Obwohl soziale Bewegungen allgemein bereits im Jahr 1989 als ein etablierter Bestandteil des wissenschaftlichen Themenkanons in der soziologischen Forschung galten gibt es bislang keine repräsentative Studien über die Bleiberechtsbewegungen im speziellen. Dies verwundert angesichts einer breiten Debatte des Themas Flucht und Asyl in der
deutschen Öffentlichkeit. Ob in Blogeinträgen, Fernsehsendungen, Wahlkämpfen, auf Demos, seitens der Wirtschaft und Politik oder in rechtsoffenen Zusammenschlüssen, wie HogeSa oder Pegida, wird mal populistisch, mal differenziert die Frage nach einer Daseinsberechtigung von fremden Menschen in diesem Land thematisiert. Eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erhalten in diesem Kontext zum einen Geschehnisse, die mit Aggression oder Gewalt verbunden sind, wie z.B. die Ausschreitungen in den frühen neunziger Jahren, das Sterben der Boatpeople im Mittelmeerraum oder der Misshandlung von Flüchtlingen von Secruity-Personal und zum anderen Diskussionen, die Stereotype von Geflüchteten zeichnen und ihnen „kriminelles Verhalten“ oder „Asylmissbrauch“ vorwerfen.
Die folgende Betrachtung soll sich dem Thema in keiner dieser Betrachtungsweisen nähern, sondern die Bedeutung von Bleiberechtskämpfen an sich und für die Soziale Arbeit in den Fokus rücken und so einen Beitrag zur Umsetzung einer Sozialen Arbeit leisten, die sich zwischen individuellen Lebenslagen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen einordnet.
In der vorliegenden Arbeit werden daher Bleiberechtskämpfe zum Zentrum der Betrachtung gemacht. Dabei wird zunächst der Begriff „Soziale Bewegungen“ definiert, deren Merkmale herausgestellt und im Verhältnis zur Sozialen Arbeit betrachtet. Darauf folgt eine Beschreibung der spezifischen Situation von Geflüchteten. Anknüpfend an ihre rechtlichen Einschränkungen wird zu den Bleiberechtskämpfe übergeleitet. Hierbei wird die Geschichte beleuchtet, deren Akteure benannt, ihre Aktionsformen, sowie ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Sozialen Bewegungen herausgestellt. Anschließend werden bestehende Verbindungen zwischen der Sozialen Arbeit und dem Bleiberechtsaktivismus vorgestellt und auf ihre Möglichkeiten und Grenzen hin geprüft. Den Abschluss bilden Forderungen, die als mögliche Konsequenzen für die Soziale Arbeit, in Form einer politischen Positionierung, ins Feld geführt werden.
Einleitung
1. (Neue) SozialeBewegungen
1.1 Definition
1.2 Merkmale
1.3 Verhältnis zur Sozialen Arbeit
2. Situation der Geflüchteten
2.1 Definitionen
2.2 Situation weltweit und in Deutschland
2.3 rechtliche Situation
3. Bleiberechtskämpfe
3.1 Forderungen
3.2 Historie
3.3 Organisationsformen
3.4 Aktionsformen
3.5 Erfolge
3.6 Vergleich mit anderen sozialen Bewegungen
4. Möglichkeiten und Grenzen eines Zusammenwirkens von Aktivismus und Sozialer Arbeit
4.1 Praxisbeispiel: GGUAe.V. - Flüchtlingshilfe ausMünster
4.2 Möglichkeiten des Zusammenwirkens von Bleiberechtsaktivismus und Sozialer Arbeit
4.3 Grenzen des Zusammenwirkens von Bleiberechtsaktivismus und Sozialer Arbeit
5. Konsequenzen für die Soziale Arbeit
Einleitung
Obwohl soziale Bewegungen allgemein bereits im Jahr 1989 als ein etablierter Bestandteil des wissenschaftlichen Themenkanons in der soziologischen Forschung galten (vgl. Ahlemeyer, 1989, S.175) gibt es bislang keine repräsentative Studien über die Bleiberechtsbewegungen im speziellen. Dies verwundert angesichts einer breiten Debatte des Themas Flucht und Asyl in der deutschen Öffentlichkeit. Ob in Blogeinträgen, Fernsehsendungen, Wahlkämpfen, auf Demos, seitens der Wirtschaft und Politik oder in rechtsoffenen Zusammenschlüssen, wie HogeSa oder Pegida, wird mal populistisch, mal differenziert die Frage nach einer Daseinsberechtigung von fremden Menschen in diesem Land thematisiert. Eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erhalten in diesem Kontext zum einen Geschehnisse, die mit Aggression oder Gewalt verbunden sind, wie z.B. die Ausschreitungen in den frühen neunziger Jahren, das Sterben der Boatpeople im Mittelmeerraum oder der Misshandlung von Flüchtlingen von Secruity-Personal und zum anderen Diskussionen, die Stereotype von Geflüchteten zeichnen und ihnen „kriminelles Verhalten“ oder„Asylmissbrauch“ vorwerfen (vgl. Niedrig/Seukwa, 2010, S.183f.).
