Verhalten während des Covid-19-Ausbruchs. Beeinflusst die subjektive Risikowahrnehmung das tatsächliche Verhalten?
Zusammenfassung
Der weltweite Ausbruch der neuen Atemwegserkrankung COVID-19, der in China zum ersten Mal im Dezember 2019 in Wuhan bestätigt wurde, hat in zahlreichen Ländern der Welt zu massiven Einschnitten im öffentliche Leben, aber auch im Privatleben vieler Bürger geführt. Maßnahmen des Social Distancing, also des Vermeidens eines direkten Körperkontakts und des Abstandhaltens zu anderen Personen, wurden ergriffen, um eine weitere Verbreitung von Erregern einzudämmen oder zumindest zu verlangsamen.
Gleichzeitig wurde das Thema COVID-19 in sehr unterschiedlicher Form in der Öffentlichkeit kommuniziert. Die Spanne reicht von sachlicher, wissenschaftlich begründeter Information, über Nachrichten mit erschreckenden Bildern überfüllter Krankenhäuser in Italien bis hin zu Verharmlosung oder gar Verleugnung der Gefährlichkeit durch Regierungschefs wie Trump, Bolsonaro und Lukaschenko.
Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Zusammenfassung
1 Einleitung
2 Theorie
2.1 Theoretische Konzepte
2.1.1 Risiko und Risikowahrnehmung
2.1.2 Umgang mit Risiko: Verhalten
2.2 Bisherige Studien zu COVID-19
2.3 Forschungsfragen
3 Methode
3.1 Stichprobe
3.2 Instrument
3.3 Durchführung
3.4 Operationalisierung
3.5 Empirische Hypothesen
4 Ergebnisse
5 Diskussion
6 Fazit
7 Literaturverzeichnis
Anhang: Fragebogen zur Untersuchung relevanten Verhaltens während des Covid-19-Ausbruchs, deutsche Version
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1. Verteilung der Gruppenzugehörigkeit hohe u. niedrige Risikowahrnehmung sowie hohe und niedrige Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme u. Hausarztbesuch
Abbildung 2. Häufigkeitsverteilung der 184 Personen mit hoher Risikowahrnehmung nach Geschlecht Frauen/Männer
Abbildung 3. Häufigkeitsverteilung des Haus-Verlassens der Personen mit hoher Risikowahrnehmung von nie = 0, Ein- bis Zweimal = 1, Drei- bis Viermal = 2, Fünf- bis Sechsmal = 3, Fast jeden Tag = 4, Jeden Tag = 5 innerhalb der letzten zwei Wochen
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1. Definitionen der UV und AV
Tabelle 2. Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD), Anzahl (n), Minimalwerte (min), Quartilsgrenzen und Maximalwerte (max) der abhängigen Variablen
Tabelle 3. Häufigkeitsverteilung zwischen den Risikowahrnehmungsgruppen (hohe Risikowahrnehmung = H.Risikow., niedrige Risikowahrnehmung = N.Risikow.) mit Haus-Verlassen für Sozialkontakte ja/nein
Tabelle 4. Häufigkeitsverteilung zwischen den Risikowahrnehmungsgruppen (hohe bzw. niedrige Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme u. Hausarztbesuch = H.Risikow.N.u.H. bzw. N.Risikow.N.u.H.) mit Haus-Verlassen für Krankheitsversorgung ja/nein
Zusammenfassung
Seit dem COVID-19-Ausbruch befindet sich die Welt in einer Art Notfallsituation. In vorliegender Arbeit wird im Rahmen einer Studie als Kooperationsprojekt der Universität Mailand (Italien) mit der Universität Surrey (UK) in einer Umfrage mit 438 Teilnehmern innerhalb der deutschen Bevölkerung untersucht, ob je nach Risikowahrnehmung von COVID-19 das Verhalten des Haus-Verlassens für Sozialkontakte bzw. Krankheitsversorgung variiert. Außerdem wird der Frage nachgegangen, ob bei Personen mit hoher Risikowahrnehmung hinsichtlich der Umsetzung der empfohlenen Ausgangsbeschränkungen Geschlechtsunterschiede bestehen. Es zeigen sich nicht die erwarteten Unterschiede zwischen der Gruppe mit hoher und der Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung: Beide verlassen ähnlich häufig das Haus, um Familie bzw. Freunde zu treffen. Ebenso ähnlich oft verlassen die Gruppe mit hoher und die Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung hinsichtlich des Hausarztbesuchs und der Notaufnahme das Haus, um zum Hausarzt bzw. zum Krankenhaus zu gehen. Es treten außerdem keine signifikanten Geschlechtsunterschiede bei Personen mit hoher Risikowahrnehmung auf: Frauen und Männer verlassen das Haus annähernd gleich viel. Die Ergebnisse gewähren einen momentanen Blick auf die Gründe, die Personen auch unabhängig von der Risikowahrnehmung vor die Tür gehen lassen. Es wird deutlich, dass sich während des Covid-19-Ausbruchs die Einschätzung des Risikos nicht zwangsläufig im gezeigten Verhalten widerspiegelt. In Zukunft ist im Verlauf der Pandemie weitere Forschungsarbeit zu psychologischen Mechanismen notwendig, um zu untersuchen, welche Einflussfaktoren zu einer Diskrepanz zwischen Risikowahrnehmung und Verhalten führen. Dies kann dazu beitragen, die Risikokommunikation so anzupassen, dass größtmögliche Risikokompetenz entsteht.
