Dass die Geschlechterforschung auch für die Naturwissenschaften - und hierbei vor allem für die Biologie - relevant ist, ist eine Tatsache, die erst allmählich in das Bewusstsein von Forschenden gelangt. Auch in der Paläontologie erscheint es zunächst widersinnig, dass die Kategorie Geschlecht bei der wissenschaftlichen Betrachtung ausgestorbener Tierarten von Bedeutung sein könnte. Dennoch existieren Zusammenhänge zwischen sozialen Konstruktionen von Geschlecht, die auf Forschende einwirken, und der Darstellungsweise prähistorischer Lebenswelten.
Am Beispiel der Dinosaurier soll diese Arbeit ebensolche Zusammenhänge aufzeigen und analysieren. Hierbei ist nicht nur der wissenschaftliche Diskurs innerhalb der Paläontologie Gegenstand der Untersuchungen, sondern auch die zeitgenössische Darstellung der "Urzeit-Echsen". Dinosaurier sind zwar ausgestorben, allerdings sind sie dennoch ein Teil unserer Alltagswelt und prägen diese wie auch unsere Sicht auf sie von unserem alltäglichen gesellschaftlichen Miteinander bestimmt wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kontextualisierung von Geschlecht bei Dinosauriern
3. Heteronormativität und Androzentrismus in der Paläontologie
3.1 Nomenklatur
3.2 Archaisierung der prähistorischen Lebenswelt
4. Repräsentation von Geschlecht bei der medialen Darstellung von Dinosauriern
4.1 Reproduktion von Rollenkonstruktionen durch Dinosaurier
4.2 Erziehungsarbeit und „Mutterinstinkt“
5. Anknüpfungspunkte für dekonstruktivistische Ansätze
6. Fazit
7. Bibliographischer Apparat
7.1 Literatur
7.2 Videolinks
7.3 Tabellen
1. Einleitung
In den Naturwissenschaften ist die Geschlechterforschung noch nicht sehr breit vertreten. Dass biologische Sachverhalte allerdings häufig unter der Einwirkung von Androzentrismus und Heteronormativität beschrieben werden, wird aber immer deutlicher. So wies Ah-King (2012) am Beispiel einer Beschreibung des Verhaltens von Bonobos nach, dass dieselben Verhaltensweisen anders gedeutet werden – abhängig davon, welches Geschlecht das Verhalten an den Tag legt (vgl. Parish und de Waal 2000). Wie sieht es nun aber mit ausgestorbenen Tierarten aus, die sich der Beobachtung durch Forschende entziehen? Hat das Wegfallen der Deutungsebene, die durch Interpretation von Beobachtungen geschaffen wird, in der notwendigerweise auch soziale Geschlechterkonstruktionen mit einfließen, automatisch mehr Objektivität in der Bewertung von Verhaltensweisen zur Folge? Oder bleiben soziale Konstruktionen und Heteronormativität hierbei eventuell auf einer subtileren Art und Weise wirkmächtig?
Um diesen Fragen nachzugehen, betrachtet die hier vorliegende Hausarbeit die geologische Ära des Mesozoikums – also von der Jura bis zur Kreidezeit. Folglich spielen Dinosaurier in den hier angestellten Betrachtungen die zentrale Rolle. Es erfolgt eine Betrachtung auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Zuerst soll der wissenschftliche Diskurs über Dinosaurier untersucht werden und inwiefern man in diesem heteronormative und/oder androzentristische Deutungsmuster aus der Welt der Menschen wiedererkennen kann. Die Wahl fiel nicht willkürlich auf genau diese erdgeschichtliche Periode. Denn Dinosaurier sind die besterforschtesten Lebewesen vor dem Auftreten des Menschen, weshalb menschengemachte Konstruktionen wohl am ehesten bei ihnen sichtbar werden dürften. Darüber hinaus wurden Dinosaurier auch erheblich öfter in den Medien rezipiert, als andere ausgestorbene Tierarten. Es existiert erheblich mehr Filmmaterial, das die „Urzeit-Echsen“ zum Thema hat, als beispielsweise die Tiere der Eiszeit. Dieses Material wird im zweiten Schritt in diese Arbeit einfließen, da es einen leicht nachzuvollziehenden Einblick in die heutige Darstellungsweise von Dinosauriern in der Populärkultur gewährt. Hierbei werden sowohl Dokumentationen mit Bildungsanspruch, als auch eher belletristische Produktionen mit Dinosauriern zum Thema in die Analyse mit einfließen. Als letztes soll noch kurz der Blick auf eventuell vorhandene Anknüpfungspunkte für die Theorie des Dekonstruktivismus gelenkt werden.