Die folgende Betrachtung soll sich dem Thema in keiner dieser Betrachtungsweisen nähern, sondern die Bedeutung von Bleiberechtskämpfen an sich und für die Soziale Arbeit in den Fokus rücken und so einen Beitrag zur Umsetzung einer Sozialen Arbeit leisten, die sich zwischen individuellen Lebenslagen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen einordnet.
In der vorliegenden Arbeit werden daher Bleiberechtskämpfe zum Zentrum der Betrachtung gemacht. Dabei wird zunächst der Begriff „Soziale Bewegungen“ definiert, deren Merkmale herausgestellt und im Verhältnis zur Sozialen Arbeit betrachtet. Darauf folgt eine Beschreibung der spezifischen Situation von Geflüchteten. Anknüpfend an ihre rechtlichen Einschränkungen wird zu den Bleiberechtskämpfe übergeleitet. Hierbei wird die Geschichte beleuchtet, deren Akteure benannt, ihre Aktionsformen, sowie ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Sozialen Bewegungen herausgestellt. Anschließend werden bestehende Verbindungen zwischen der Sozialen Arbeit und dem Bleiberechtsaktivismus vorgestellt und auf ihre Möglichkeiten und Grenzen hin geprüft.
Den Abschluss bilden Forderungen, die als mögliche Konsequenzen für die Soziale Arbeit, in Form einer politischen Positionierung, ins Feld geführt werden.
1. (Neue) Soziale Bewegungen
1.1 Definition
Die Definition, die an dieser Stelle übernommen wird, stammt von Kolb und setzt sich aus der breit rezipierte Definition Raschkes aus dem Jahr 1988 (vgl. Wagner, 2009, S. 10) und dem von Guisfield im Jahr 1981 herausgestellten zentralen Merkmal von Sozialen Bewegungen zusammen (vgl. Kolb, 2002, S.9f.):
„Eine soziale Bewegung ist ein Netzwerk bestehend aus Organisationen und Individuen, das auf Basis einer geteilten kollektiven Identitätmit Hilfe von überwiegend nicht-institutionalisierten Taktiken versuch. sozialen,politischen, ökonomischen oder kulturellen Wandel herbeizuführen, sich ihm zu widersetzen oder ihn rückgängigzu machen.“ (Kolb, 2002, S.10)
Ergänzend hierzu bleibt festzuhalten, dass in Abgrenzung zu den klassischen sozialen Bewegungen die Neuen Sozialen Bewegungen erst ab den 1960er Jahren entstanden sind (vgl. Brunnengräber, 2006, S.18).
1.2 Merkmale
Die Merkmale Sozialer Bewegungen geben Aufschluss über immer wiederkehrende Muster, die sich themenübergreifend zeigen und sowohl in den klassischen sozialen Bewegungen, wie auch den Neuen Sozialen Bewegungen zu finden sind. politischer Protest und die Forderung nach Veränderung Soziale Bewegungen haben immer ein politisches Moment. Sie verweisen nicht nur auf soziale Probleme, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten und kritisieren diese, sondern stellen auch klare Forderungen an die Politik (vgl. Herriger, o.A., S.l).
Dabei erfolgt die Benennung des, ihren Erachtens bestehenden, sozialen Defizits im Rahmen eines hervorgebrachten Protests. Diese artikulierte Unzufriedenheit ist das Mittel zum politischen Entscheidungsprozess (vgl. Kolb, 2002, S.50). Um mehr zu sein, als ein bloßes Protestereignis muss er über einzelne Aktionen hinaus bestehen, somit eine gewisse Kontinuität aufweisen und mit einem Gestaltungswillen nach sozialem Wandel verbunden sein (vgl. Roth, Roland/Rucht, Dieter, 2008, S.13).
