Die Analyse wird sich auf die performativ ergiebigsten Lieder in Maidjan, Alfadhirhaiti, Krigsgaldr und Hamrer Hippyer auf Basis des Live-Mitschnitts der LIFA-Show beschränken. Die übrigen Lieder Carpathian Forest, Hakkerskaldyr, Fylgija Ear/Futhorck und Othan werden knapp umschrieben und fallen bei der Bewertung des Rituals mit ein. Grob unterteilt, wird sich die Analyse entlang der Einteilung „LIFA aus der Distanz“ und „LIFA im Vollzug“ vollziehen. Zunächst soll aber die Band in einem kurzen Kapitel vorgestellt werden.
„Nordic-Ritual-Folk-Band“, unter dieser Bezeichnung findet man die deutsch-dänisch-norwegische Band „Heilung“ auf Wikipedia. Das ist beachtlich, denn was soll man sich unter einer Nordic-Ritual-Folk-Band vorstellen? Eine Band, die das Ritual als stilistische Ergänzung und Inszenierung ihrer Musik heranzieht, um ein interessantes Bühnensetting zu kreieren? Oder eine Band, die mit Hilfe ihrer Musik ein Ritual gar einleitet und vollzieht?
Heilung, die seit Ausstrahlung ihrer Liveshow LIFA vom Castlefest 2017 auf Youtube ungemein an Bekanntheit gewonnen haben, haben sich mit eben dieser Show einen Namen gemacht. Sie ziehen sich an, dass man sich an das Setting der HBO-Serie „Vikings“ versetzt fühlt und sie machen keinen Hehl daraus, dass es ihnen bei ihrer Performance um eine spirituelle, transzendente Erfahrung ihrer Zuhörer geht. Kurzum: den außeralltäglichen Raum, den sie mit ihrer Musik und ihrer Inszenierung öffnen, ihre Verwendung von authentischen Materialien, Symbolen und Texten aus der Heidenzeit und ihre generelle Fokussierung auf das Alte, Historische in Form heidnischer Sakralität, das alles führt in der Tat ganz schnell zum Ritual. „Amplified history from early medieval northern Europe“ – so nennen sie ihre Schaffensart. Welche Rolle dabei dem Ritual zukommt bei dieser Vermittlung zwischen Heidnisch und Modern zu helfen und welche besondere Verbindung zwischen dem Ritual und dem Anspruch der Band auf „Heilung“ besteht, wird Zielvorgabe dieser Hausarbeit sein. Es wird zu fragen sein, inwiefern das Ritual – so die aufgestellte These – von Heilung nicht nur aus ästhetischen Gründen gewählt wurde, und ob es im Subtext, als menschliche Urantwort auf Krisen, die Frage mitschwingen lässt: Gibt es eine Krise? Vielleicht des Heidnisch-Sakralen? Des Modernen? Des Verhältnisses der beiden zueinander? Oder vielleicht des Menschen in der Zeitlichkeit überhaupt?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Heilung – Band und Programm
3. LIFA – ein musikinduziertes Ritual?
3.1 LIFA aus der Distanz: Mittel und Bestandteile der Aufführung
3.1.1 Bühne und Setting
3.1.2 Instrumente, Klang, Soundeffekte, Sprache
3.1.3 Requisiten, Kostüme, Mimik, Gestik, Teilnehmer
3.2 LIFA im Vollzug: Textuelle Grundlagen und Rituelle Umsetzung
3.2.1 Eröffnungszeremonie
3.2.2 In Maidjan
3.2.3 Alfadhirhaiti
3.2.4 Carpathian Forest
3.2.5 Krigsgaldr
3.2.6. Hakkerskaldyr
3.2.7 Fylgija Ear/ Futhorck
3.2.8 Othan
3.2.9 Hamrer Hippyer
4. Wirkung und Rezeption: LIFA im Leben
5. Medien und Moderne: „Amplified“ Ritual?
6. Fazit und Ausblick
7. Literatur
1. Einleitung
„Nordic-Ritual-Folk-Band“, unter dieser Bezeichnung findet man die deutsch-dänisch-norwegische Band „Heilung“ auf Wikipedia. Das ist beachtlich, denn was soll man sich unter einer Nordic-Ritual-Folk-Band vorstellen? Eine Band, die das Ritual als stilistische Ergänzung und Inszenierung ihrer Musik heranzieht, um ein interessantes Bühnensetting zu kreieren? Oder eine Band, die mit Hilfe ihrer Musik ein Ritual gar einleitet und vollzieht?
