Diese Arbeit beschäftigt sich mit Instrumenten zur Stimulierung von ökologisch verantwortlichen Handeln, sogenannten "Green Nudges". Es geht um die Fragestellung, wie sich Menschen entscheiden und wie diese Entscheidungen von einem solchen Nudge in eine ethisch wertvolle Richtung gelenkt werden können. Zudem soll analysiert werden, inwiefern solche Eingriffe unangemessen in die persönliche Entscheidungsfreiheit eingreifen. Besondere Relevanz erfährt die Thematik vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen und den rasant wachsenden Bestrebungen um eine nachhaltige Entwicklung.
Viele menschliche Handlungsmuster aus Alltag und Wirtschaft verlaufen heute zuungunsten von Ökologie und Gemeinwohl. Nachhaltiges Nudging will an dem Umstand begrenzter - aber nachvollziehbarer - kognitiver Fähigkeiten ansetzen und vermeidbare ökologische, gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Schäden abwenden und ihnen vorbeugen. In dieser Arbeit wird der Einsatz von Green Nudges aus einer umweltökonomischen Perspektive beleuchtet und diskutiert.
In Kapitel 1 werden die theoretischen Grundlagen von Nudging umrissen. Um adäquat erklären zu können, was es mit den Schubsern auf sich hat, wird die Frage, wie der Mensch Entscheidungen trifft, aufgeworfen und zunächst aus rein ökonomischer Sichtweise betrachtet. Darauf aufbauend wird die zum neoklassischen Modell des "Homo Oeconomicus" gegensätzliche, aber umso zeitgemäßere Meinung aus verhaltensökonomischer Perspektive ausführlich dargelegt.
Auf dieser Basis lässt sich anschließend eine Definition von Nudging formulieren, ehe in Kapitel 2, intensiv an Beispielen orientiert, verschiedene Möglichkeiten von Nudges für eine nachhaltige Entwicklung präsentiert wird. Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Nudging darf eine kritische Auseinandersetzung nicht fehlen. Dafür widmet sich Kapitel 3 einer Sammlung von ethischen Bedenken, die das Spannungsfeld zwischen dem Recht auf individuelle Entscheidungsfreiheit auf der einen und paternalistischen, grenzüberschreitenden Eingriffen auf der anderen Seite eröffnen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Theoretische Grundlagen von Nudging
1.1 Trifft der Mensch Entscheidungen als Homo oeconomicus?
1.2 Verhaltensökonomische und psychologische Perspektive: Entscheidungstheorie und neue Erwartungstheorie
1.3 Definition - Was ist Nudging
2. Green Nudges - Nudging für nachhaltige Entwicklung
3. Kritische Betrachtung von Nudging
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Entscheiden sich Besucher*innen einer Kantine eher für das ungesunde, aber zuckersüße Eis oder für den gesunden, erfrischenden Apfel? Für die klassische Ökonomie wäre völlig klar: der Apfel maximiert den langfristigen Nutzen (Gesundheit) besser und mithin fällt die Entscheidung auf ihn. Dass dieses Wahlverhalten ökonomisch und selbstredend auch gesundheitlich betrachtet Sinn macht, steht wohl außer Frage. Die sich stark entwickelnde Verhaltensökonomie jedoch erhebt klare Einwände gegen des Postulat vom bewusst- rational denkenden Menschen und wirft einen Blick über die Grenzen des Homo oeconomicus hinaus. So stellen sich diesem Modell zwei ihrer (der Verhaltensökonomie) bekanntesten (US-amerikanischen) Vertreter - der Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und der Jurist Cuss Sunstein - entgegen und stellen dabei fest, dass Menschen zwar erstaunliche Leistungen vollbringen können, gleichzeitig aber auch „[...] dumme Fehler begehen“ (Sunstein/Thaler 2011, S. 106.) und die Entscheidung zwischen Apfel oder Eis vor allem eine Frage der Positionierung beider Angebote ist.1
Entscheidungen wie die oben beschriebene sowie zig weitere kleine oder komplexere Entscheidungen, in denen es um die relativ spontane Priorisierung von vernünftig oder unvernünftig geht, treffen wir alle jeden Tag. Während die Wahl zwischen Eis oder Apfel noch verhältnismäßig geringe Auswirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft haben wird, wirkt sich hingegen beispielsweise die Entscheidung für oder gegen doppelseitiges Drucken deutlich gesamtgesellschaftlicher und ökologisch weitreichender aus.