Kennzeichnend für die Neuen sozialen Bewegungen, insbesondere der globalisierungskritischen, ist die Vertretung von moralischen Interessen anstelle der eigenen (vgl. Brunnengräber, 2006, S.18). Von zentraler Bedeutung ist hierbei das Herstellen und die Nutzung von Medien um den Konflikt zwischen herrschenden Verhältnissen und außerparlamentarischer Opposition in das öffentliche Bewusstsein zu tragen (vgl. Pfeiffer, 2000, S. 413).
Kampf um öffentliche Räume
Die weltweite Präsentation der Entschlossenheit und letztlich auch die Dokumentation und Skandalisierung von staatlichen Repressionen hilft um Solidarität zu werben und nötigt dem Staat Rechtfertigung ab (vgl. Winter, 1991, S.222). Die sozialen Bewegungen tragen ihren Protest aus unterschiedlichen Gründen in die Öffentlichkeit. Zum einen geht es darum das „Nicht-Einverstanden-sein“ zu präsentieren, Stärke zu demonstrieren und seinem Unmut kundzutun (vgl. Denk/Waibel, 2009, S.53; Schönberger/Sutter, 2009, S.20). Zum anderen wird im öffentlichen Raum für die Sache geworben und versucht Aktivistinnen zu „rekrutieren“ (vgl. Herriger, o.A., S.23). Der Kampf um einen öffentlichen Raum ist zudem ein symbolischer Kampf. Hier werden alternative Lebenskonzepte den etablierten gegenüber gestellt (vgl. Haunss, 2005, S.9). Durch den öffentlichen Protest soll die Zivilgesellschaft inhaltlich überzeugt werden um so Druck auf die Politik auszuüben (vgl. Crouch, 2013, S. 148). Dies geht mit kollektiven alternativen Problemdeutungsmustern einher und der Schaffung einer „Gegenöffentlichkeit“ einher (vgl. Herriger, o.A., S.12).
Gleichzeitig werden soziale Bewegungen allein durch die Mobilisierung aufrechterhalten, da sie aufgrund fehlender formeller Organisationsformen keine offiziellen Mitgliedschaften anbieten (vgl. Pfeiffer, 2000, S.24). Angestrebt wird daher eine möglichst große Teilnehmerzahl auf Demonstrationen und/oder aufDauer angelegte öffentliche Aktionen.
Solidarität
„Solidarität ist eine Waffe“ ist ein beliebter Slogan von Protestlern aus den unterschiedlichsten sozialen Bewegungen. Dies ist nicht nur eine Durchhalteparole um die eigenen Anhänger zu motivieren, sondern ein wichtiges Organisationsmerkmal von sozialen Bewegungen. Sie hat dabei zwei Komponenten. Zum Einen die moralische, welche wichtig für ein Kollektivbewusstsein ist und zum Anderen die organisatorische, die sich in Form von Arbeitsteilung ausdrückt (vgl. Dürkheim zit. In: Baurmann, o.A., S.87). Denn durch die Solidarität schaffen sich die Aktivistinnen unabhängige Räume, die sich dem Zugriff des Staates verweigern. Dies ist beispielsweise bei Besetzungen oder selbstverwalteten Zentren, wie der Roten Flora in Hamburg, ein probates Mittel (vgl. Rote Flora, 2013, S.l). Durch Nahrungsund Sachspenden von Außen können die Sachzwänge, die die Aktivistinnen normalerweise wieder in die gesellschaftliche Ordnung treiben würden, umgangen werden (ebd., S.2). Im Fall der Bleiberechtskämpfe benötigt es der Solidarität von Mitbürgern mit einem sicheren Aufenthalt, die den Geflüchteten die Reise zu den Protestorten ermöglichen oder wichtige Übersetzungsarbeit leisten. Auch bei Inhaftierungen gibt es solidarische Mittel und Wege einer Unterstützung, wie sie z.B. die Rote Hilfe e.V. anbietet (vgl. http://www.rote-hilfe.de/ueber- uns/ueber-uns [Stand: 25.03.2015]). informelle Netzwerke Soziale Bewegungen sind organisiert in Netzwerken von unterschiedlichen Akteuren, wie Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen (vgl. Kolb, 2002, S.10). Einzelne Organisationen oder Verbände können nicht als soziale Bewegung gelten, wohl aber Teil einer sein (vgl. ebd.). Die Netzwerke kennzeichnen sich durch eine soziale „Kollektividentität“, die aus gemeinsamen Überzeugungen und einem gemeinsamen Selbstverständnis besteht (vgl. ebd.). „In struktureller Hinsicht weisen soziale Bewegungen einen mittleren Organisationsgrad auf“ (Rucht, 2002, S. 4). Somit stehen sie zwischen einzelnen losen Ereignissen und formellen Organisationsformen (vgl. ebd.). Die Kommunikationen innerhalb der Bewegungen finden in „informellen, insbesondere informationellen Vernetzung der Teilgruppen“ (Pfeiffer, 2000, S.27) statt. Die Hierarchien sind aufgrund der immanenten Strukturschwäche einer sozialen Bewegung und der ideologischen Ausrichtung eher flach (vgl. Brunnengräber. 2006, S.18).