Heilung, die seit Ausstrahlung ihrer Liveshow LIFA vom Castlefest 2017 auf Youtube ungemein an Bekanntheit gewonnen haben, haben sich mit eben dieser Show einen Namen gemacht.1 Sie spielen mit Hörnern und Knochen, schlagen auf Schilder und Trommeln, brüllen und heulen wie die Wölfe und wählen mehrheitlich originale Texte aus dem vorchristlichen Nordeuropa. Sie ziehen sich an, dass man sich an das Setting der HBO-Serie „Vikings“ versetzt fühlt und sie machen keinen Hehl daraus, dass es ihnen bei ihrer Performance um eine spirituelle, transzendente Erfahrung ihrer Zuhörer geht.2 Kurzum: den außeralltäglichen Raum, den sie mit ihrer Musik und ihrer Inszenierung öffnen, ihre Verwendung von authentischen Materialien, Symbolen und Texten aus der Heidenzeit und ihre generelle Fokussierung auf das Alte, Historische in Form heidnischer Sakralität, das alles führt in der Tat ganz schnell zum Ritual.
„Amplified history from early medieval northern Europe“ – so nennen Heilung ihre Schaffensart.3 Auch hier finden wir einen potenziell doppelten Charakter: Meint „Erweiterte Geschichte“ hier das einfache Fortführen, Anknüpfen, Aufgreifen der Geschichte? Oder bezieht sich die „Erweiterung“ auf die modernen Mittel, mit denen die alten Texte zum Leben erwachen? Vielleicht trägt die Erweiterung ja auch zum Erweitern der Geschichte bei?4
Welche Rolle dabei dem Ritual zukommt bei dieser Vermittlung zwischen Heidnisch und Modern zu helfen und welche besondere Verbindung zwischen dem Ritual und dem Anspruch der Band auf „Heilung“ besteht, wird Zielvorgabe dieser Hausarbeit sein. Das Heidnisch-Sakrale selbst wird nur, sofern für die ritualwissenschaftliche Perspektive relevant, unterstützend herangezogen. Im Fokus ist und bleibt das Ritual, das – so die aufgestellte These – von Heilung nicht nur aus ästhetischen Gründen gewählt wurde, und das im Subtext, als menschliche Urantwort auf Krisen5, die Frage mitschwingen lässt: Gibt es eine Krise? Vielleicht des Heidnisch-Sakralen? Des Modernen? Des Verhältnisses der beiden zueinander? Oder vielleicht des Menschen in der Zeitlichkeit überhaupt?
Die Analyse wird sich auf die performativ ergiebigsten Lieder In Maidjan, Alfadhirhaiti, Krigsgaldr und Hamrer Hippyer auf Basis des Live-Mitschnitts der LIFA-Show beschränken. Die übrigen Lieder Carpathian Forest, Hakkerskaldyr, Fylgija Ear/Futhorck und Othan werden knapp umschrieben und fallen bei der Bewertung des Rituals mit ein. Grob unterteilt, wird sich die Analyse entlang der Einteilung „LIFA aus der Distanz“ und „LIFA im Vollzug“ vollziehen. Zunächst soll aber die Band in einem kurzen Kapitel vorgestellt werden.
2. Heilung – Band und Programm
Heilung, das sind im Kern Sänger Kai Uwe Faust, Sängerin Maria Franz und Co-Sänger und Perkussionist Christopher Juul. Gegründet wurde Heilung 2014 von Juul und Faust – ursprünglich als Gedichtsammlung gedacht, und Franz – Partnerin und Co-Mitglied von Juul in der Band Euzen, stieß wenig später hinzu. Unterstützt wurden die drei beim Castlefest außerdem von den Musikern Jonas Lorentzen, Juan Pino, Alex Opazo und Jacob Lund. Daneben gibt es noch den in seinen Mitgliedern wechselnden Harierchor, diverse Helfer bei Requisite, Maske, Bühne und die Filmcrew, die das Ereignis medial festgehalten hat.