Bevor jedoch auf die Hauptaspekte der Untersuchung eingegangen werden kann, ist es vonnöten, das Verhältnis von Geschlecht und Dinosauriern als solches zu klären. Der folgende Abschnitt ist als eine Einführung hierfür gedacht, auf dessen Basis die nachfolgenden Überlegungen aufbauen.
2. Kontextualisierung von Geschlecht bei Dinosauriern
Die Feststellung des Geschlechts gestaltet sich bei Dinosauriern äußerst schwierig. Als Forschungsgegenstand stehen ausschließlich versteinerte Fossilien zur Verfügung, sodass lediglich Knochen, jedoch keine Weichteile oder ähnliches erhalten sind. Vereinzelt existieren sogenannte „Dinosaurier-Mumien“, bei denen aufgrund besonderer Umstände bei der Mineralisierung der Überreste noch Hautabdrücke und einzelne Weichteile erhalten sind (vgl. Bell et al. 2014), doch für die überwältigende Mehrheit an Gattungen, bleibt das Aussehen bzw. die Ausprägung von primären und sekundären Geschlechtsteilen im Dunkeln (vgl. Mallon 2017). Dies hat zur Folge, dass basale Erkenntnisse – etwa zur Fortpflanzung von Dinosauriern – schlicht fehlen.
Obwohl also Geschlechtsdimorphismen durchaus bei den engsten heute noch lebenden Verwandten der Dinosaurier, den Vögeln und Krokodilen, vorkommen, sind die Dinosaurier selbst eine „tabula rasa“, was die Unterscheidung der verschiedenen Geschlechter angeht. Es herrscht zumeist vollkommene Unklarheit darüber, ob Aussehen und Verhalten je nach Geschlecht innerhalb einer Gattung divergierten. Folglich können auch keine Aussagen darüber getroffen werden, ob es eine Art von „Arbeitsteilung“ – etwa im Bereich der Nahrungsbeschaffung oder Brutpflege – gab. Es ist wichtig diese Erkenntnis im Verlauf dieser Arbeit im Hinterkopf zu behalten.