1.3 Verhältnis zur Sozialen Arbeit
Die Entstehungsgeschichte und die Etablierung der professionellen Sozialen Arbeit ist tief mit denen der sozialen Bewegungen verwurzelt (vgl. Wagner, 2009, S.13). Zu den Errungenschaften im Sinne klassischer sozialer Bewegungen zählen der Versuch „Klassengegensätze“ zu überbrücken, das willkürliche Almosen-Prinzip durch ein geregeltes Wohlfahrtssystem zu ersetzen und Frauen durch die Schaffung von Arbeitsplätzen ökonomische Unabhängigkeit vom Mann ermöglicht zu haben (vgl. ebd., S.14). Kritisiert wird die Soziale Arbeit, weil sie neben der Hilfsfunktion für die Betroffenen, gleichermaßen die Kontrollfunktion vom Staat erfüllt (vgl. ebd.). Somit arbeitet sie eng mit dem politischen System zusammen, welches die sozialen Bewegungen zu ändern gedenken (vgl. ebd.). Die soziale Arbeit ist dazu aufgrund der eigenen ökonomischen Abhängigkeit nicht in der Lage. Sie stellt somit eine notwendige Begleiterscheinung des kapitalistischen Gesellschaftssystems dar und ist seit ihrer Entstehung unmittelbar mit den Problemlagen konfrontiert, die dieses System strukturell produziert (vgl. Seithe, 2012, S.399). Durch die geringe bis fehlende Kritik an den systemimmanenten Ursachen von sozialen Ungleichheiten sieht sich die Sozialen Arbeit daher dem Vorwurf ausgesetzt, die Individualisierung von Problemlagen mitzubefördem (vgl. Euteneuer, 2005, S.5f.). In diesem Zusammenhang wird der Sozialen Arbeit auch vorgeworfen, dass sie Normalisierungstendenzen des Staates unterstützt, die zur Diskriminierung abweichenden Verhaltens beiträgt (vgl. Wagner, 2009, S.15).
Leonie Wagner verweist, abermals in ihrem Buch „Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen“ auf Staub-Bernasconi, die eine Annäherungen zwischen den sozialen Bewegungen und der sozialen Arbeit dort sieht, wo gemeinsam „Kritik an den gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnissen“ (Wagner, 2009, S.16) geübt wird, wie es z.B. in Arbeitskreisen kritischer sozialer Arbeit vorkommt (vgl. Kriso, 2014, o.A.).
Insgesamt gesehen muss das Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und Sozialer Arbeit als ambivalent bis kritisch betrachtet werden. Möglichkeiten und Grenzen einen Zusammenwirkens werden anhand eines Praxisbeispiels in Kapitel 4 erörtert.
2. Situation der Geflüchteten
2.1 Definitionen
Die folgende Differenzierung der Begriffe „Flüchtling“ und „Geflüchteter“ sind innerhalb dieser Hausarbeit unabdingbar, da sie Aufschluss über das Selbstverständnis und den Kerninhalt der Bleiberechtebewegungen gibt. Ist der Begriff „Flüchtling“ rechtsverbindlich, so handelt es sich bei „Geflüchteter“ um einen Begriff der antirassistischen Szene (siehe dazu die Diskussion auf: http://www.sprachlog.de/2012/12/01/fluechtlinge-und-gefluechtete/_£Stand: 25.03.2015])
Flüchtling
Ein Flüchtling ist eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt...“. (Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention, In: Ausländerrecht, 2009, S.290)
Ob dies auf einen Menschen zutrifft, entscheidet die Ausländerbehörde bei der Prüfung des Falles. Dementsprechend muss ein Flüchtling seine individuelle Furcht vor Verfolgung gegenüber der Ausländerbehörde „glaubhaft“ machen. Mit der Anerkennung als Asylberechtigter hat ein Flüchtling Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit dreijähriger Gültigkeit und der Aussicht auf eine anschließende unbefristete Niederlassungserlaubnis (BAMF, 2014, o.A.). Diejenigen deren Asylantrag abgelehnt werden, sind folglich offiziell keine Flüchtlinge.