Was nun den musikalischen Stil der Band betrifft, der mit seinem Fokus auf rhythmisches, archaisches Trommeln, natürlichen Soundeffekten und sphärischen Gesängen nahezu auf eine rituelle Performance ausgelegt zu sein scheint, so verhält sich Heilungs Selbstverständnis kongruent zu ihrem Bandnamen. Frontmann Faust sagte, einmal angesprochen auf die Wahl des Bandnamens:
„Heilen hat seinen Ursprung in „heil machen“, etwas „in seinen ursprünglichen, unversehrten Zustand zurückzuversetzen“ […] Wir möchten im Hörer durch Meditation oder Trance einen Zustand auslösen, der ihn mit seinem eigentlichen, ganzen und voll entwickelten Selbst in Kontakt bringt.“6
Hier finden wir bereits Begriffe, die originär ritueller, gar religiöser Natur sind: ursprünglicher, unversehrter Zustand, Meditation, Trance, ganzes Selbst.7 Heilung geht es also nicht um eine Performance im eigentlichen Sinne, um ein Darstellen, In-Szene-setzen ihrer Musik, sondern um den Zustand, den ihre Musik im Hörer auslöst. Das erhebt den einfachen Zuhörer zum Teilnehmer.8
Diese rituelle Charakteristik ergibt sich aus der Eigenschaft des Rituals im Außen einen außeralltäglichen, transformativen und daher „heiligen“ Raum zu schaffen, indem sich der Einzelne innerlich wandeln kann.9 Heilung sprechen also offen an, was ihr Anliegen ist: In einem Zustand der Trance eine heilsame Begegnung mit sich selbst. Oder anders gesagt: ein Heilungsritual.10
3. LIFA – ein musikinduziertes Ritual?
Die Tatsache, dass Heilung von „Heil machen“ sprechen und den Hörer mit seinem Selbst in Kontakt bringen möchten, impliziert, dass sie den Hörer für von seinem Selbst getrennt halten. Um den heilsamen Zustand wiederherzustellen, schlägt Juul im Gennepschen Sinne einen Positionswechsel11 vor: „In order to connect to what was before,[…] you have to disconnect from what is now."12 Er möchte den Zuhörer von den „artificial barriers of modern life“ erlösen und mehr zu einem „universal tribal spirit“ führen. Dafür wählen Heilung eines der Mittel, das sich in vielen Ritualformen bei der Tranceinduktion bewährt hat: Klang.13
Rhythmisches, wildes Trommeln, ekstatische Rufe, repetierendes Chanten, Naturgeräusche, tiefer Kehlkopfgesang und hoher, ätherischer Frauengesang sind nur einige Beispiele, wie der Zuhörer in einen anderen Bewusstseinszustand überführt wird. Doch Heilung utilisieren ihre gesamte Performance für diesen Zweck. Die „Visibilität“ der heidnisch-sakralen Ordnung14 durchzieht sich symbolisch auf allen Ebenen.15 Im Folgenden wenden wir uns daher den Mitteln zu, die Heilung aufwendet, um den heidnisch-sakralen Raum – will er für eine authentische Selbstbegegnung gelingen – glaubwürdig auferstehen zu lassen.
3.1 LIFA aus der Distanz: Mittel und Bestandteile der Aufführung
3.1.1 Bühne und Setting
Die Bühne ist das erste, was der Zuschauer zu sehen bekommt, und sie bildet im Sinne „ritueller Ikonologie“16 die erste Schwelle zur Sphäre des rituellen Raumes.17 Auch für den Youtube-Zuschauer, der die Performance zeitlich versetzt auf seinem Bildschirm sieht und sich fragt: Klick ich weg oder schaue ich es an?
