Diese Hausarbeit behandelt das fiktive Szenario der Einführung einer Impfpflicht in Deutschland gegen ein neuartiges unbekanntes Virus, welches auf der Welt grassiert. Die Hausarbeit behandelt dabei systematisch eine Beschwerde gegen diese Impfpflicht vor dem Bundesverfassungsgericht.
Gliederung
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
I. Zuständigkeit des BVerfG
II. Beschwerdefähigkeit
III. Verfahrensfähigkeit
IV. Beschwerdegegenstand
V. Beschwerdebefungnis
VI. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität
VII. Form und Frist
VIII.Zwischenergebnis
B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
I. Prüfungsmaßstab
II. Verletzung von Art. 2 II 1
1. Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich
b) Sachlicher Schutzbereich
2. Eingriff
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
a) Beschränkbarkeit des Rechts auf körperliche Unversehrtheit
b) Eingriffsgrundlage: § 20 IfSG
aa) Verfassungsmäßigkeit
(1) Formelle Verfassungsmäßigkeit
(a) Gesetzgebungskompetenz
(b) Verfahren und Form
(2) Materielle Verfassungsmäßigkeit
(a) Bestimmtheitsgrundsatz, Wesensgehaltsgarantie, Einzelfallgesetz
(b) Verhältnismäßigkeit
(aa) Legitimer Zweck
(bb) Geeignetheit
(cc) Erforderlichkeit
(dd) Angemessenheit
(3) Zwischenergebnis
bb) Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts
(1) Legitimer Zweck
(2) Geeignetheit
(3) Erforderlichkeit
(4) Angemessenheit
cc) Zwischenergebnis
III. Weitere einschlägige Grundrechte: Art. 3 I; Art. 12 I; Art. 2 I
C. Gesamtergebnis
Literaturverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gutachten
Die Verfassungsbeschwerde des M hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde des M ist zulässig, wenn die in Art. 93 I Nr. 4a GG1, §§ 90 ff. BVerfGG2 normierten Sachentscheidungsvoraussetzungen erfüllt sind.
I. M hat die Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG3 erhoben. Die Zuständigkeit des BVerfGs für Verfassungsbeschwerden ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 4a, §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff.
II. Zunächst müsste M beschwerdefähig sein. Beschwerdefähig ist gem. Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I „Jedermann“, wobei der Rechtsbegriff u.a. jede natürliche Person umfasst.4 M ist eine natürliche Person und somit beschwerdefähig.
III. M müsste außerdem verfahrensfähig sein. Dazu muss er die Fähigkeit besitzen, in einem Prozess seine eigenen Rechte selbst oder durch einen Prozessbevollmächtigten geltend zu machen.5 In Ermangelung von Hinweisen im Sachverhalt wird die Prozessfähigkeit des M hier unterstellt.
IV. Weiterhin müsste ein tauglicher Beschwerdegegenstand vorliegen. Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt sein, § 90 I. M wendet sich gegen den Bußgeldbescheid, der aufgrund der Gesetzesänderung des § 20 IfSG gegen ihn erlassen wurde. Öffentliche Gewalt i.S.v. Art. 93 I Nr. 4a sind alle drei Gewalten, Exekutive, Legislative und Judikative.6 Auch die Exekutive ist an die Grundrechte gebunden, vgl. Art 1 III. Der Bußgeldbescheid ist als Ausführungsakt der Exekutive ein tauglicher Beschwerdegegenstand.
V. Zudem müsste M beschwerdebefugt sein. Gem. Art. 93 I Nr. 4a, § 90 I 1 ist die Verfassungsbeschwerde nur zulässig, soweit der Beschwerdeführer behauptet, durch den Beschwerdegegenstand möglicherweise selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte verletzt zu sein.7 Nach der Möglichkeitstheorie des BVerfG muss zumindest die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung bestehen.8 Gegen M wurde aufgrund seiner Impfverweigerung ein Bußgeldbescheid erlassen. Außerdem wurde ihm im Falle einer weiteren Verweigerung ein Beschäftigungsverbot angedroht. Dadurch kann eine Verletzung des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 II 1, des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung nach Art. 2 II 1 i.V.m. Art. 1 I, des Rechts auf Gleichbehandlung vor dem Gesetz nach Art 3 I, sowie das Recht auf freie Berufsausübung nach Art. 12 I nicht im Vorhinein ausgeschlossen werden. Dabei soll M durch den Ausführungsakt selbst gegenwärtig und unmittelbar zu Dispositionen bzgl. der Art. 2 II 1, Art. 2 II 1 i.V.m. Art. 1 I und Art. 3 I gezwungen werden.9 Für ein Beschäftigungsverbot wird ein weiterer Umsetzungsakt der Behörde benötigt. Es liegt dabei in ihrem Ermessen, das Verbot zu verhängen und ist somit keine zwangsläufige Folge der Gesetzesänderung oder des Bescheides. Deshalb ist eine unmittelbare Verletzung des Art. 12 I zu verneinen.10 Bzgl. der anderen genannten Grundrechte ist M allerdings beschwerdebefugt.