1 Einleitung
Der weltweite Ausbruch der neuen Atemwegserkrankung COVID-19, der in China zum ersten Mal am 31.12.2019 in Wuhan in China bestätigt wurde (Bryson, 2020), hat in zahlreichen Ländern der Welt zu massiven Einschnitten im öffentliche Leben, aber auch im Privatleben vieler Bürger geführt. Maßnahmen des Social Distancing, also des Vermeidens eines direkten Körperkontakts und des Abstandhaltens zu anderen Personen, wurden ergriffen, um eine weitere Verbreitung von Erregern einzudämmen oder zumindest zu verlangsamen. Gleichzeitig wurde das Thema COVID-19 in sehr unterschiedlicher Form in der Öffentlichkeit kommuniziert. Die Spanne reicht von sachlicher, wissenschaftlich begründeter Information, über Nachrichten mit erschreckenden Bildern überfüllter Krankenhäuser in Italien bis hin zu Verharmlosung oder gar Verleugnung der Gefährlichkeit durch Regierungschefs wie Trump, Bolsonaro und Lukaschenko.
Umso weniger verwunderlich ist es, dass das bestehende Risiko unterschiedlich wahrgenommen wird, und die Bevölkerung sehr verschieden reagiert: In der Anfangsphase der Pandemie im März und April 2020 ließen sich in Deutschland beispielsweise Verhaltensweisen wie Hamsterkäufe von Toilettenpapier beobachten, die eine wahrgenommene Bedrohung durch Covid-19 widerspiegeln können (Garbe, Rau & Toppe, 2020). Auf der anderen Seite gibt es die Gruppe der sog. Corona-Leugner, die abstreitet, dass der Erreger tatsächlich existiert. Bei Personen dieser Gruppe lässt sich vermuten, dass sie auch Maßnahmen zur Nichtverbreitung weniger oder gar nicht einhalten. Doch selbst bei Menschen, die das Risiko der Ansteckung mit dem Virus als hoch einschätzen, ist die Umsetzung der Maßnahmen nicht zwangsläufig gegeben. Wie beispielsweise bei Suchterkrankten, die trotz des Wissens um objektive Risiken nicht verzichten und kein sicherheitsrelevantes Verhalten zeigen (Klepper, Odenwald & Rockstroh, 2017), kann es auch während der Corona-Pandemie schwerfallen, sich entsprechend der durchaus vorhandenen Einsicht zu verhalten.
Es lässt sich aber auch eine entgegengesetzte Verhaltensweise beobachten: Einige Personen halten sich nicht nur an die Ausgangsbeschränkungen, sie sind sogar derart verängstigt, dass sie sich nicht mehr trauen, selbst bei Krankheitsgefahr zum Arzt zu gehen (Oberhofer, 2020). So erwartet die Gesellschaft für innere Medizin langfristig vermehrte Todesfälle, da viele Menschen sich nicht rechtzeitig behandeln lassen (Ertl, 2020).