Geflüchteter
Das Konzept des Ausdruckes „Geflüchteter“ bietet den Vorteil, dass es über den rechtlichen Status hinausgeht und somit mehr Menschen berücksichtigt. Menschen, die die Kriterien einer Flucht nicht hinreichend erfüllen oder sie zumindest nicht hinreichend belegen können, fallen nach Auffassung der Ausländerbehörde aus dieser Zählung. Neben der Furcht vor Verfolgung kann die Aussicht auf eine ökonomische Unabhängigkeit ausschlaggebend sein für einen Fluchtentschluss. In diesem Fall liegt kein hinreichender Grund für eine Asylberechtigung vor und die Ausländerbehörde verweigert das Asyl.
Letztlich ist die Unterscheidung wichtig, weil es in dieser Hausarbeit um Menschen geht, die den Bleiberechtskampf führen, weil sie (noch) kein Asyl bekommen haben. Dementsprechend wäre der Ausdruck „Flüchtling“ juristisch falsch und soll in diesem Kontext vermieden werden. Der Begriff„Geflüchteter“ wird daher an dieser Stelle aus rein pragmatischen Gründen verwendet.
2.2 Situation weltweit und in Deutschland
Bis Ende 2013 lebten laut UNHCR weltweit mehr als 51,2 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Ursachen für eine Flucht sind vielfältig und reichen von Folter, Krieg, politischer Verfolgung über die Zerstörung der Lebensgrundlage bis hin zur Familienzusammenführung und dem Streben nach wirtschaftlicher Verbesserung (vgl. Scheller, Bente, 2014, S.7). Ein Großteil dieser Menschen, die so genannten Binnenvertriebenen, flieht innerhalb der eigenen Staatsgrenze (vgl. Alscher, 2014, o.A.). Daher gelangen nur vergleichsweise wenige der geflüchteten Menschen nach Europa. In Deutschland waren es im Jahr 2014 insgesamt 202.834 (vgl. www.de.statistika.com). Von den im selben Jahrentschiedenen Asylanträgen wurde ca. 40% ein rechtmäßiger Schutz zugesichert, 30 hingegen abgelehnt (vgl. ebd.). Bei dem Rest war Deutschland nicht zuständig oder eine Entscheidung steht noch aus (vgl. ebd.). Ihnen droht entweder die Abschiebung in ein für sie zuständiges EU-Land oder in das Heimatland. In vielen Fällen sprechen faktische oder tatsächliche Gründe aber gegen eine Abschiebung. Diese Menschen leben in einem unsicheren Aufenthalt in Deutschland.
2.3 rechtliche Situation
Im Folgenden soll es nicht um die rechtliche Situation von anerkannten Flüchtlingen gehen, sondern um jene, die sich im laufenden Verfahren befinden, was mitunter mehrere Jahre dauert, oder deren Asylantrag abgelehnt wurde. Auf eine Darstellung der verschiedenen Aufenthaltstitel wird dementsprechend verzichtet. An dieser Stelle wird auf die rechtlichen Aspekte in Deutschland eingegangen, die für die Bleiberechtsbewegungen von Bedeutung sind.
Duldung
Die Duldung ist kein Aufenthaltstitel, sondern die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung von ausreisepflichtigen Personen, weil tatsächliche oder faktische Gründe eine Abschiebung in diesem Zeitraum verhindern (vgl. Weiser, 2011, S.24). Dieser unsichere Aufenthalt muss regelmäßig bei der Ausländerbehörde verlängert werden.