Warum entscheiden wir wie? Und: lassen wir uns auch ohne radikale Verbote irgendwie lenken - vielleicht, durch einen kleinen „Stups“, bzw. wie es aus dem Englischen übernommen wurde, einen „Nudge“? - Um genau diese „Stupser“ in eine bestimmte - ethisch wertvolle - Richtung und um die Frage danach, ob und inwiefern durch solche Eingriffe unangemessen in die persönliche Entscheidungsfreiheit eingegriffen wird, geht es in dieser Arbeit. Besondere Relevanz erfährt die Thematik vor dem Hintergrund globaler Herausforderungen und den rasant wachsenden Bestrebungen um eine nachhaltige Entwicklung. Viele menschliche Handlungsmuster aus Alltag und Wirtschaft verlaufen heute zuungunsten von Ökologie und Gemeinwohl. Nachhaltiges Nudging will an dem Umstand begrenzter - aber nachvollziehbarer - kognitiver Fähigkeiten ansetzen und vermeidbare ökologische, gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Schäden abwenden und ihnen vorbeugen. In dieser Arbeit wird der Einsatz sogenannter „Green Nudges“ aus einer umweltökonomischen Perspektive beleuchtet und diskutiert.
In Kapitel 1 werden die theoretischen Grundlagen von Nudging umrissen. Um adäquat erklären zu können, was es mit den „Schubsern“ auf sich hat, wird die Frage, wie der Mensch Entscheidungen trifft, aufgeworfen und zunächst aus rein ökonomischer Sichtweise betrachtet, um darauf aufbauend die zum neoklassischen Modell des „Homo Oeconomicus“ gegensätzliche, aber umso zeitgemäßere Meinung aus verhaltensökonomischer Perspektive ausführlich darzulegen. Auf dieser Basis lässt sich anschließend eine Definition von Nudging formulieren, ehe in Kapitel 2, intensiv an Beispielen orientiert, verschiedene Möglichkeiten von Nudges für eine Nachhaltige Entwicklung präsentiert wird. Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Nudging darf eine kritische Auseinandersetzung nicht fehlen. Dafür widmet sich Kapitel 3 einer Sammlung von ethischen Bedenken, die das Spannungsfeld zwischen dem Recht auf individuelle Entscheidungsfreiheit auf der einen und paternalistischen, grenzüberschreitenden Eingriffen auf der anderen Seite eröffnen. Kapitel 4 fasst die wesentlichen Ergebnisse im Sinne eines Fazits zusammen.
1. Theoretische Grundlagen von Nudging
Bevor auf die ökonomische Grundlagenbetrachtung von Nudges eingegangen werden kann, dient ein kurzer Begriffsexkurs dem allgemeinen Verständnis: „to nudge“ ist ein englisches Verb und bedeutet „stoßen“ bzw. „schubsen“. Die Verwendung des Terminus als „ein Nudge“ („ein Schubser“ / „ein Stoß“) oder als „Nudging“ („das Schubsen“ / „das Stoßen“) hat initial durch den Wirtschaftswissenschaftler Richard Thaler und den Rechtswissenschaftler Cass Sunstein und deren Buch „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ von 2008 Eingang in die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Debatte gefunden. Nachfolgend wird ausgeführt, auf welcher Grundlage diese leichten Schubser aufbauen, wie sie funktionieren und warum sie wirken, um die theoretischen Grundlagen von Nudging schließlich kurz und bündig im Sinne einer Definition zusammenzufassen.