Ein Einflussfaktor auf die Verhaltensweisen während der COVID-19-Pandemie ist zudem möglicherweise die Geschlechtszugehörigkeit: Männer könnten eher als Frauen bereit sein, das Risiko einer Ansteckung auf sich zu nehmen und die Sicherheit auf Kosten von kurzfristiger Lebensqualität aufs Spiel zu setzen. Die vorliegende Arbeit untersucht, ob Personen ihre unterschiedliche Risikowahrnehmung in ihren Verhaltensweisen umsetzen, und ob dabei die Geschlechtszugehörigkeit eine Rolle spielt.
In Kapitel 2 werden zunächst theoretische Konzepte zum Begriff Risiko dargestellt. Kapitel 2.1.1 befasst sich mit Theorien zur Risikowahrnehmung; in Kapitel 2.1.2 werden unterschiedliche Theorien erläutert, die den Umgang mit Risiko erklären; in Kapitel 2.2 folgt eine Darstellung des aktuellen Forschungsstandes zu Studien über die COVID-19-Pandemie. Ausgehend von der aktuellen Befundlage werden in Kapitel 2.3 die Forschungsfragen und Hypothesen der empirischen Untersuchung formuliert.
2 Theorie
2.1 Theoretische Konzepte
2.1.1 Risiko und Risikowahrnehmung
Ein Risiko ist mit Wahrscheinlichkeiten verknüpft und nicht mit Sicherheiten. So ist ein Risiko „das Kennzeichen einer Situation, die durch mangelhafte Voraussehbarkeit des Kommenden mögliche Schäden, Verluste und dergleichen in Aussicht stellt“ (Wirtz, 2020, S. 1450).
Experten nehmen eine Einschätzung des Risikos vor und versuchen, die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines Ereignisses möglichst genau einzugrenzen. So bestimmen sie beispielsweise anhand objektiver Daten das Risiko für Herzinfarkt in der Allgemeinbevölkerung.
Die Risikowahrnehmung des Individuums, die wiederum die Risikoeinschätzung beeinflusst, findet dagegen auf subjektiver Ebene statt. Sie beinhaltet eine persönliche Vermutung und bezieht sich dabei einerseits auf allgemeine Risiken für die Gesamtbevölkerung, andererseits auf eine selbstbezogene Risikowahrscheinlichkeit, persönlich von einem negativen Ereignis getroffen zu werden (Wirtz, 2020). Nach Dohrenwend (Aronson et al., 2014) hat dabei subjektiver Stress einen stärkeren Einfluss als objektive Begebenheiten; das Risiko wird somit als bedrohlicher empfunden, wenn es eine Person persönlich betrifft und nicht nur eine abstrakte Bedrohung bleibt. Die Risikowahrnehmung lässt sich dabei nochmals aufschlüsseln: Sie setzt sich zusammen aus der Bewertung der wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit, dass die Gefahr tatsächlich eintritt, und der wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit, wie bedrohlich die Konsequenzen sein werden (Lechowska, 2018).
Slovic und Peters (2006) gehen davon aus, dass Menschen ein Risiko auf zwei grundlegende Arten wahrnehmen; einerseits als Risiko der Gefühle, das sich auf die instinktiven und intuitiven Reaktionen des Einzelnen auf Gefahren bezieht, andererseits als Risiko der Analyse mit Bezug auf Logik, Vernunft und wissenschaftliche Überlegungen. Liegt der Schwerpunkt der Urteilsfindung bei Risiken der Gefühle, wird dies als sog. Affektheuristik bezeichnet (Slovic & Peters, 2006). Der Weg zur Risikoeinschätzung stellt dabei einen individuellen Urteilsprozess dar, der zahlreichen Bewertungen und Verzerrungen (biases) unterliegt (Renn, 2007).
Auch gemäß Gigerenzer (2014) passieren bei der Risikoeinschätzung oftmals Fehler:
Er nennt es eine sog. „Null-Risiko-Illusion“, wenn eine Person glaubt, ihr könne nichts passieren (Gigerenzer, 2014, S.50). Ein anderer Fehler sei die Illusion des kalkulierbaren Risikos, der sog. „Gewissheitsillusion“ (Gigerenzer, 2014, S.55). In der Zeit der Corona-Pandemie könnte dies beispielsweise in der Annahme bestehen, im geschlossenen Raum keinen Mundschutz tragen zu müssen, wenn man Abstand hält. Gigerenzer bezeichnet diese Einschätzung auch als „Truthahnillusion“ (2014, S.55): Der Truthahn wiegt sich in Sicherheit und wird letztendlich doch an Thanksgiving geschlachtet.