Aus sozialwissenschftlicher Perspektive ergibt sich nun eine interessante Betrachtungsweise in Folge des oben beschriebenen Umstandes. Denn bei der Betrachtung von Tieren wird die gesellschaftlich höchst relevante Kategorie Geschlecht stets mit berücksichtgt. Haraway (1989) etwa wies nach, dass Interpretationen der Tierwelt stets von der gerade aktuellen gesellschaftlichen Ideologie abhängig sind. Da im Wissen über Dinosaurier aber nun so viele Lücken existieren und Beobachtungen auf die Analyse fossiler Überreste beschränkt sind, steht die Forschung vor einem Problem. Es gibt keine Verhaltensweisen mehr, die unmittelbar beobachtbar sind und dementsprechend interpretiert werden können. Diese Schwierigkeit haben schon Berger und Luckmann (1992, 37f.) für die Ethnologie und die antropologische Archäologie beschrieben. Sie ist allerdings hiernach leicht zu lösen, weil jede Person „aus einem Artefakt auf eine subjektive Intention von Menschen schließen kann“, also in der Lage ist, von einem Zeichen oder Gegenstand unter Zugriff auf das eigene Alltagswissen die (gesellschaftliche) Funktion desselben abzuleiten. Dieser Ansatz lässt sich ebenfalls auf die Paläontologie erweitern, auch wenn man es hier nicht mit Artefakten von Menschen zu tun hat. Denn auch fossile Überreste müssen auf irgendeine Weise (meistens durch Sprache) beschrieben und somit in den Bedeutungskontext der Alltagswelt eingebettet werden, damit sie „real“ sind (vgl. ebd., 37). Folgt man nun noch den Ausführungen Haraways (1985), wonach es keine objektiven Standpunkte, sondern nur „situiertes Wissen“ gebe, es also wichtig sei, von wem Forschungsuntersuchungen getätigt und Daten interpretiert werden, ergibt sich folgendes Bild: Die Menschen, die Dinosaurier erforschen, unterliegen in der Art und Weise des Beschreibens der prähistorischen Welt stets ihrer Alltagswelt und somit auch den dort wirksamen Konstruktionen. Es bietet sich daher an, die Lücken im Wissen über Dinosaurier mit Alltagswissen zu füllen, wobei auch immer die individuellen Deutungen des beschreibenden Subjekts zu berücksichtigen sind. Aus der Tatsache, dass nichts über das Geschlecht von Dinosauriern bekannt ist, ergibt sich also die Möglichkeit, eigene Konstruktionen von Geschlecht auf diese Lebewesen zu projezieren. Obwohl sie also ausgestorbenen sind, sind Dinosaurier teil unserer Alltagswelt und ihre Darstellungsweise reproduziert die innerhalb dieser wirkenden Strukturen.
3. Heteronormativität und Androzentrismus in der Paläontologie
Im Kontext einer Wissenschaft, die sich mit ausgestorbenen Tieren beschäftigt, erscheint es zunächst verwirrend von Heteronormativität und Androzentrismus zu sprechen. Allerdings unterliegen – wie der vorige Abschnitt gezeigt hat – auch diese Lebewesen menschengemachten Geschlechterkonstruktionen, die sich in ihrer Beschreibung zeigen lassen. Während Heteronormativität vor allem in der Nomenklatur von Dinosauriern zum Vorschein kommt, äußert sich Androzentrismus in der Paläontologie in der Tatsache, dass uns beinahe ausnahmslos Männer den Erkenntnisstand zum Mesozoikum erklären, was unmittelbar auf die Konstruktion der Lebenswelt und -weise der Dinosaurier abfärbt.
3.1 Nomenklatur
Inwieweit kann die Bennenung von Dinosauriern von Heteronormativen Vorstellungen innerhalb einer Gesellschaft zeugen? Begreift man Heteronativität als „apriorische Kategorie des Verstehens“ (Wagenknecht 2007, 18), in der Individuuen „anhand vermeintlich bipolarer körperlicher Merkmale in zwei vorgegebene […] Geschlechtsklassen eingeteilt werden“ (Rakebrand 2012, 1), wird deutlich, dass es sich hierbei um eine Struktur handelt, die das Denken von Subjekten als solches beeinflusst. Folglich beschränkt sich Heteronormativität in ihrer Wirkung nicht nur auf die Wahrnehmung menschlicher Individuuen innerhalb einer Gesellschaft. Vielmehr konstruiert sie eine Denk- und Betrachtungsweise, in der auch nicht-menschliche Lebewesen in ein binäres System gezwängt werden. Ein Beispiel in der Biologie hierfür ist die Bezeichnung von „männlichen“ und „weiblichen“ Bakterien auf Basis von Übertragung und Annahme von Genmaterial, obwohl die klassische biologische Definition von Geschlechtern (Produktion von Eiern bzw. Spermien) nicht auf Bakterien zutrifft (kritisch: Spanier 1995).