Dementsprechend verwenden Heilung viel Liebe zum Detail bei der Gestaltung ihrer Bühne.18 Der Raum ist zunächst dunkel, in Nebel gehüllt, aus dem Boden ragen Knochen und Äste als Mikrophonständer, die mit Tierschädeln, Ketten und Federn geschmückt sind. Die Kamera unterstützt die Atmosphäre des Mystisch-Düsteren, indem sie die Bühne zu Beginn nur schwarz-weiß erscheinen lässt. An den Instrumenten – mehrheitlich Schlagwerke – lehnen mit nordischen Symbolen verzierte Schilder und Trommeln. Im Hintergrund in der Mitte steht eine riesige Trommel, die zwischen einem Gestell aus Ästen montiert ist. Rechts und links davon thronen auf schwarzem Hintergrund zwei Symbole: das Radkreuz und ein Halbmond. Die Bühne wird von hängenden und stehenden Scheinwerfern je nach Atmosphäre der Lieder in Farben gehüllt. Eine kleine Eisenlampe brennt auf dem Boden. Eine kleine Vorbühne rundet den Ritualplatz ab. Die Kamera unterstützt den Detailreichtum der Bühne, indem sie ihn mit langen Großaufnahmen einfängt.
Das Setting ist von Natur geprägt, von Rohheit, Wildheit, Unverfälschtheit. Die Bühnenelemente wirken möglichst naturbelassen und dennoch in Feinstarbeit zusammengebaut. Äste, Nebel, Knochen und Dunkelheit wecken Assoziationen an einen nächtlichen Wald.
3.1.2 Instrumente, Klang, Soundeffekte, Sprache
Die Instrumente sind dann ebenso von Naturmaterialien geprägt. Es wird durch Hörner geblasen, gestampft oder mit Knochen auf Schilder geschlagen, um live einen möglichst authentischen Sound zu erschaffen. Selbst bei den Samples, die zum Einsatz kommen, verweist Faust darauf, dass alles selbst aufgenommen wird: „Wir […]schlagen Knochen auf Holzschalen oder Schwerter auf Schilde, um realistische Geräusche zu erzeugen, wie sie […] zur Eisenzeit erklungen sind.“19
Es geht also um Authentizität. Bezeichnend dafür fährt Faust fort: „HEILUNG ist weniger Musik als ein Klangteppich, der zu sehr alten Teilen in uns sprechen soll. Akustische, laute Geschichte, eine Dokumentation als Ritual.“20
Hier finden wir eine bewusste Anbindung ans Ritual und weiter – von Ritual an Tradition und Geschichte.21 Das Ritual ermöglicht die Reaktualisierung der in den Traditionen enthaltenen Vorstellungen.22 Zusammen mit der Verwendung überzeitlicher Naturgeräusche (Vogelzwitschern, Wind usw.), diverser vokaler Laute (Schreien, Grollen) und dem Gebrauch alter Sprachen (Heilung singen u.a. in Althochdeutsch und Altenglisch) dürfte ersichtlich sein, warum Heilung in Bezug auf ihre Musik den Begriff „Amplified History“ wählen: „Geschichte durch den Verstärker“, wie Faust es nennt. „Wir [wollen; M.B.] die Sprachen und Laute vergangener Zeiten für den modernen Menschen erlebbar machen.“23
Für diese Erfahrung wählen sie möglichst naturnahe Geräusche.