Die momentan ca. 95.000 Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus (vgl. Bundesregierung, 2014, S.23f.) und all jene, die sich noch im laufenden Asylverfahren bzw. der Zuständigkeitsprüfung befinden, werden in Deutschland strukturell benachteiligt. Durch spezifische Gesetze, wie dem Asylbewerberleistungsgesetz, wird die Lebensführung von Asylbewerberinnen und Geduldeten erheblich beeinflusst. Zu den Einschränkungen, die im Folgenden näher erläutert werden, gehören niedrigere Sozialleistungen, eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit, die Anwendung des Sachleistungsprinzips, sowie ein eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt, dem Gesundheitssystem und dem Wohnungsmarkt (vgl. Netzwerk Bleiberecht, 2014, S.3-7). Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Anwendung von Sachleistungen und die Wohn- und Arbeitssituation ist von Bundesland zu Bundesland und teilweise von Kommune zu Kommune unterschiedlich geregelt. Einige dieser Auflagen werden im Laufe der Zeit gelockert, wie z.B. der Zugang zum Arbeitsmarkt.
Asylbewerberinnen sind angehalten am Asylverfahren aktiv mitzuwirken, z.B. in der Beschaffung eines Passes. Kommen sie dem nicht nach, können die Einschränkungen verstärkt oder andere Sanktionen verhängt werden.
Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt
Ein unsicherer Aufenthalt beinhaltet zumindest anfangs drastische Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt. Zunächst muss ein dreimonatiges Arbeitsverbot überdauert werden bis eine Arbeitserlaubnis vom Arbeitsamt erteilt werden kann (vgl. ebd.. S.3). Diese folgt in der Regel dem Nachrangigkeitsprinzip und endet erst, wenn der Geflüchtete bereits vier Jahre durchgehende Aufenthaltsdauer in Deutschland nachweist (vgl. ebd., S.4). Das bedeutet, dass der Geflüchtete den Arbeitsplatz erst in Anspruch nehmen darf, wenn für diese Stelle kein Deutscher oder EU-Ausländer in Frage kommt. Selbst bei uneingeschränkter Arbeitserlaubnis fällt es Menschen mit einem unsicheren Aufenthalt schwer Arbeit zu finden, weil sie in der Regel längere Zeit arbeitslos waren und/oder es jederzeit passieren könnte, das sie abgeschoben werden. Dies schreckt viele Arbeitgeberinnen ab, da sie keine Planungssicherheit haben und sich ein Einlernen eventuell nicht lohnt bzw. die Arbeitskraft abrupt wegfällt.
Verminderte Sozialleistungen
19 Jahre lang, seit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahr 1993, bekamen Geflüchtete Sozialleistungen, die unter dem Existenzminimum lagen. Die Höhe dieser Grundleistung, welche ca. ein Drittel unter dem Satz von Arbeitslosengeld II („Hartz IV) lag, wurde 2012 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt (vgl. Classen, 2013, S. 2). Obgleich die gesetzliche Ungleichbehandlung seit dem Urteilsspruch finanziell gemindert wurde, existiert sie im Kern weiter. Nach wie vor werden einige der Leistungen vorrangig als Sachleistung, z.B. Essenspakete oder in Form von Gutscheinen ausgezahlt (vgl. ebd, S.l). Zudem ist die Fortsetzung derjuristischen Unterscheidung an sich ein Beleg für die Ungleichheit im Leistungsbezug.
Einschränkungen im Wohnungswesen und räumliche Ausgrenzung
Menschen mit einem unsicheren Aufenthalt unterliegen in den ersten vier Monaten der Residenzpflicht, d.h. dass sie sich nicht ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde über ein gewisses Bundesland oder einen gewissen Kreis hinaus aufhalten dürfen (vgl. Netzwerk Bleiberecht, 2014, S.7; Sorge, Petra, 2014, o.A.). Auch die Wohnung wird meistens von der Kommune zugewiesen und ist i.d.R. nicht frei wählbar (vgl. ebd., S.6). Häufig werden diese Menschen aus politischen und/oder finanziellen Gründen in abgelegenen Gemeinschaftsunterkünften untergebracht (vgl. ebd.). Diese sind nicht selten in einem schlechtem Zustand und lassen aufgrund der Größe wenig Spielraum für die Privatsphäre.
Beschränkter Zugang zur ärztlichen Versorgung
Ebenfalls müssen Menschen mit einem unsicheren Aufenthalt Einschränkungen hinsichtlich der Gesundheitsversorgung hinnehmen. Die ärztliche Versorgung dieser Menschen wird über das Asylbewerberleistungsgesetzes geregelt. Gesetzlich krankenversichert sind sie erst, wenn sie nicht mehr in die Zuständigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes fallen oder einen sicheren Aufenthaltsstatus zugesprochen bekommen (vgl. §4 AsylbLG).