Nun wird Dinosauriern zwar nicht zu unrecht eine Geschlechtlichkeit zugeschrieben, jedoch offenbart die Art und Weise ihrer Benennung die heteronormative Prägung ihrer Entdecker*innen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist Maiasaura. Es ist der wohl feminisierteste Gattungsname eines Dinosauriers – nicht nur aufgrund seiner Bedeutung „Gute-Mutter-Echse“. Der erste Teil des Namens ist von der griechischen Göttin Maia, die vor allem aufgrund ihrer Rolle als Mutter des Hermes verehrt wurde (vgl. Grant und Hazel 2002, 210), abgeleitet. Noch interessanter ist allerdings der zweite Teil des Gattungsnamens: In der sonst für Dinosaurier üblichen lateinisierten Form des altgriechischen Wortes für „Echse“ nämlich „-saurus“ wurde bewusst die männliche Endung -us durch das weibliche -a ersetzt (Horner und Makela 1979). Nun stellt sich die Frage, welche Intention die Benennenden von Maiasaura mit dieser stark feminiserten Bezeichnung verfolgten respektive worin die Gründe dafür lagen. Hierzu ist wichtig zu wissen, dass Maiasaura der erste Beleg dafür war, dass auch größere Dinosaurier ihre Jungen nach dem Schlüpfen ernährten und beschützten, da Skelette von Jungtieren innerhalb von Nestern entdeckt wurden. Maiasaura betrieb folglich aktive Brutpflege und überließ die Jungen nicht nach der Geburt ihrem Schicksal (Dodson et alt. 1994, 116f.).
Dieser Fakt hat Horner und Makela offensichtlich dazu bewogen, den von ihnen entdeckten Dinosaurier „weiblich“ zu benennen. Der Grund hierfür ist leicht zu erkennen: In der westlichen Welt wird die Kinderbetreuung mehrheitlich von Frauen erledigt. Folglich ist die Carearbeit für den Nachwuchs weiblich konnotiert und die Bennenung dieses Dinosauriers als Mutter lag nahe.
Bezeichnenderweise kann man die Beispiele anderer Dinosaurier, die eine weibliche Endung im Namen haben, an einer Hand abzählen. Leaellynasaura etwa wurde nach der Tochter ihrer Erstbeschreiber*innen benannt (vgl. Rich/Rich 1989, 21). Daher liegt die Vermutung nahe, dass man sich bei der Benennung des Dinosauriers am Geschlecht der Tochter orientiert hat. Die einzige Benennung, bei der sich für eine weibliche Endung entschieden wurde, obwohl keine weibliche Bezugsperson oder „Verhaltensweise“ dazu existiert, ist gleichzeitig eine sehr neue Entdeckung. Van der Reest und Currie beschrieben anhand alter Fossilbestände Latenivenatrix – versteckte Jägerin. Die Autoren geben keinerlei besonderen Grund für die Feminisierung der sonst üblichen Endung -venator an. In ihrer Arbeit heißt es lediglich zur Erklärung des zweiten Namensteils: „‘Hunter’ refers to it being carnivorous“ (van der Reest/Currie 2017, 929). Es hatte also von der ersten Beschreibung eines Dinosauriers 1821 an beinahe 200 Jahre gedauert, bis eine neue Gattung einen weiblichen Namen ohne besonderen Grund erhielt.