1.1 Trifft der Mensch Entscheidungen als Homo oeconomicus?
Um der Thematik adäquat näher zu kommen muss zunächst ein Blick auf die Frage, wie der Mensch Entscheidungen trifft, geworfen werden. Das Grundmodell für die menschliche Entscheidungsfindung beschreibt die neoklassische Wirtschaftstheorie mit dem Homo oeconomicus als den vollkommen rational-handelnden und stets nutzenmaximierenden Menschen (vgl. Gillenkirch 2018). Zurückgehend auf einen der einflussreichsten Ökonomen des 19. Jahrhunderts, John Stuart Mill (vgl. von Hayek 1971, S. 76), wird die Entscheidungsfindung in den klassischen Wirtschaftswissenschaften noch heute nach diesem Modell dargestellt. Dieser Theorie nach trifft der Mensch alle Entscheidungen immer und überall rein egozentrisch. Dabei liegen alle relevanten Informationen vor und der Mensch ist stets im vollen Bewusstsein seiner Präferenzen. Sprunghaftes, vom Prinzip der Nutzenmaximierung abweichendes Verhalten kommt nicht vor. Vielmehr ist der Entscheidungsprozess gekennzeichnet von konsequenter Zielgerichtetheit. Der Homo oeconomicus strebt die permanente Nutzenmaximierung an und erreicht sie durch ultimative Bedächtigkeit sowie durch uneingeschränkt rationales Verhalten (vgl. Beck 2014, S. 2 f.).
Doch wie übertragbar ist das Modell des Homo oeconomicus? - Bei einer realitätsabgleichenden Betrachtung der Theorie erscheint eine sinnvolle Anwendbarkeit fragwürdig. Sehr zutreffend bringen Thaler und Sunstein die kaum zu erfüllende Überheblichkeit des Modells auf den Punkt, indem Sie feststellen, dass der Homo oeconomicus im Sinne der klassischen Ökonomie „[...] denkt wie Albert Einstein, Informationen speichert wie IBMs Supercomputer „Big Blue“ und eine Willenskraft hat wie Mahatma Gandhi“ (Sunstein/Thaler 2011, S.16). Dass das Modell vermessen sein könnte, wenn es den Mensch als Dreifaltigkeit dieser Wundersubjekte darstellt, wird zwar auch in der wissenschaftlichen Kritik bezüglich des Festhaltens am Homo oeconomicus lauter, zeitgleich jedoch wird in der klassischen Wirtschaftstheorie weiterhin vielfach - zumindest implizit - an dem Konstrukt als Denk- und Rechengrundlage festgehalten. Immer noch bauen etliche Systeme auf der Theorie auf. Bei aller aufkommenden Kritik, die in Punkt 1.2 im Rahmen des verhaltensökonomischen Exkurses ausführlicher dargelegt wird, soll aber zunächst nicht unerwähnt bleiben, dass das traditionelle Modell - wie auch andere (neo-)klassische Modelle - einen enormen Beitrag zur Entwicklung der Ökonomie im Allgemeinen geleistet hat und auch noch leistet. Ohne tiefer auf die Vorteile der Theorie einzugehen, sei an dieser Stelle lediglich festgehalten, dass es sie gibt.2 In aller Kürze und mit Prägnanz lässt sich jedoch festhalten, dass menschliches Handeln sehr wohl sinnvoll am Homo oeconomicus Orientierung finden kann - jedoch mehr als normatives Konzept im Sinne einer richtungsleitenden Vorgabe als weniger als valide Arbeits- und Berechnungsgrundlage. Zudem dürfte unumstritten sein, dass eine Modellbildung den hohen Wert der (in der komplexen Wirtschaftswissenschaft hilfreichen und nötigen) Vereinfachung mit sich bringt (vgl. Beck 2014 S. 8).