3.1.3 Requisiten, Kostüme, Mimik, Gestik, Teilnehmer
Der Sound und das Setting sind von den natürlichen Gegebenheiten eines heidnischen Nordeuropas geprägt, von Unverfälschtheit und Ursprünglichkeit. Sie bilden damit gewissermaßen einen „Urraum“, den Rahmen des „Urzustands“, den Faust als Begegnung mit dem voll entwickelten Selbst bezeichnet hat, das als überzeitliche Instanz mit Hilfe der Vergangenheit in die Gegenwart gezogen werden soll. Der Brückenbauer hierfür ist das Ritual.24 Es öffnet und hält den heiligen Raum und auch die Gegenstände und Personen, die darin bewegt werden oder sich bewegen, sind von der Charakteristik des Heiligen affiziert.25
Die Kostüme und Requisiten, die die Bandmitglieder benutzen, werden von ihnen dementsprechend nicht als solche empfunden, sondern sind ebenso vom „rituellen Charakter“ geprägt.26 Faust verweist darauf, dass den Kostümen mehr der Stellenwert einer Tracht zukommt. Er selbst trägt ein Gewand in Anleihe an die spirituellen Traditionen der eurasischen Zirkumpolarvölker, Juul eine historisch korrekte Wiedergabe wikingerzeitlicher Kleidung und Franz eine wikingerzeitliche Rekonstruktion mit sibirischen Anleihen im Kopfschmuck.27
Die Aufwertung zur Tracht bringt ein Amt, eine Position mit sich. Eine Tracht entstammt anders als ein Kostüm einer sozialen Gruppe und ist mit Aufgaben und Repräsentation versehen. An ihr wie auch dem Körper des Trägers kommen im Ritual die darin gültigen Werte und Normen zur Anschauung.28 Daher soll hier kurz auf die besondere Position von Faust und Franz eingegangen werden.
Wie schon erwähnt, ist es, da Heilung hier ein bewusstes Ritual aufführen, vielleicht unangemessen, Faust und Franz, die den Hauptteil der stimmlichen Präsenz tragen und den zentralsten Teil der Bühne einnehmen, lediglich als Frontsänger zu bezeichnen. Das Ritual als außeralltäglicher, heiliger Raum braucht als Abgrenzung zum Profanen einen „Verwalter des symbolischen Handlungsrepertoires“29, einen Leiter, Schamanen, Priester, der das Ganze steuert und den Verlauf bestimmt. Faust und Franz scheinen hierfür geeignet. Beide heben sich nämlich insofern schon mal von der Gruppe ab, dass sie einen auffälligen Kopfschmuck tragen, der hauptsächlich aus einem imposanten Geweih besteht.30 Beide tragen Kopfbedeckungen, die die Augen verdecken. Beide tragen die auffälligsten Trachten der ganzen Gruppe und beiden kommt gleich einem heiligen Königspaar der erste Schritt und der zentralste Bereich der Bühne zu, der ähnlich einer Prozession von den übrigen Mitgliedern eingerahmt wird. Ihre verdeckten Augen verleihen ihnen etwas Anonymes und Heiliges, etwas Überpersönliches. Sie haben sich für das Ritual „verfeinert“.31
Sie fallen auf – nicht nur durch ihre Optik, sondern auch durch ihr Verhalten. Faust wirkt dabei wie der eigentliche Zeremonienmeister32, da er sowohl stimmlich als auch interaktiv (bspw. in der Aufstachelung der Harier) die Performance anleitet. Er scheint vokal das tragende Element zu sein und ein Bindeglied zwischen den Ritualteilnehmern. Sein Status, mit den Wortes Wenzels, manifestiert sich in der Kraft seiner Raumdurchdringung.33 Er repräsentiert mit seinem tiefen, grollenden Kehlkopfgesang einen Archetyp männlicher Ausstrahlung und verbalisiert sich in Form von Schreien, Grollen, teilweise dem Black Metal entlehnten Krächzen und diverser Lippenlaute. Im Vergleich zu Einar der Band „Wardruna“ ist er definitiv kein Minne. Er ist ein Anstachler, er kitzelt das Ureigene, Verborgene aus dem Zuhörer heraus. Seine Requisiten sind eine Trommel, die Eisenlampe und ein paar Knochen.
Obwohl Faust eine zentrale Rolle inne hat, bildet er dennoch nicht das Zentrum der Performance. Dieser Platz ist der einzigen Frau auf der Bühne vorbehalten – Maria Franz –, die mit ihrem riesigen Geweih, welches das von Faust noch überragt, die Bühne betritt und in ihrer ganzen Optik an den gehörnten, keltischen Waldgott Cernunnos34 erinnert. Ihre Ausstrahlung ist immens, sie zieht die Blicke auf sich.35 In ihrer rituellen Erscheinung ist sie das Aushängeschild von Heilung. Auch abseits der Bühne, wo sie Werbung und Presseartikel ziert. Jeder erinnert sich an die Frau mit den roten Dreadlocks, der Engelsstimme und dem Geweih.