3.2 Archaisierung der prähistorischen Lebenswelt
Ausgehend vom Aspekt der Nomenklatur lässt sich ein weiterer elementarer Bestandteil der androzentristischen Darstellungsweise der Lebenswelt der Dinosaurier feststellen: Ein Tunnelblick, der die Existenz der Saurier auf bloßes Bekämpfen und gegenseitiges Töten reduziert. Bereits die Bezeichnung Dinosaurier als „schreckliche Echse“ an sich zeigt, dass diese Tiere anders wahrgenommen werden als eine Vielzahl anderer Lebewesen, die die Erde bevölkert haben oder dies immer noch tun. Vor allem bei carnivoren Sauriern finden sich Namen, die Adjektive wie schrecklich (Deinonychus), furchteinflößend (Tarbosaurus) oder furchtbar (Daspletosaurus) beinhalten. Sicherlich resultieren diese Namen aus den teils riesenhaften Maßen der Fossilien und dem gefährlichen Aussehen der Zähne und Krallen. Allerdings suggeriert diese Benennung ein Bild dieser Saurier als durch die Gegend tobende Meuchelmörder, die sie aller Voraussicht nach genauso wenig waren wie heutige Raubtiere. Die Fokussierung auf den „Kampf der Giganten“ macht derweil auch nicht vor herbivoren Dinosauriern Halt. So existiert etwa eine Fernsehdokumentation mit dem pathetischen Titel „Dinosaurier – Die Pflanzenfresser schlagen zurück“, in der einzig und allein vorgestellt wird, wie der Körperbau von pflanzenfressenden Sauriern zur Verteidigung gegen Raubsaurier genützt haben könnte (vgl. Bleistift, 2015).
Die Frage ist nun, weshalb archaische Deutungen vor dem Hintergrund vom „Kampf ums Überleben“ eine so dominierende Rolle im Diskurs über Dinosaurier einnehmen. Hier kommt erneut das situierte Wissen ins Spiel. Denn innerhalb der Paläontologie wird entdeckt, untersucht und publiziert – jedoch in einem Großteil der Fälle von Männern. Auch hier wirkt sich das Geschlecht der Forschenden darauf aus, was erforscht wird, nicht zuletzt wenn man bedenkt, für welche Zielgruppe geforscht wird (immer noch ist z.B. das Spielen mit Dinosaurier-Figuren im Kindesalter männlich konnotiert). Folglich erklären Männer Dinosaurier für Männer. So erscheint es plausibel, dass Männer, die sich in einer Alltagswelt befinden, in der Konstruktionen wie Kampf, Heroismus oder Stärke männlich konnotiert sind, diese Deutungsmuster (unbewusst) auf das von ihnen Untersuchte übertragen. Dies ist wahrscheinlich mit eine Erklärung dafür, weshalb etwa das Sozialverhalten von Dinosauriern langezeit im wissenschaftlichen Diskurs allenfalls eine marginale Rolle spielte und Dinosaurier stattdessen „traditionsgemäß nicht zu den sozial lebenden Tieren gezählt“ (Lockley 1993, 106) wurden. Dabei wurden bereits 1941 erste nachhaltige Indizien dafür entdeckt, dass Dinosaurier auch in Herdenverbänden gelebt haben. Die damals von Roland T. Bird veröffentlichten Untersuchungen von Sauropodenfährten wurden allerdings erst ca. 30 Jahre später wieder aufgegriffen (vgl. ebd.).