1.2 Verhaltensökonomische und psychologische Perspektive: Entscheidungstheorie und neue Erwartungstheorie
Immer prägnantere Diskrepanzen in Bezug auf die Anwendbarkeit des klassischen Homo oeconomicus stellen seit einigen Jahrzehnten und insbesondere seit einigen Jahren Vertreter*innen der Verhaltensökonomik fest. Während es den Anschein machen kann, dass es sich bei diesem Zweig um einen sich gänzlich neu entwickelnden Trend handelt, entsprangen die „behavioral economics“ initial interessanterweise zeitgleich und stark verbunden aus den Anfängen der klassischen Ökonomik, sodass anstelle von einem neuartigen Ansatz eher von einer Renaissance bzw. von einer Wiedervereinigung der Verwebung von Psychologie und Ökonomie gesprochen werden kann (vgl. Camerer 1999, S. 10575). Als Mitbegründer der Nationalökonomie beschäftigte sich so bereits Adam Smith im 18. Jahrhundert in seiner „Theory of Moral Sentiments“ mit den individuellen Entscheidungsmotivationen der Menschen. Der Aufstieg der neoklassischen Theorie verdrängte dann durch das Bestreben, die Wirtschaftswissenschaften als Naturwissenschaft zu etablieren, die Symbiose von Psychologie und Ökonomie weitgehend. Erst die aufstrebende Hirnforschung der 1960er Jahre sowie die kognitive Psychologie brachten erneut ein kritisches Überdenken traditioneller - an vollkommener Rationalität ausgelegter - Theorien in Gang (vgl. Beck 2014, S. 10). Ob das Modell des Homo oeconomicus überhaupt ansatzweise realistisch sein könnte stellten dann im Jahr 1979 in besonders eindrucksvoller und in 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis gewürdigter Weise die beiden (Kognitions-) Psychologen Daniel Kahnemann und Amos Tversky ernsthaft und nachweislich in Frage. Mit ihrer „Prospect Theory“ bzw. der „neuen Erwartungstheorie“ haben sie die Grundlage für eine mathematischpsychologische und somit fundierte Alternative zur klassischen, auf dem Modell des Homo oeconomicus fußende, Erwartungsnutzentheorie entworfen. Sunstein und Thaler stützen sich in Ihren Ausführungen zum Nudging zentral auf diese Erkenntnisse der Kognitionspsychplogie und sehen, dass in der Auffassung der klassischen Ökonomie meist der Standpunkt, „[...] dass fast alle Menschen fast immer Entscheidungen treffen, die in ihrem Interesse sind oder doch auch zumindest besser für sie als diejenigen, die andere für sie treffen würden [...]“ (Sunstein/Thaler 2011, S. 20) vertreten wird. Aus Sicht der Verhaltensökonomie und insbesondere mit dem Wissen der Prospect Theory gehen sie jedoch davon aus, „[...] dass diese Annahme falsch ist - und zwar nachweislich falsch.“ (ebd.)
Um diese Nachweisbarkeit zu begründen muss ein Blick auf die Grundlagen des kognitiven Systems geworfen werden, um zunächst einordnen (und anerkennen) zu können, wie (und dass) der Mensch in verschiedenen Lebenssituationen unterschiedliche und auch nicht selten widersprüchliche Entscheidungen trifft. Ausgehend von der Beobachtung, dass viele Menschen ein zum Teil sehr ambivalentes Entscheidungsverhalten zeigen3 wurde in den Neurowissenschaften ein differenziertes Modell zweier Arten zu Denken geschaffen. Demnach habe der Mensch im Wesentlichen zwei Anteile in sich, die ihn oder sie entweder intuitiv-automatisch oder aber reflektierend-rational denken und entscheiden lässt (vgl. ebd. S.34). Nachfolgend werden diese beiden Systeme benannt als das automatische System und das reflektierende System. 4 Die in Tabelle 1 dargestellten Impulse menschlichen Verhaltens beschreiben die beiden Systeme anhand ihrer gegenüberstehenden Gegensätze.