Risikowahrnehmung und Risikoeinschätzung gehen dem Risikoverhalten voraus und können als Angelpunkt zwischen dem bestehenden Risiko und dem Umgang mit dem Risiko angesehen werden.
2.1.2 Umgang mit Risiko: Verhalten
Personen gehen sehr unterschiedlich damit um, dass es bei einem bestehenden Risiko offensichtlich keine absolute Ergebnissicherheit gibt. Welche Mechanismen diesem Phänomen zugrunde liegen können, wird in Theorien mit unterschiedlichen Schwerpunkten behandelt.
Nach der Prospect Theory von Kahnemann und Tversky (2013), die auf zahlreichen Studien basiert, findet in riskanten Situationen ein Entscheidungsprozess statt, der zu einem Verhalten führt, das in Abhängigkeit zur eingeschätzter Sicherheit eines auftretenden Ereignisses variiert. Entscheidungen werden also nach erwartetem Nutzen und der Wahrscheinlichkeit des Eintretens getroffen (Tversky & Kahneman, 1992).
Auch in der Verkehrspsychologie ist das Zustandekommen von Risikoverhalten ein relevantes Thema, ob beispielsweise eine gefährlich hohe Geschwindigkeit beim Autofahren gewählt wird. Gemäß der Risikohomöostase-Theorie von Gerald Wilde (1994) spielt ebenfalls in einem Entscheidungsprozess - ob eine hohe Geschwindigkeit gewählt wird oder nicht - eine individuell unterschiedlich ausfallende Risikobereitschaft eine zentrale Rolle. Jeder Mensch ist demnach mit einer stabilen, überdauernden Risikoakzeptanz ausgestattet. In einem fortlaufenden Prozess vergleicht eine Person das subjektive Risiko mit seinem akzeptierten Risiko. Wird eine Schwelle des akzeptierten Risikos nicht erreicht, findet keine Verhaltensänderung statt, im Beispiel also keine Geschwindigkeitsreduktion. Erst bei einer auftretenden Diskrepanz zwischen Soll- und Istwert kommt es zu einer Art Ausgleichsverhalten, um die sog. Risikohomöostase wiederherzustellen. Wenn das akzeptierte Risiko nicht herabgesetzt wird, werden eingeführte Sicherheitsmaßnahmen, wie beispielsweise besonders sicher gebaute Autos, durch riskanteres Verhalten kompensiert.
Einige Forscher (Frey, Perdoni, Mata, Riesenkam & Hertig, 2017) gehen sogar von einem individuellen Persönlichkeitsmerkmal aus, das mit dem allgemeinen Intelligenzfaktor vergleichbar ist und sich in einer sog. Risikopräferenz zeigt, die über die Ausprägung des Risikoverhaltens entscheidet. In einer Studie mit N = 1507 Erwachsenen erwies sich diese Risikopräferenz im Laufe der Zeit als konstant, was auf ein stabiles psychologisches Merkmal hinweist (Frey et al., 2017).
In der Theorie des überlegten Handelns (Fishbein & Ajzen, 2011), die einem Regressionsmodell gleicht, ist die individuelle Einstellung dagegen nur ein Teilaspekt der Verhaltensintention: Beobachtetes Verhalten als abhängige Variable wird von der Verhaltensintention als unabhängige Variable vorhergesagt, die einerseits von der individuellen Einstellung, aber auch von den subjektiven Normen abhängt, also den subjektiv wahrgenommenen Erwartungen anderer Personen oder der Gesellschaft.
Schließlich stellen Stadien - und Prozessmodelle zur Erklärung des Verhaltens eine komplexere Herangehensweise an die Thematik dar. Das Transtheoretische Modell (Prochaska & DiClemente, 1982) beleuchtet beispielsweise den Prozess der Verhaltensänderung, der unter akut bestehendem Risiko erforderlich sein kann: Zunächst ist sich eine Person der Thematik nicht bewusst, dann wird sie sensibilisiert, zieht eine Verhaltensänderung zunächst in Erwägung, plant sie dann, bis schließlich das neue Verhalten umgesetzt wird und sich längerfristig stabilisiert.