Ein weiteres anschauliches Beispiel für eine Archaisierung des Mesozoikums zulasten einer ausgewogenen Forschungsarbeit ist das sogenannte „ Late Cretaceous All-Star Game “ (Fastovsky/Weishampel 2005, 171). Dieser Begriff beschriebt den klassischen Zweikampf zwischen den beiden bekanntesten Dinosauriergattungen überhaupt: Tyrannoaurus und Triceratops. Es kann wohl kaum bezweifelt werden, dass genau diese Auseinandersetzung den meisten Menschen in den Sinn kommt, wenn sie an Dinosaurier denken, da sie auch nicht zuletzt in den zeitgenössischen Darstellungen sehr häufig rezipiert wird. Dumm nur, dass der Kampf zwischen einem T-Rex, der den Pflanzenfresser durch einen Nackenbiss zur Strecke bringen und dem Triceratops, der sich durch seine Hörner und den Nackenschild verteidigen will, sehr wahrscheinlich nie in dieser Form stattgefunden hat. Denn neben der Tatsache, dass die Nackenschilde viel zu dünn waren, um ein wirksamen Verteidigungsinstrument darzustellen, waren auch die Hörner eher ungeeignet, um sich Feinde vom Leib zu halten. Horner und Goodwill stellen in der Dokumentation „Dinosaurs decoded“ fest, dass die Hörner bei Benutzung im Kampf aufgrund innerer Hohlräume eher abbrechen würden. Solche Bruchstellen seien jedoch in den fossilen Überresten nicht zu finden. Zudem sei es rein physikalisch bereits ungünstig, die Hörner zur Verteidigung zu nutzen, da größere Raubtiere bei einem Treffer direkt auf den Kopf des Triceratops fallen würden (deutsche Version „Dinosaurier - wie sie wirklich lebten“; DOCUNET Deutschland 2014, 11:40 – 12:33). Es erscheint daher wahrscheinlicher, dass die Hörner bei Rangordnungskämpfen zum Einsatz kamen (Fastovsky/Weishampel 2005, 174f) oder – gänzlich unspektakulär – dem bloßen Erkennen von Artgenoss*innen dienten (Dodsen et alt. 2004, 512f). Dennoch hält sich das Bild der auf Leben und Tod kämpfenden Urzeitgiganten und wird z.B. auch in der bereits erwähnten N24-Dokumentation weiterhin proklamiert. Bezeichnenderweise geben in dieser Dokumentation auch nur männliche Paläontologen ihre Einschätzung ab und geraten dabei regelrecht ins Schwärmen über den „epischen“ Kampf der Giganten. Auffällig ist hierbei vor allem die Tatsache, dass immer wieder betont wird, wie gefährlich und tödlich ein Triceratops war. Beinahe so, als wäre dies eine bewundernswerte Leistung (Bleistift 2015, 4:10 – 11:30). Folglich darf also auch einem pflanzenfressenden Triceratops keine „Schwäche“ – in dem Sinne, dass keine direkte Konfrontation mit Raubtieren gesucht wurde – eingestanden werden. Vielmehr wird die prähistorische Welt auf einen permanenten Kampf auf Leben und Tod überhöht. Dieser Kampf als solches hat zwar sicherlich stattgefunden, war aber keineswegs der allesumfassende Lebensinhalt der Dinosaurier. Allerdings schwingt in dieser Darstellungsweise natürlich auch immer das Motiv vom „Überleben des Stärksten“ mit – einem typischerweise männlich konnotierten Leitspruch.
4. Repräsentation von Geschlecht bei der medialen Darstellung von Dinosauriern
Nachdem bisher das Hauptaugenmerk dieser Arbeit auf den wissenschaftlichen Zweig der Paläontologie gelegen hat, soll nun der Fokus stärker auf die zeitgenössische mediale Präsenz von Dinosauriern gelegt werden. Hierzu sollen verschiedene Dokumentationen aber auch die Anime-Serie „Dinosaur King“ hinsichtlich der Darstellung von Dinosauriern und ihrer Verquickung mit der Kategorie Geschlecht analysiert werden.