Tab. 1 Grundlagen des kognitiven Systems - zwei Denksysteme
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Quelle: Sunstein/Thaler 2011, S. 34.)
Das Denken in den jeweiligen Systemen ist jedoch keinesfalls vollkommen spurtreu. Der Mensch springt vom einen System ins andere und denkt zum Teil in einer Situation zu verschiedenen Anteilen in beiden Systemen. Es handelt sich also nicht um eine „Entweder-Oder“-Systematik (vgl. ebd. S. 35 sowie Kahnemann 2012, S. 33). Während das reflektierende System bedacht und bewusst arbeitet, funktioniert das automatische System schnell und instinktiv, um in Situationen, in denen eine schnelle Resonanz erforderlich ist, reagieren zu können. Dabei lässt sich feststellen, dass viele Entscheidungssituationen zwar zügig und richtig mit dem automatischen System beantwortet werden können. Gerade dieser Umstand jedoch verschafft dem Menschen ein häufig zu hohes Vertrauen in das automatische Denken, sodass Fehler unreflektiert begangen werden. So irrational und vermeidbar negative Irrtümer des automatischen Denkens erscheinen mögen, so lassen sich für dieses Verhalten einige Gründe finden. Warum das automatische System häufig überwiegt und - entgegen dem Modells des Homo oeconomicus - zu Fehlurteilen und -entscheidungen führen kann, lässt sich mit den nachfolgend ausführlich dargestellten Urteilsheuristiken nach Tversky und Kahnemann sowie weiteren Gründen für das Überwiegen des automatischen Systems aus psychologischer Perspektive erklären (Sunstein/Thaler 2001, S. 36. ff.).
Urteilsheuristiken nach Tversky und Kahnemann und weitere Gründe für das Überwiegen des automatischen Systems
Die Frage, warum der Mensch überwiegend auf das automatische System zurückgreift und so systematische Fehler begeht, war Hauptgegenstand der Untersuchungen von Amos Tversky und Daniel Kahnemann zu ihrer Prospect Theory. Die beiden begründen dort das menschliche Verhalten und insbesondere die Entscheidungsfindung in Situationen mit Unsicherheit mit den sog. Urteilsheuristiken (vgl. ebd. S. 39). Dabei geht es zentral um die Erkenntnis, dass der Mensch sich in solchen Entscheidungssituationen eben nicht - wie in den klassisch-ökonomischen Modellen (Homo oeconomicus) angenommen - rational-berechnend (also im reflektierenden System denkend) verhält, sondern aufgrund der Komplexität der Entscheidungssituation auf vereinfachende Regeln - die Heuristiken - zurückgreift. Das Wort „Heuristiken“ kommt vom griechischen „heuriskein“ und bedeutet soviel wie „verbesserte Problemlösungen“ (vgl. Beck 2014, S 25). Sie können auch weniger sperrig als „vereinfachende Regeln“, „mentale Abkürzungen“ (ebd.) oder aber in den Worten von Sunstein und Thaler als „Faustregeln“ (Sunstein/Thaler 2011, S. 38) bezeichnet werden. So hilfreich diese Heuristiken in ihrer Anwendung für das Individuum sind, können sie jedoch auch Nachteile mit sich bringen. Neben dem Effekt der Komplexitätsreduktion kann es nämlich auch zu Verzerrungen in der Entscheidung der Menschen führen. Diese Verzerrungen können - wie oben bereits festgestellt - zu Fehleinschätzungen von Situationen und somit zu Fehlentscheidungen und „systematischen Irrtümern“ (ebd. S.39) führen (vgl. Beck 2014, S. 26). Tversky und Kahnemann identifizierten in ihrer Forschung vornehmlich die drei Urteilsheuristiken Verankerung, Verfügbarkeit und Repräsentativität (vgl. Sunstein/Thaler 2011, S. 39). Diese Faustregeln und ihre Verzerrungen sowie weitere Gründe für das Überwiegen des automatischen Systems im menschlichen Entscheidungsprozess werden im Folgenden näher beleuchtet.