Einen Hinweis darauf, dass die Ausprägung des Risikoverhaltens nicht in jedem Land gleich ausfällt, liefert ein Modell zu umweltrelevantem Verhalten bei der australischen und der französischen Bevölkerung (Bradley et al. 2020): Es beleuchtet ebenfalls den Prozess von Risikowahrnehmung der Klimakatastrophe bis hin zum tatsächlichen umweltrelevantem Verhalten und zeigt erhebliche länderspezifische Unterschiede.
2.2 Bisherige Studien zu COVID-19
Zahlreiche Studien befassen sich seit dem Ausbruch von COVID-19 mit unterschiedlichsten Veränderungen, die die Pandemie mit sich bringt. Im Folgenden wird sich auf Studien beschränkt, die mit Risikowahrnehmung, Maßnahmen zum Social Distancing und deren Umsetzung in Verbindung gebracht werden können.
Im Zeitraum vom 1.Januar bis zum 30.Mai zeigt eine Datenanalyse von 149 Ländern oder Regionen, dass Interventionen zur physischen Distanzierung weltweit auch tatsächlich mit einer Verringerung der Covid-19-Inzidenz um 13% verbunden sind (Islam et al., 2020).
Das Risiko, das von COVID-19 ausgeht, wird offensichtlich vom Großteil der deutschen Bevölkerung wahrgenommen und führt zu einer großen Akzeptanz der staatlichen Maßnahmen, wie es das Politbarometer des Instituts für Wahlanalysen und Gesellschaftsbeobachtung im September erfasst: 69 % halten sie gerade für richtig, nur 11 % für übertrieben und 18 % wünschen sich sogar weitergehende Maßnahmen (Forschungsgruppe Wahlen/Politbarometer/September, 2020).
Zahlreiche Studien sprechen jedoch dafür, dass sich die soziale Distanzierung und die Anordnung, zu Hause zu bleiben, direkt auf die psychische Gesundheit und die Lebensqualität auswirken. Bei einer Befragung in den USA von 1013 Erwachsenen zur durch Corona bedingten sozialen Isolation gaben 43 % Einsamkeitsgefühle an, die mit Depression und Selbstmordgedanken verbunden waren (Killgore, Cloonan, Taylor & Dailey, 2020). Auch in Deutschland berichteten in der Anfangszeit der Pandemie 50 % einer Stichprobe von 6509 Personen in einer Online-Umfrage, unter Angstzuständen und psychischen Problemen in Bezug auf die COVID-19-Pandemie zu leiden (Petzold et al., 2020). In einer Querschnittsstudie mit 15704 Einwohnern zeigten sich ebenfalls signifikant höhere Symptome einer generalisierten Angst (44,9 %), Depression (14,3 %), psychischer Belastung (65,2 %) und COVID-19-bedingten Angst (59 %) (Bäuerle et al., 2020). Es gibt erste Hinweise, dass psychische Störungen über die Altersgruppen und die Geschlechter nicht gleich verteilt sind; so berichteten in einer Studie mit mehr als 2000 Personen im Zeitraum vom 8. April bis zum 1. Juni 2020 insbesondere jüngere Erwachsene und Frauen im Vergleich zu anderen Gruppen über schwerwiegendere Depressions-Symptome als Folge von Sperrmaßnahmen in Deutschland (Schelhorn et al., 2020). Schon während der Anfangsphase des COVID-19-Ausbruchs Untersuchungen in China zeigt sich bei Frauen eine höhere Prävalenz und Schwere depressiver, ängstlicher und posttraumatischer Symptome als bei Männern (Liu et al., 2020). Umfangreiche Studien mit rund 14.000 Personen aus 13 Ländern deuten ebenfalls auf Geschlechtsunterschiede, diesmal aber in Bezug auf die Umsetzung der Maßnahmen: Frauen berichten in dieser Studie ein allgemein höheres Engagement für soziale Distanzierungsmaßnahmen als Männer (Abdelrahman, 2020).