4.1 Reproduktion von Rollenkonstruktionen durch Dinosaurier
Es wurde bereits gesagt, dass sich das Geschlecht von Dinosauriern anhand von Fossilien nicht bestimmen lässt. Da die Tiere aber dennoch ein Teil unserer Alltagswelt sind, können sie trotzdem zur Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen beitragen. Im Bereich der Medien kann dies im Hinblick auf die Konstruktion von Geschlecht immer dann der Fall sein, wenn Dinosauriern eine Geschlechtlichkeit zugeordnet wird. Dies trifft u.a. in der Anime-Serie „Dinosaur King“ zu. In der für Kinder produzierten Serie müssen die Kinder vom „D-Team“ in die Jetzt-Zeit teleportierte Dinosaurier vor der „Alpha-Gang“ beschützen, die diese fangen und für niedere Zwecke missbrauchen wollen. Jedes Team umfasst jeweils (neben einigen Neben-Charaktären) drei Haupt-Mitglieder, von denen jede*r einen eigenen Dinosaurier besitzt, der zum Kämpfen (siehe Abschnit 3.2) beschworen werden kann. Dementsprechend häufig kommt es in der Serie zu Zusammenstößen zwischen den Dinosauriern des D-Teams und denen der Alpha-Gang und im Normalfall bekämpfen jeweils beide Teams während einer Folge einen „wilden“ Dinosaurier, der in die heutige Zeit teleportiert wurde. Auf rein deskriptiver Ebene lässt sich zunächst folgendes festellen: Von den sechs „persönlichen“ Dinosauriern sind vier (Ace, Terry, Chomp und Spiny) männlich und zwei weiblich (Paris und Tank), wobei Saichania Tank hier einen Sonderfall darstellt. Das Geschlecht von Tank wird nämlich je nach Sychronisation der Serie unterschiedlich festgelegt. Während der Dinosaurier in der deutschen Version durchgängig männlich gelabelt wird, ist dies in der englischen Version nur in Tanks Debütfolge ebenfalls der Fall. Danach wird allerdings nur noch das Pronomen „she/her“ verwendet.
Die Spezien, denen Tank als Dinosaurier der Alpha-Gang und Paris, ein Parasaurolophus, auf Seiten des D-Teams angehören, ernährten sich von Pflanzen. Sämtliche Raubsaurier (Terry, Ace und Spiny) sind also männlich gelesen. Geht man nun eine Ebene weiter und schaut sich an, wie oft die jeweiligen Dinosaurier in Kämpfen eingesetzt werden, erkennt man ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Paris und Tank sind die jeweils am wenigsten eingesetzten Dinosaurier ihres Teams (eigene Erhebung; siehe Tabelle 1)1 Selbst wenn man Tank aufgrund der unterschiedlichen Labelung ausklammert, bleibt die Tatsache, dass vier definitiv männliche Dinosaurier häufiger kämpfen als ein weiblicher. Unklar bleibt, in welche Richtung dieser Effekt wirkt, also ob weibliche Saurier so wenig eingesetzt werden, weil sie weiblich sind, oder ob sie weiblich determiniert wurden, weil sie seltener in Kämpfen auftauchen. Allerdings resultiert dieser Umstand wohl kaum aus einem Zufall, sondern ist ein Produkt der innerhalb der Gesellschaft wirkenden Geschlechterkonstruktionen. Neben der Quantität unterscheiden sich die Kämpfe weiblicher Dinosaurier auch in der Qualität von denen ihrer männlichen Pendants. Vor allem das Kampfverhalten von Paris ist etwas besonderes. So beschwört sie etwa als einziger Dinosaurier regelmäßig andere Dinosaurier als „Unterstützung“ herauf und wird nur relativ selten selbst physisch aktiv. Paris' Passivität äußert sich zudem in besonderer Weise in Folge 25. Dort wird sie nämlich eigentlich für einen Kampf beschworen, ihre einzige Handlung besteht allerdings darin, sich von einem anderen Dinosaurier vor einem Angriff retten zu lassen (vgl. Boa Hancock 2014a, 15:01-17:31). Generell dauern die Kampfsequenzen von Paris auch nicht sehr lange, was einfach daran liegt, dass sie häufig mit einem Schlag ausgeschaltet wird (vgl. z.B. Boa Hancock 2014b, 17:47-18:04; Boa Hancock 2014c, 12:48-13:38) oder wie in Folge 43 lediglich beschworen wird, damit ihre Freunde wissen, wo sie steckt, zu Hilfe kommen können und dann den Kampf übernehmen (Boa Hancock 2014d, 11:21-14:47). Der Grund hierfür könnte sein, dass Kämpfen und Stärke beweisen immer noch traditionell männlich besetzte Handlungen sind, die bei weiblichen Subjekten eher als unpassend angesehen werden. Interessanterweise ist diese klassische Aufteilung bei den menschlichen Protagonist*innen der Serie weniger ausgeprägt. So ist etwa innerhalb der Alpha-Gang Ursula diejenige, die ihre männlichen Teammitglieder herumkommandiert. Gleichzeitig beschwört sie am häufigsten den Tyrannoaurus Terry in Kämpfen. Eines der Symbole für Kampf und Tod innerhalb der Paläontologie steht in dieser Serie also zumeist unter der Kontrolle einer Frau.