Als Verankerung wird grundsätzlich der Vorgang bezeichnet, dass Menschen sich in einer Entscheidungssituation, insbesondere in denen sie unbekannte Größen schätzen müssen, an vorgegebenen Orientierungswerten - den Ankerpunkten - ausrichten. Die Entscheidung, die letztlich getroffen wird, wird demnach auch dann von den Ankerpunkten beeinflusst, wenn diese inhaltlich für die Entscheidungssituation vollkommen irrelevant sind (vgl. Beck 2014, S. 155). So sind beispielsweise Spendende eher dazu bereit, einen höheren Spendenbetrag für eine NGO zu zahlen, wenn im Vorhinein von der Spendenempfängerin entsprechend hohe, anstatt eher niedrige Spendenoptionen vorgeschlagen wurden (vgl. Sunstein/Thaler 2011, S. 41). Der Ankerffekt zeigt, dass der Mensch auf diese komplexitätsreduzierende Weise dazu neigt, auf das automatische System zurückzugreifen und sich an (auch für die Sache völlig unerheblichen) Ausgangswerten orientiert, anstatt die aktuelle Situation reflektierend zu betrachten.
Der Verfügbarkeitsheuristik nach kann es in Denkprozessen dazu kommen, dass einem bestimmten Ereignis eine unverhältnismäßig und unangemessen hohe Eintrittswahrscheinlichkeit zugerechnet wird, wenn dieses bestimmte Ereignis im individuellen Erfahrungshorizont eines Menschen besonders präsent ist. Eine persönliche - häufig sehr einschneidende - Erfahrung kann mithin dazu führen, dass ein erneutes Eintreten der Situation nicht mehr rational betrachtet und folgerichtig häufig als sehr unwahrscheinlich angesehen wird, sondern dass aufgrund der mentalen Verfügbarkeit der Situation automatisch eine von der Realität stark abweichende Eintrittswahrscheinlichkeit angenommen wird (vgl. Kahnemann 2011, S. 164 sowie Beck 2014, S. 39). Besonders auffällig ist die Vereinfachung komplexer Situationen mittels Einsatz der Verfügbarkeitsheuristik in Entscheidungsmomenten, die mit der Abschätzung von Risiken zu tun haben. Dabei lässt sich sagen, dass es neben persönlichen Erlebnissen auch die mediale Präsenz ist, die die mentale Verfügbarkeit herstellen kann (vgl. Sunstein/Thaler 2011, S. 42). Durch den stark verkürzend wirkenden Einsatz des automatischen Systems kann es so schnell zu Urteilsfehlern kommen (vgl. Kahnemann/Tversky 2000, S. 42 ff.). So entscheiden sich Menschen, die beispielsweise eine Naturkatastrophe miterlebt haben eher dafür, sich gegen ein erneutes Auftreten zu versichern, obwohl die empirische Datenlage gegen ein erneutes Auftreten spricht (vgl. Beck 2014, S 42) oder die Medienberichterstattung verzerrt die Einschätzung von Todesursachen in erheblich hohem Maße, sodass beispielsweise der Unfalltod um 80 Prozent wahrscheinlicher eingestuft wird als der Tod durch einen Schlaganfall, wobei Schlaganfälle in Wirklichkeit fast doppelt so viele Todesfälle als alle Unfälle zusammengerechnet verursachen (vgl. Kahnemann 2011, S, 174). Die Verfügbarkeitsheuristik macht deutlich, dass die individuelle Wahrnehmung von bestimmten Situationen großen Einfluss auf Denkprozesse der Menschen hat und die Nutzung des automatischen Systems begünstigt.5