Eine weitere Facette des Verhaltens ist Gegenstand von Studien rund um COVID-19, nämlich der dramatische Rückgang der Notfallpatienten und der Widerstand, zum Arzt zu gehen. Die Behandlung akuter Herzinfarkt-Patienten ist in den USA um 38 %, in Spanien sogar um 40% gesunken (Garcia et al., 2020); auch in Deutschland führte die COVID-19-Pandemie zu einem deutlichen Rückgang der Herzinfarkt-Notfälle in den Notaufnahmen (Slagman et al., 2020). Genauere Zahlen dazu werden derzeit von der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) erhoben (Oberhofer, 2020). A priori wäre angesichts der psychosozialen Stressfaktoren durch die Pandemie eher mit einer Zunahme zu rechnen gewesen. Als mögliche Ursache wird von Medizinern neben Bedenken hinsichtlich der Ansteckung mit COVID-19 im Krankenhaus auch die Vermeidung medizinischer Versorgung aufgrund geforderter sozialer Distanzierung gesehen (Garcia et al., 2020).
Den Aspekt massiver länderspezifischer Unterschiede in Bezug auf die Umsetzung der Maßnahme, zu Hause zu bleiben, greifen Studien mit rund 14.000 Personen aus 13 Ländern auf: In Katar bestätigten 87,3% der Teilnehmer, lieber zu Hause zu bleiben, in Spanien und Italien gaben sie an, viel eher zu Hause zu bleiben als in Schweden und Singapur (Abdelrahman, 2020).
Noch ist nach bisherigem Forschungsstand zu COVID-19 nicht hinreichend deutlich, ob ein Zusammenhang zwischen Risikowahrnehmung und Verhalten besteht, ob sich etwa eine hohe Risikowahrnehmung tatsächlich in besonders vorsichtigem Verhalten zeigt, oder ob in der Umsetzung der Maßnahmen Geschlechtsunterschiede bestehen. Da die Forschungslage bisher auf große länderspezifische Unterschiede hinweist, beschränkt sich diese Arbeit auf Deutschland und ermöglicht einen weiterführenden länderspezifischen Vergleich.
2.3 Forschungsfragen
Die Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken beeinflusst Entscheidungen über Schutzverhalten, aber COVID-19 ist ein ungewohntes Risiko (Bruine de Bruin & Bennett, 2020). Es stellt sich daher die Frage, wie sich im Zusammenhang mit der neuen Situation des Covis-19-Ausbruchs die individuell variierende Risikowahrnehmung zum gezeigten Verhalten in der Bevölkerung Deutschlands verhält. Konkret soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, wie sich die Risikowahrnehmung beim Haus-Verlassen auf die Einhaltung der empfohlenen Ausgangsbeschränkungen auswirkt, und bei welchen Aspekten des Verhaltens eventuell ein Widerspruch zwischen Risikowahrnehmung und Verhalten besteht. Die allgemeine Forschungsfrage lautet daher: `Stay home! Beeinflusst die subjektive Risikowahrnehmung das tatsächliche Verhalten während des Covid-19-Ausbruchs?´ Frage 1 und 2 setzen sich mit den spezifischen Gründen des Haus-Verlassens auseinander (Anhang, Q 13), die in fünf Gruppen eingeteilt werden: Krankheitsversorgung (4 und 5), Gesundheitsversorgung (7, 9), Einkaufen (6), Pflicht/Arbeit (2), Soziales (1, 3).
Frage 1 beleuchtet zunächst den sozialen Aspekt:
Frage 1: Besteht zwischen der Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung und der Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung ein signifikanter Unterschied darin, das Haus für Sozialkontakte zu verlassen?
Frage 2 betrachtet den Aspekt der Krankheitsversorgung. Im Fragebogen (Anhang) wird in
Frage Q1_4 und Q1_5 speziell die Risikowahrnehmung bei Notaufnahme und Hausarzt abgefragt. Daher stellt sich die Frage, wie sich die Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung und die Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausbesuch im Haus-Verlassen für Krankheitsversorgung unterscheiden.
Frage 2: Besteht zwischen der Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung und der Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch ein signifikanter Unterschied darin, das Haus für Krankheitsversorgung zu verlassen?
Frage 3 befasst sich damit, ob bei der Häufigkeit des Hausverlassens (Anhang, Q12) bei hoher Risikowahrnehmung in der Situation des Hausverlassens (Anhang, Q 19, Frage 1, 2 und 5) geschlechtsspezifische Unterschiede zu finden sind:
Frage 3: Besteht ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Häufigkeit des Haus-Verlassens zwischen der Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung und der Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung?