Etwas subtiler – wenngleich nicht weniger stark ausgeprägt – gestaltet sich die Reproduktion von Geschlechterkonstruktionen in Dokumentationen. Ein besonders anschauliches Beispiel bildet in dieser Hinsicht die vierteilige Reihe „Die letzten Jahre der Dinosaurier“ (Originaltitel „Dinosaur Planet“; Serien und Dokus 2014 (sämtliche Teile in einem Video)). Es handelt sich hierbei um keine Dokumentation im klassischen Sinne, da hier in jedem Teil fiktive Geschichten verschiedener Dinosaurier-Charaktere erzählt werden. Auf das Einspielen von Expert*innenmeinungen von Paläontolog*innen wird im Gegensatz zu den meisten Dokumentationen in diesem Bereich verzichtet. Somit entsteht deutlich mehr Spielraum für die Inszenierung der jeweiligen Rollen, die die Dinosaurier in ihren Geschichten spielen, was auch die im Hintergrund wirkenden sozialen Konstruktionen besser zur Geltung kommen lässt.
Betrachtet man zunächst erneut lediglich die geschlechtliche Zusammensetzung der Hauptprotagonist*innen ergibt sich ein ähnliches Bild zu „Dinosaur King“: Bis auf eine Ausnahme sind sämtliche Raubsaurier mit einer führenden Rolle in einem der Teile männlich (Pyroraptor Pod, Aucasaurus Dragonfly und Daspletosaurus Das). Das Muster, dass carnivore Dinosaurier in der medialen Darstellung so häufig männlich sind, hat seinen Ursprung in der oben bereits beschriebenen Deutung jener als „Killermaschinen“. Denn so wie Kämpfen als Männerdomäne gilt, so wird auch das Töten – das nun einmal zum Dasein eines carnivoren Dinosauriers dazgehört hat - nicht unbedingt mit Weiblichkeit assoziiert. Die Tatsache, dass mit dem Velociraptor „White Tip“ nun auch ein weiblicher fleischfressender Dinosaurier als Hauptcharakter in einem Film auftritt ändert nur bedingt etwas an dieser Konstruktion. Denn auch wenn White Tips weibliches Geschlecht zunächst untypisch erscheint, findet sich doch schnell ein Grund, der diesen Umstand plausibel zu erklären vermag: Zentral für den Teil, in dem White Tip mitspielt, sind nämlich ihr Sozialleben im Rudel und ihre Rolle als Mutter. So bebrütet sie im Film etwa ihre Eier, obwohl wie bereits gesagt keinerlei Sicherheit darüber besteht, dass bei den Dinosauriern die Weibchen hierfür zuständig waren. Ein Hinweis hierauf unterbleibt (Serien und Dokus 2014, 2:41:30 – 2:41:46). Zudem findet sie am Ende des Films in ihrem Nachwuchs den Ersatz für ihr durch einen Unfall verstorbenes Rudel (ebd. ab 2:58:04). Die Konstruktion des männlichen Killers ist also von der der behütenden Mutter überlagert worden. Besonders diese Mutterrolle soll uns im nächsten Absatz weiter beschäftigen.
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1 Datenbasis waren die 49 Folgen der ersten Staffel der Serie. Ein Link zur Überischt folgt in den Literaturangaben unter 5.2.