Der Aspekt der Präsenz hier ist gewaltig.36 Franz verkörpert das weibliche Pendant zu Faust, ist Trägerin archetypischer Weiblichkeit, Sinnlichkeit und Fülle. Obwohl sie vom modernen Standpunkt aus nicht den Kriterien sexueller Anziehungskraft entspricht, umgibt sie eine Sphäre weiblicher Magie und Mystik, urweiblicher Stärke und der immerwährenden, empfangenden Kraft des Lebens überhaupt. Sie legt diese Facetten, die bei den Germanen in Form des Nerthus-Kultes37 verehrt wurden, in ihre Stimme, die von weich, ätherisch bis dynamisch und kraftvoll reicht. Franz heilt, Faust legt die Wunde offen. In dieser Hinsicht bilden die beiden eine Opposition, sind aber im Kollektiv ein Äquivalent.38
Die Heiligkeit, die die Germanen den Frauen zugesprochen haben39, fließt durch Franz in die Performance und setzt sie rituell aktiv. Zur Unterstützung wählt sie nur wenige Requisiten, meistens Instrumente oder Geweihe, mit denen sie Runen darstellt. Ihre Bewegungen sind sanft und anmutig, sie bewegt sich fast so, als würde sie gleiten.40
Generell arbeiten Heilung ritualtypisch viel mit Gestik und Mimik, da Rituale sich auch als „ symbolisch kodierte Körperprozesse“41 auffassen lassen. In puncto Gestik v.a. dann, wenn sie Runen darstellen und in puncto Mimik, wenn bspw. dem Schreien eine wilde Fratze folgt. Gerade die Harier offenbaren mimisch die wildeste Grimasse, wenn sie einen Schlachtruf anstimmen. Faust und Franz sind mimisch eher zurückhaltend, aber auch durch den Kopfschmuck eingeschränkt. Franz ist zudem die einzige, die über das ganze Gesicht geschminkt ist, was sie weiter anonymisiert. Den beiden kommt aber auch nicht die Aufgabe zu sich mimisch zu regen, sondern Regung, besser „Erregung“42 zu erzeugen
[...]
1 Vgl. Moritz Grütz: CD-Review: Heilung – LIFA. In: Metal1.info. URL: https://www.metal1.info/metal-reviews/heilung-lifa/ [15.09.19].
2 Vgl. Moritz Grütz: Interview mit Kai Uwe Faust von Heilung. In: Metal1.info. URL: https://www.metal1.info/interviews/heilung/ [15.09.19].
3 Heilung: Startseite Facebook. In: Facebook. URL: https://www.facebook.com/amplifiedhistory/?hc_ref=ARSZlRiHtdCihYWFxODNqkPYUVrFWY4rZgBzUMbpsw1QFt7yx0rmFHS-AQF1M1HlS44&fref=nf&__tn__=kC-R [15.09.19].
4 Vgl. Robert Langer/ Jan A.M. Snoek: Ritualtransfer. In: Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen. Hg. v. Christiane Brosius/ Axel Michaels/ Paula Schrode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB 2013, S. 188-196, S. 189ff.
5 Vgl. Christoph Wulf/ Jörg Zirfas: Performative Welten. Einführung in die historischen, systematischen und methodischen Dimensionen des Rituals. In: Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole. Hg. v. Christoph Wulf/ Jörg Zirfas: München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 7-48, S. 12.
6 Grütz: Interview mit Kai Uwe Faust von Heilung.
7 Vgl. auch Émile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. 3. Aufl., Frankfurt a. Main: Suhrkamp 2001, S. 51f, 310, 261, 356ff.
8 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, S.29, 47.
9 Vgl. Ursula Rao/ Klaus Peter Köpping: Die „performative Wende“: Leben-Ritual-Theater. In: Im Rausch des Rituals: Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz. Hg. v. Klaus-Peter Köpping/ Ursula Rao. Hamburg: LIT, 2000, S. 1-31, S. 10.