3 Methode
3.1 Stichprobe
Zur Stichprobenakquise wurden Personen aus dem privaten Umfeld der Verfasserin direkt kontaktiert, verbunden mit der Bitte, den Link außerdem an Freunde, Bekannte und Kollegen weiterzuleiten. Ebenso wurde der Link auf der Facebook-Seite der Verfasserin, sowie auf der Facebook-Seite der PFH Psychologie Fernstudium geteilt.
3.2 Instrument
Die Datenerhebung für die vorliegende Arbeit erfolgte mit Hilfe eines Online-Fragebogens (Anhang), der im Rahmen einer Studie als Kooperationsprojekt der Universität Mailand (Italien) mit der Universität Surrey (UK) von der Private University of Applied Sciences Göttingen (PFH) zur Verfügung gestellt wurde. Um einen internationalen Blick auf Verhaltensweisen während des Covid-19-Ausbruchs zu erhalten, wurde die Studie sowohl in den USA, in Australien und in Europa (Italien, Norwegen, Schweden und Deutschland) durchgeführt. Der im Rahmen der PFH verwendete Fragebogen besteht aus 52 Items in deutscher Sprache und ist für in Deutschland lebende Personen konzipiert. Teilnehmende, die dem Link zur Umfrage folgen, wurden zunächst über den Inhalt der Studie aufgeklärt. Die Einwilligungserklärung enthielt Hinweise auf die anonymisierte Erfassung der Daten und darauf, dass die Teilnahme freiwillig und ein Abbruch der Umfrage ohne Angabe von Gründen jederzeit möglich sei.
Für diese Arbeit wurden ausschließlich Fragen zur allgemeinen Risikowahrnehmung bezüglich der Gefährlichkeit des Virus beim Haus-Verlassen, zur spezifischen Risikowahrnehmung bei der Notaufnahme und beim Hausarztbesuch, zur Geschlechtszugehörigkeit sowie Fragen zu Häufigkeit des Haus-Verlassens und zu speziellen Gründen des Haus-Verlassens (für Sozialkontakte, also Treffen von Freunden oder Familie bzw. zur Krankheitsversorgung, also Hausarzt- oder Krankenhausbesuche) berücksichtigt.
3.3 Durchführung
3.4 Operationalisierung
Zunächst werden die unabhängigen und abhängigen Variablen in Tabelle 1 definiert.
Tabelle 1. Definitionen der UV und AV.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3.5 Empirische Hypothesen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei der Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch wird das Haus signifikant weniger für Krankheitsversorgung verlassen als bei der Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch.
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Es besteht ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Häufigkeit des Hausverlassens zwi- schen Frauen mit hoher Risikowahrnehmung und Männern mit hoher Risikowahrnehmung.
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4 Ergebnisse
Die vorliegenden Daten werden mit der freien Statistik Software R (Version R Version 3.6.0) und der Microsoft Excel Professional Plus 2016 ausgewertet.
Die Versuchspersonen werden für die Hypothese 1 künstlich dichotomisiert in zwei Gruppen der Risikowahrnehmung aufgeteilt, in eine Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung bei der Wahl der Antworten 1, 2 oder 5 und eine Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung bei der Wahl der Antworten 3 oder 4 bei Frage Q 19 (Anhang).
Für die Hypothese 2 werden die Versuchspersonen künstlich dichotomisiert in zwei Gruppen der Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch aufgeteilt, in eine Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch bei einem gemittelten Wert beider Fragen > 50 und eine Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch bei einem gemittelten Wert beider Fragen ≤ 50 bei den Fragen Q1_4 und Q1_5 (Anhang).
Für die Hypothese 3 werden die Versuchspersonen nach Geschlechtszugehörigkeit der Gruppe der Frauen und der Gruppe der Männer (Anhang, Q47) mit hoher Risikowahrnehmung zugeteilt (Anhang, Q19).
