vor. In ihrer Dissertation „Psychoanalytische Geschichtstheorie“ entwickelt sie die These, dass die moderne Technik als Ursache der Perpetuierung des kollektiven Leidens zu sehen ist. Gegen diese These erhebe ich folgenden Einspruch. Nicht Technik ist der Grund für das sich perpetuierende Leiden in der Geschichte, sondern lediglich ein Mittel von Herrschaft. Technik ist nur ein Herrschaftsinstrument, dessen Wirken Reaktionen wie Verdrängung hervorruft. Die Ursache für die möglicherweise alternativlose Entwicklung von Technik und Wissenschaft ist jedoch die Dynamik von Herrschaft durch Unterdrückung, die sich dadurch legitimiert, dass sie (techn.) Fortschritt ermöglicht und damit steigenden Wohlstand sichern kann. Durch ein Narrativ, das Wohlstand durch Fortschritt verspricht und ein Narrativ, das die Vergangenheit als Siegergeschichte vorstellt, eignet sich das herrschende System sowohl Zukunft als auch Vergangenheit an und kontrolliert damit die Gegenwart. Die Verdrängung geschieht durch die Verdrängung des Narratives der Leidenden in der Geschichtsschreibung und wird kompensiert durch Phantasmagorien des Kapitalismus, der die Befriedigung der Glücksansprüche teleologisch in die Zukunft projiziert.
Den Anspruch sich der Technik nicht länger zu unterwerfen, sondern sie zu ihrem „Organ“21 zu machen, den Wiegmann formuliert, entspricht der Forderung Marxens, dass die Proletarier sich der Produktionsmittel bemächtigen sollen. Im Wesentlichen scheint mir mit dieser Aneignung jedoch nicht eine Aneignung der Technik, sondern die Aneignung der machtausübenden Mittel, somit der Herrschaft an sich gemeint zu sein. So müsste demnach, um sich von verdrängtem Leiden zu befreien, nicht das Leiden unter der Technik, sondern das Leiden unter herrschaftlichen Zwängen erinnert werden. Das ist schließlich der zentrale Punkt in den geschichtsphilosophischen Thesen. In seinen Überlegungen problematisiert Walter Benjamin nicht in erster Linie den Faschismus oder die Technik als symptomatisches Phänomen, sondern die Ursache der Krise: Die Universalgeschichte, die Arbeitsweise konventioneller Geschichtsschreibung sowie den Fortschrittsoptimismus als soziopolitische Ideologie. Durch Ursachenforschung und Aufzeigen verdrängter Leidursachen solle die Gesellschaft in den Stand versetzt werden sich zu erinnern und das Leiden aufzulösen, indem der Herrschaftsinstrumente (Geschichtsschreibung, techn. Produktionsmittel etc.) angeeignet werden, um eigenmächtig Herrschaft auszuüben.
5. Walter Benjamins geschichtsphilosophische Thesen - Eine (psycho)analytische Geschichtstheorie
5.1 Abgrenzung vom Fortschrittsbegriff der Moderne
Die konventionelle Geschichtsauffassung wird von einer Vorstellung von Fortschritt bestimmt, in der der kapitalistisch-technologischen Produktionsweise eine gesellschaftstransformierende Kraft zugeschrieben wird. Der Motor dieses Fortschrittsoptimismus ist die Hoffnung, die Zukunft der Menschen positiv verändern zu können. Diese Auffassung delegiert jedoch die Verantwortung für die menschliche Geschichte an ein abstraktes naturwissenschaftliches Prinzip (progressive Reproduktion von Kapital). Anstelle einer bewussten Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit tritt ein Prinzip mit dogmatischem Anspruch, dass Spannungen und Probleme mit Rückgriff auf die inhärente Logik des Dogmas erklärt.22 Der Konformismus als Folge eines generellen Fortschrittsoptimismus haftet sowohl an der politischen Taktik als auch an den ökonomischen Vorstellungen.23 Kritische Reflexion und Praxis werden durch Konformismus ebenso sehr gehemmt, wie die Maxime des dialektischen Materialismus, dass Spannungen und Probleme bestehen und ausgetragen werden müssen, solange wir in einer entfremdeten und ungerechten Gesellschaft leben.24 Zur Norm erhobener Fortschritt kapitalistischer Prägung entmachtet demnach nicht nur die Akteure der Geschichte, den Prozess der Geschichte rational und bewusst mitzubestimmen. „Er [der Fortschritt] weist [auch] schon die technokratischen Züge auf, die später im Faschismus begegnen werden.“25
Aus der Vorstellung und dem Anspruch permanenter Entwicklung und Perfektionierung der Gesellschaft durch konsequente Entfaltung der technologischen Produktivkräfte folgt eine Übertragung auf die gesamte menschliche Geschichte und indirekt auch auf die Biographie des Individuums. Geschichte sei der Ort an dem sich, der Fortschritt der Menschheit selbst voll- ziehe.26 Er sei unabschließbar und wesentlich unaufhaltsam.27 Diese technologische Ontologi- sierung der Geschichte führt zu folgenden Problemen:
Erstens weisen die Anforderungen des Fortschrittsgesetzes der menschlichen Arbeit ihre Inhalte zu und nicht umgekehrt und sind in diesem Sinne fremdbestimmt. Damit gleicht das Fortschrittsgesetz der Teleologie von Religionen, die dem Gläubigen gleichsam Gesetze oktroyieren, die zu befolgen er gezwungen ist, wenn er erlöst werden will. Die Formel der Zweck heiligt die Mittel muss jedoch an der Stelle kritisch beleuchtet werden, wo sie nur die Fortschritte der Naturbeherrschung wahrhaben will, die Rückschritte der Gesellschaft jedoch übersieht.28
Zweitens hat eine Generation, die vor dem Hintergrund einer perfektibilen Gesellschaft, die nur für den Fortschritt der Menschheit an sich strebt, weder einen intrinsischen Wert noch eine selbstreferentielle Bedeutung.29 Sie hat lediglich eine instrumentelle Bedeutung, insofern sie die Bühne für die Folgegeneration bereitet, die sich wiederum nur graduell einer besseren Zukunft nähert. Aus diesem Grund ist die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte nicht von der Vorstellung ihres Fortgangs durch eine homogene und leere Zeit abzulösen.30
Drittens täuscht die Idealisierung der bzw. die positivistische Betrachtung von Geschichte darüber hinweg, dass in ihr kein Fortschritt im eigentlichen Sinne zu finden ist, sondern dass sie eine „einzige Katastrophe“31 darstellt. Partielle Krisen werden innerhalb der Fortschrittslogik als logisch, natürlich und zwangsläufig angesehen.32 In dieser Logik wird das Leiden des Einzelmenschen nur insofern ernst genommen, als es im Dienst des gesamtheitlichen Fortschritts steht.