Ein Anspruch auf Krankheitsversorgung besteht nur bei akut behandlungsbedürftigen Erkrankungen, die mit Schmerzen einhergehen und bei Erkrankungen, deren Behandlung zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich ist. Insbesondere die Behandlung von chronischen Erkrankungen, zahnärztlichen Behandlungen, Reha-Maßnahmen oder Vorsorgeuntersuchungen werden häufig verweigert (vgl. NetzwerkBleiberecht, S. 2014., S.5f.).
Die Drittstaatenreglung, Rücknahmeabkommen und sichere Herkunftsstaaten
Die so genannte Drittstaatenregelung besagt, dass der EU-Staat für die Prüfung des Asylantrages zuständig ist, durch den der Geflüchtete zuerst gereist ist (vgl. Marx, 2014, S.10). Hiervon sind insbesondere die Menschen betroffen, die in Deutschland ein Asyl beantragen, aber über Italien, Griechenland oder Spanien eingereist sind.
Das Prinzip der sicheren Herkunftsstaaten wird meist durch die Mitgliedschaft der EU oder einem Rücknahmeabkommen zwischen einem EU-Staat und dem jeweilig anderem Land geregelt (vgl. Kohls, 2014, S.22f.). Staaten mit diesem Status gelten als Rechtsstaaten, die dazu in der Lage sind Minderheiten vor Diskriminierung und Übergriffen zu schützen.
Abschiebung, Vollzug und Abschiebehaft
Die Abschiebung ist ein Zwangsmittel, welches eingesetzt werden kann, wenn die Ausreisepflicht rechtskräftig ist und der/die Betroffene nicht freiwillig ausreist (vgl. Hügel, 1995, S. 225f.). Sie wird durch Mitarbeiterinnen der Ausländerbehörde durchgeführt und kann im Rahmen der Vollzugshilfe durch die Polizei unterstützt werden. Im Fall einer angenommenen Fluchtgefahr kann die Ausländerbehörde eine „Abschiebehaft“ anordnen, welche in speziell dafür vorgesehenen Justizvollzugsanstalten oder anderen Justizvollzugsanstalten vollzogen wird. Diese Praxis ist nicht mehr nur moralisch umstritten, sondern seit 2014 auch juristisch. Zwei Urteile stellen die Praxis der Abschiebehaft seither in Frage. Zum einen entschied der Europäische Gerichtshof, dass Geflüchtete nicht mehr in gewöhnlichen Haftanstalten untergebracht werden dürfen (vgl. von Appen, 2014, o.A.). Da es gesonderte Haftanstalten für Geflüchtete aber nur in einigen Bundesländern gibt, müssten alle inhaftierten Geflüchteten aus den regulären Haftanstalten entlassen werden (vgl. ebd.). Dies ist bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht vollständig geschehen.
Zum anderen urteilte im gleichen Jahr der Bundesgerichtshof, dass die Geflüchteten, die über einen sicheren Drittstaat eingereist sind und nun auf ihre Überstellung in das jeweilig erst durchreiste EU-Land warten, nicht in Haft genommen werden dürfen (vgl. Litschko, 2014, o.A.). Obgleich noch nicht alle Inhaftierten wieder frei gelassen wurden (vgl. ebd.), haben diejüngsten Entwicklungen dazu geführt, dass es derzeit bundesweit keine 100 Abschiebehäftlinge mehr gibt (vgl. http://www.gegenabschiebehaft.de/hfmia/abschiebehaft/zahlen-daten-fakten.html [Stand: 25.03.2015]). Die Anzahl der Abschiebung hingegen ist vergleichsweise hoch und lag 2013 bei 10.2000 (vgl. Pro Asyl, o.A.).
3. Bleiberechtskämpfe
3.1 Forderungen
Den kleinsten gemeinsamen Nenner, der Bleiberechtskämpfe, bildet die Forderung, dass die Geflüchteten in dem Land bleiben dürfen, in dem sie sich aufhalten. Die Motivation hierfür pendelt zwischen dem Verweis auf individuelles Leid und der Infragestellung des Konzeptes von Nationalstaaten. Wichtig für ein Kennzeichen dieser Bewegung ist, dass die freie Entscheidung des Betroffenen akzeptiert wird.