Dies ergibt bei insgesamt 438 Teilnehmern, von denen 4 der Auswertung nicht zustimmten, 187 Personen mit hoher, 112 mit niedriger Risikowahrnehmung (dies entspricht 62,54 % zu 37,56 %) sowie 143 Personen mit hoher und 245 mit niedriger Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch (dies entspricht 36,86 % und 63,14 %). Das Verhältnis der Frauen zu Männern ist 218 zu 76. Von den 187 Personen mit hoher Risikowahrnehmung sind 41 Männer und 143 Frauen; dies entspricht 53,95 % bei den Männern und 65,6 % bei den Frauen. Personen, die keine Angaben gemacht haben (139 Personen bei der allgemeinen Risikoeinschätzung und 50 Personen bei der Risikoeinschätzung in Bezug auf Notaufnahme und Hausarztbesuch, 3 Personen ohne Geschlechtsangabe in der Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung) wurden in der Berechnung nicht berücksichtigt. Abbildung 1 und 2 zeigen die Verteilung der Gruppenzugehörigkeiten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1. Verteilung der Gruppenzugehörigkeit hohe u. niedrige Risikowahrnehmung sowie hohe und niedrige Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme u. Hausarztbesuch.
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Abbildung 2. Häufigkeitsverteilung der 184 Personen mit hoher Risikowahrnehmung nach Geschlecht Frauen/Männer.
Tabelle 2 gibt eine Übersicht über Mittelwerte, Standardabweichungen, Anzahl, Minimalwerte, Quartilsgrenzen und Maximalwerte der erfassten abhängigen Variablen.
Tabelle 2. Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD), Anzahl (n), Minimalwerte (min), Quartilsgrenzen und Maximalwerte (max) der abhängigen Variablen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Für alle statistischen Tests wird ein alpha-Niveau von .05 verwendet.
Die Ergebnisse werden in der Reihenfolge der Hypothesen beschrieben.
Hypothese 1:
Bei der Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung wird das Haus signifikant weniger für Sozialkontakte verlassen als bei der Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung.
Ergebnis: Zunächst stellt eine deskriptive Statistik die Häufigkeitsverteilung zwischen den Gruppen dar bei einer dichotomen Aufteilung der Variable der Sozialkontakte in ja/nein, wie in Tabelle 3 aufgeführt.
Tabelle 3. Häufigkeitsverteilung zwischen den Risikowahrnehmungsgruppen (hohe Risikowahrnehmung = H.Risikow., niedrige Risikowahrnehmung = N.Risikow.) mit Haus-Verlassen für Sozialkontakte ja/nein.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Demnach geben innerhalb der Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung 56,45 % und 62,5 % innerhalb der Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung an, das Haus für Sozialkontakte zu verlassen .
Bei der weiteren inferenzstatistischen Analyse mit dem Pearson Chi-Quadrattest für zwei unabhängige Stichproben zeigt der p-Wert von p = 0.3651 ebenfalls keinen statistischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen mit hoher und niedriger Risikowahrnehmung darin, das Haus für Sozialkontakte zu verlassen.
Hypothese 2:
Bei der Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch wird das Haus signifikant weniger für Krankheitsversorgung verlassen als bei der Gruppe mit niedriger Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch.
Ergebnis: Tabelle 4 zeigt in einer deskriptiven Statistik die Häufigkeitsverteilung zwischen den Gruppen der Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch mit einer Aufteilung der Variablen des Hausverlassens für Krankheitsversorgung in ja/nein.
Tabelle 4. Häufigkeitsverteilung zwischen den Risikowahrnehmungsgruppen (hohe bzw. niedrige Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme u. Hausarztbesuch = H.Risikow.N.u.H. bzw. N.Risikow.N.u.H.) mit Haus-Verlassen für Krankheitsversorgung ja/nein.
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Demnach haben nach eigenen Angaben innerhalb der Gruppe mit hoher Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch 22,55 % und innerhalb der Gruppe mit niedrigem Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch 25,13 % das Haus für Krankheitsversorgung verlassen.
Bei der weiteren inferenzstatistischen Analyse mit dem Pearson Chi-Quadrattest für zwei unabhängige Stichproben zeigt der p-Wert von p = 0.7251 ebenfalls keinen statistischen Unterschied zwischen den beiden Gruppen mit hoher und niedriger Risikowahrnehmung hinsichtlich Notaufnahme und Hausarztbesuch darin, für Krankheitsversorgung das Haus zu verlassen.
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