Das Geschichtsbild der sozialdemokratischen Theorie und Praxis orientiert sich an einem positivistischen Fortschrittsideal. Der Politik ist an nichts mehr gelegen, als an der Herstellung der Illusion eines homogenen Systems, das zur positiven Selbstregulation im Stande ist. Die positive Regulation wird im Rahmen der Fortschrittslogik an die Fabrikarbeit gekoppelt, indem sie der proletarischen Klasse ermöglicht, am Fortschritt im Sinne einer besseren Zukunft mitzuarbeiten. Laut Benjamin trägt das Gothaer Programm von 1875 bereits „Spuren der Verwirrung“33 in sich. Darin wird die Arbeit als „Quelle alles Reichtums und aller Kultur“ definiert.34 Im Rekurs auf Marx' „Kritik des Gothaer Programm“ kritisiert Benjamin eine unreflektierte Arbeitsmoral der SAPD, in der die Reproduktion bestehender ungerechter Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse verschleiert würde. Bei Marx heißt es dazu:
„In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen.“35
Der Akt der Heiligsprechung von Arbeit, den etwa der sozialdemokratische Philosoph Joseph Dietzgen vollzieht, verleugnet konsequent den Sklavenstatus des Arbeiters. De facto gehorcht die Arbeiterklasse dem Diktat der Kapitalisten und glaubt sehnsüchtig an die Prophezeiung der sozialdemokratischen Politik, die in der Tradition „alte[r] protestantischen Werkmoral“ Erlösung in die Zukunft projiziert.36 „Brutales Arbeitsethos und technokratische Ideologie werden zur Substanz einer Weltanschauung, die dem Proletariat als wissenschaftlich aufgeschwatzt wird.“37 Die Illusion der Erlösung durch Fortschritt verdeckt aber die Ursache von Leid und Elend, nämlich die bestehenden Herrschaftsverhältnisse.
[...]
1 Vgl. Lindner, Burkhardt: Benjamin Handbuch, S. 287
2 Vgl. Cvejic, Zarko: Blasting the Past: A Rereading of Walter Benjamin’s Thesis of the Philosophy of History. S. 385
3 Vgl. Foucault, Michel: The birth of biopolitics: Lectures at the Collège de France, S.84
4 Vgl. Decker, Oliver: Secondary authoritarianism - the economy and right-wing extremist attitudes in contemporary Germany, S. 205
5 ebd. S. 209
6 Zitat nach Benjamin, Walter (1940), These XI
7 Zitat nach Benjamin, ebd.
8 Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 6
9 Benjamin, Walter: Vom Begriff der Geschichte, These IX
10 ebd.
11 Vgl. Schwering, Gregor: Benjamin - Lacan, S. 158
12 Darunter fallen z.B. Xenophobie, Misogynie, Rassismus, Antisemitismus
13 Vgl. Decker, Oliver: Secondary authoritarianism - the economy and right-wing extremist attitudes in contemporary Germany, S. 205
14 Vgl. ebd. S. 204
15 Vgl. Adorno, Theodor W.: Bemerkungen zu The Authoritarian Personality und weitere Texte, S. 303
16 Siehe Reich, Wilhelm (1933): Massenpsychologie des Faschismus. S. 23ff
17 Vgl. ebd. S. 27
18 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, S. 470
19 Vgl. Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als Ideologie, S. 75ff
20 Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 154
21 Wiegmann, Jutta (1989): Psychoanalytische Geschichtstheorie, S. 45
22 These XIII
23 Vgl. These XI
24 Vgl. Hering, Christoph: Die Rekonstruktion der Revolution. S. 101
25 These XI
26 Vgl. These XIII
27 Vgl. These XIII
28 Vgl. These XI
29 Vgl. Kittsteiner, H. D., Jonathan Monroe, and Irving Wohlfarth: "Walter Benjamin's Historicism, S.181
30 Vgl. XIII
31 These IX
32 Vgl. Cvejic, Zarko (2019): Blasting the Past: A Rereading og Walter Benjamin’s Thesis of the Philosophy of History. S. 391
33 These XI
34 Ebd.
35 Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms, S. 17
36 These XI
37 Mensching, Günter: Zeit und Fortschritt in den geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins, S. 181