Die auch als Ähnlichkeitsheuristik bezeichnete Repräsentativitäsheuristik (vgl. Sunstein/Thaler 2011, S. 44) beschreibt das Denken in Klischees. Als sehr einfaches und zuweilen wohl eher weniger verheerendes Beispiel kann der Schluss von Informationen über die Persönlichkeit einer Person auf ihren Berufsstand sein.6 Wie bei allen Heuristiken kann auch dieser Mechanismus erfolgreich angewandt werden - funktioniert also durchaus häufig für eine wahrheitsgetreue Beschreibung von unsicheren Situationen (vgl. Beck 2014, S. 29), jedoch ebenso zu Fehlinterpretationen und falschen Entschlüssen führen, indem Zufälle als kausale Muster interpretiert werden (vgl. Sunstein/Thaler 2011, S. 51). Sunstein und Thaler machen deutlich, dass die Repräsentativitätsheuristik auch zu dramatischeren Folgen als dem bloßen Zuschreiben vom Berufsstand im oben genannten Beispiel kommen kann. So komme es in den Vereinigten Staaten von Amerika immer wieder zu politischen Handlungen in Folge von vermeintlich auftretenden KrebsClustern, die jedoch ohne hinreichende Begründung keine Indizien bieten, dass sie nicht nur ein Zufallsprodukt sind (vgl. ebd., S.50).
[...]
1 Das Beispiel „Apfel oder Eis“ soll an dieser Stelle nur eine in diese Arbeit einleitende Funktion darstellen. Es ist aber angelehnt an verschiedene Untersuchungen ähnlicher Art von Sunstein/Thaler (z.B. „Pommes oder Karottenstäbchen?“), mit denen sie belegen konnten, dass eine Positionierung von gesünderen Speisen auf Augenhöhe zu einem stärkeren Konsum dieser führt, ohne dass dabei die ungesünderen Speisen in ihrem Angebot eingeschränkt werden. Vertiefend zu diesen Grundlagenuntersuchungen zum Thema Nudging vgl. Sunstein/Thaler, 2011 S. 9 ff.
2 Hanno Beck liefert eine umfangreiche Ausführung zur Verteidigung des Homo oeconomicus trotz aller Kritik, vgl. Beck 2014, S. 4 ff.
3 So führen Sunstein und Thaler etwa an, dass Ludwig van Beethoven eine kognitiv unfassbare Leistung mit seiner neunten Symphonie, die er taub schrieb, leistete. Gleichzeitig sei er jedoch neben seinem brillanten Auffassungs- und Ausdrucksvermögen auch ein ziemlich vergesslicher Mensch gewesen - so habe er regelmäßig seine Schlüssel verlegt. Spöttisch fragen Sunstein und Thaler danach, wie der Mensch „[...] gleichzeitig so schlau und so dumm [...]“ sein kann, vgl. Sunstein/Thaler 2011, S. 34.
4 Liebermann und Satpute (2006, S. 88 f.) liefern eine ausführliche neurowissenschaftliche Beleuchtung der Thematik und berichten in ihrer Primärforschung von „System X“ („reflexive“) und „System C“ („reflective“).
5 Ein keinesfalls unerheblicher, aber für diese Arbeit nicht berücksichtigter Streitpunk zur Verfügbarkeitsheuristik stellt die Frage danach, inwiefern eher die Abrufflüssigkeit oder aber die Abrufhäufigkeit von Ereignissen mehr Einfluss auf das Verfügbarkeitsphänomen und resultierende Fehlentscheidungen hat, dar. Sie wird aber - mit dem Ergebnis, dass es eher die Abrufflüssigkeit ist, die entschiedener Einfluss nimmt - ausführlich von Kahnemann (2011) ab. S. 166 oder von Beck (2014) ab S. 42 erörtert.
6 Vgl. hierzu die detaillierten Ausführungen zu dem „Linda-Experiment“ von Kahnemann und Tversky in Kahnemann 2011, S, 195 ff.