Weitere zentrale Forderungen, welche von der überwiegenden Mehrheit der Aktivistinnen mitgetragen werden und die in enger Verbindung zu den, im vorherigen Kapitel, beschriebenen Einschränkungen und Auflagen stehen, sind:
- die Abschaffung der Residenzpflicht
- der uneingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt
- die Abschaffung von „Flüchtlingslagern“ (Sammelunterkünfte für Flüchtlinge)
- die Abschaffung von Essenspaketen und Gutscheinen
- die Abschaffung der Abschiebehaft
- die Abschaffung der Drittstaatenregelung
- die Abschaffung von Rücknahmeabkommen und der Unterscheidung zwischen sicheren und nicht sicheren Herkunftsstaaten
- die Ermöglichung von unbezahlten Integrations- und Sprachkursen
- die Abschaffung der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX (näheres dazu im nächsten Kapitel)
- die Abschaffung von „verdachtsunabhängigen Kontrollen“ aufgrund rassistischer Merkmale („racial profiling“)
3.2 Historie
Die Protestbewegungen von Geflüchteten in Deutschland haben sich im Laufe der Zeit stark verändert. Hierfür gibt es einige wichtige Einflussfaktoren, wie z.B. die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Anzahl der Schutzsuchenden, die Motivation der Akteure, ihr Vorgehen und nicht zuletzt die gesetzlichen Veränderungen. Im folgenden soll dies in einem kurzen geschichtlichen Überblick anhand der Protestbewegungen, den gesetzlichen Rahmenbedingungen und den gesellschaftlichen Einflussfaktoren verdeutlicht werden.
Solidarität gegen das Establishment
Nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 60er Jahre flüchteten überwiegend Personen aus dem Ostblock nach Deutschland. Außereuropäische Flüchtlinge spielten in diesem Zeitraum eine so geringe Rolle, dass die Genfer Flüchtlingskonvention erst ab 1967 auch für diese Personengruppe Anwendung fand (vgl. Seibert, 2008, S.18).
Die ersten schriftlich erwähnten Bleiberechtsproteste finden sich in der deutschen Literatur erst im Zuge der Studentenprotesten gegen das iranische Schah-Regime Ende der 1960er Jahre. Im Jahr 1969 waren es der aus dem Iran geflohene Universitäts-Dozent Bahman Nirumand und der ebenfalls geflohene Journalist Ahmad Taheri, die aufgrund ihrer politischen Tätigkeiten in Deutschland wieder in den Iran abgeschoben werden sollten (vgl. ebd., S.142 ff.). Beides wurde durch den teils gewalttätigen Protest von mehreren Hundert linken Aktivistinnen verhindert. In der Folge wurden immer wieder Abschiebungen in den Iran verhindert. Diese frühen Bleiberechtskämpfe „waren Teil der 68er-Bewegung und trugen eine Militanz in sich, die nicht nur durch die Wut über Abschiebungen in die iranische Diktatur zu erklären ist, sondern auch über den damaligen Zeitgeist und das Gefühl, Teil einer emanzipatorischen, revolutionären und internationalen IMvegung zu sein, die sich gegen eine überkommene, autoritäre Ordnung auflehnte.“ (Oulios, 2013, S.320f.)
Wie die Einbettung in globale Beziehungen von Staaten und die Verbindung zu antiimperialistische Bewegungen zum Nachteil von Migrantinnen werden kann, zeigte sich an den Massenabschiebungen von Palästinensern im Jahre 1972. Nach den Geiselnahmen und Tötungen israelischer Sportler auf der Münchener Olympiade durch die Terrorgruppe des Schwarzen Septembers wurden „die beiden Organisationen [GUPS und GUPA] der palästinensischen Student/innen und Arbeiter/innen verboten, ihr Vermögen beschlagnahmt und eingezogen.“ (Seibert, 2008, S.157) Injenen Tagen spielte die anti-kommunistische Grundstimmung im kalten Krieg, sowie die pro-israelische Stimmung in der Regierung eine große Rolle bei der Ausweisung von mehreren Hundert Palästinensern (vgl. ebd., S.153-162). Kurzum sorgte die Nähe zur kommunistischen und anti-israel gesinnten außerparlamentarischen Opposition zur Verhärtung der Abschiebeabsichten der Regierung, obgleich auch hier einige der Abschiebungen wiederum durch eben diese Unterstützerinnen in Form von Wachen und Telefonketten verhindert werden konnten (vgl. ebd.).
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