10 Vgl. William S Sax.: Agency. In: Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen. Hg. v. Christiane Brosius/ Axel Michaels/ Paula Schrode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB 2013, S. 25-31, S. 27.
11 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage 1909). Frankfurt a. M.: Campus 1999, S. 25.
12 Ryan Reed: How Denmark’s Heilung are creating „Amplified History“ with human bones, throat singing. In: Revolver. URL: https://www.revolvermag.com/music/how-denmarks-heilung-are-creating-amplified-history-human-bones-throat-singing [15.09.19].
13 Vgl. Ruprecht Mattig: Rock und Pop als Ritual. Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag 2009, S. 39.
14 Karl-Siegbert Rehberg: Institutionelle Ordnungen zwischen Ritual und Ritualisierung. In: Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole. Hg. v. Christoph Wulf/ Jörg Zirfas: München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 247-268, S. 257.
15 Vgl. Hans-Georg Soeffner: Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals. In: Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole. Hg. v. Christoph Wulf/ Jörg Zirfas: München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 149-176, S. 150.
16 Vgl. Wulf/Zirfas: Performative Welten, S. 33.
17 Vgl. Anette Adelmann/Katharina Wetzel: Ritualraum. In: Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen. Hg. v. Christiane Brosius/ Axel Michaels/ Paula Schrode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB 2013, S. 180-187, S. 183f.
18 Vgl. Tim Graf/Inken Prohl: Ästhetik. In: Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen. Hg. v. Christiane Brosius/ Axel Michaels/ Paula Schrode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB 2013, S. 32-38, S. 33f.
19 Grütz: Interview mit Kai Uwe Faust von Heilung.
20 Ebd.
21 Vgl. Andreas H. Pries: Tradition, Tradierung. In: Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen. Hg. v. Christiane Brosius/ Axel Michaels/ Paula Schrode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB 2013, S. 205-214, S. 208.
22 Vgl. Burckhard Dücker: Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S.41, 43.
23 Grütz: Interview mit Kai Uwe Faust von Heilung.
24 Vgl. Wulf/Zirfas: Performative Welten, S. 21.
25 Vgl. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 66f.
26 Grütz: Interview mit Kai Uwe Faust von Heilung.
27 Ebd.
28 Vgl. Horst Wenzel: Ritual und Repräsentation. In: Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole. Hg. v. Christoph Wulf/ Jörg Zirfas: München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 91-109, S. 95.
29 Soeffner: Überlegungen zur Soziologie des Symbols und des Rituals, S. 169.
30 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Die Aufführung als Text. Bd. 3. Tübingen: Narr 1983, S. 89.
31 Rao/Köpping: Die „performative Wende“: Leben-Ritual-Theater, S.10.
32 Vgl. Jörg Gengnagel/Gerald Schwedler: Ritualmacher. In: Ritual und Ritualdynamik. Schlüsselbegriffe, Theorien, Diskussionen. Hg. v. Christiane Brosius/ Axel Michaels/ Paula Schrode. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht/UTB 2013, S. 165-170, S. 165.
33 Vgl. Wenzel: Ritual und Repräsentation, S. 97.
34 Bernhard Maier: Lexikon der keltischen Religion und Kultur (= Kröners Taschenausgabe. Band 466). Kröner, Stuttgart 1994, S. 74f.
35 Vgl. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, S. 44.
36 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 166.
37 Cornelius Tacitus: Germania. Zweisprachige Ausgabe Lateinisch - Deutsch. Übertr. u. Erläut. v. Arno Mauersberger. Köln: Anaconda Verlag 2009, S. 119.
38 Vgl. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters, S. 89ff.
39 Vgl. Tacitus: Germania, S. 49.
40 Vgl. auch Dücker: Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte, S. 51.
41 Christoph Wulf: Ritual, Macht und Performanz. Die Inauguration des amerikanischen Präsidenten. In: Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole. Hg. v. Christoph Wulf/ Jörg Zirfas: München: Wilhelm Fink Verlag 2004, S. 49-61, S. 49.
42 Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 297.