VI. Weiterhin müsste das in § 90 II statuierte, auf die Regelung des Art. 94 II 2 gestützte, Erfordernis der Rechtswegerschöpfung eingetreten sein und Subsidiarität vorliegen. Solange dem Beschwerdeführer der ordentliche Rechtsweg offensteht, muss dieser vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zunächst durchlaufen werden.11 Zudem darf nach dem Grundsatz der Subsidiarität keine andere prozessuale Möglichkeit bestehen.12 M hat bei dem Einlegen von Rechtsmitteln erfolglos sämtliche Instanzen durchlaufen. Weitere prozessuale Möglichkeiten sind nicht ersichtlich.
VII. Außerdem müsste die Verfassungsbeschwerde form- und fristgerecht erhoben worden sein. Es gilt das Formerfordernis des §§ 23 I 92, sowie die Beschwerdefrist des § 93 I S. 1.13 Aus dem Sachverhalt geht hervor, dass M form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde eingereicht hat.
VIII. Die Verfassungsbeschwerde des M ist zulässig. Von einer Annahme zur Entscheidung gem. § 93a ist auszugehen.
B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde des M müsste außerdem begründet sein. Grundsätzlich gilt, dass eine Verfassungsbeschwerde begründet ist, soweit der Beschwerdeführer durch den angegriffenen Akt der exekutiven Gewalt in seinen Grundrechten verletzt ist, vgl. § 90 I. Verletzt ist ein Grundrecht, wenn ein staatlicher Eingriff in den Schutzbereich vorliegt und dieser verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen ist.
I. Prüfungsmaßstab
Unumstritten ist, dass sich in Bezug auf die Anwendung des Gesetzes die Prüfungskompetenz auf die Verletzung des spezifischen Verfassungsrechts beschränkt.14 Der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts widmen sich Fachgerichte. Das BVerfG ist keine „Superrevisionsinstanz“.15 Somit ist die Verfassungsbeschwerde lediglich dann begründet, wenn das Gesetz Grundrechte des Beschwerdeführers generell verkannt hat, wenn bei der Schaffung von ihm falsche Bewertungsmaßstäbe zugrunde lagen, von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen wurde oder von ihm die Bedeutung der Grundrechte des Beschwerdeführers im Verhältnis zu den Belangen anderer falsch gewichtet wurde.
II. Verletzung von Art. 2 II 1
M ist möglicherweise in seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt. Dabei schützt Art. 2 II 1 nicht nur die körperliche Integrität. Auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht, also in diesem Fall das Selbstbestimmungsrecht über die körperliche Integrität (Art. 2 II 1 i.V.m. Art. 1 I) wird von Art. 2 II 1 umfasst. Auf eine separate Prüfung dieses Grundrechts wird deshalb verzichtet.16 Zunächst müsste der Schutzbereich des Grundrechts eröffnet und der Eingriff in ihn ungerechtfertigt sein.
1. Schutzbereich
a) Das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist ein Jedermann-Grundrecht. Folglich ist der personale Schutzbereich für M eröffnet.
b) Der sachliche Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit umfasst die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne17, einschließlich der Integrität des Körpers.18 Eine Impfung wirkt unmittelbar auf die Substanz des Körpers ein.19 Geschützt ist dabei auch das Selbstbestimmungsrecht über die körperliche Integrität.20 Dieses schützt auch „unvernünftige“ Entscheidungen.21 Bei einer Impfpflicht drohen im Falle einer Verweigerung Rechtsnachteile, weshalb eine freie Entscheidung nicht mehr möglich ist.22 Mithin ist der sachliche Schutzbereich eröffnet.
2. Eingriff
Die Durchsetzung der gesetzlichen Impfpflicht durch den Bußgeldbescheid müsste einen Eingriff darstellen. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff wird verlangt, dass ein Eingriff final und nicht bloß unbeabsichtigte Folge eines auf andere Ziele gerichteten Staatshandelns, unmittelbar und nicht bloß zwar beabsichtigte, aber mittelbare Folge des Staatshandelns, Rechtsakt mit rechtlicher und nicht bloß tatsächlicher Wirkung ist und mit Befehl und Zwang angeordnet wird.23 Das Verhängen eines Bußgeldbescheids stellt eine Exekutivmaßnahme dar und ist somit staatliches Verhalten. Er erschwert zudem die Grundrechtsausübung, da dadurch, zumindest nicht ohne rechtlich nachteilige Konsequenzen, selbstbestimmt über die eigene körperliche Unversehrtheit entschieden werden kann. Dabei steht die Überwindung des körperlichen Selbstbestimmungsrechts durch die staatliche Zwangsimpfung und nicht erst die krank machende Behandlung im Fokus.24 Somit stellt jeder gesetzliche Impfzwang einen finalen, unmittelbaren und imperativen Eingriff in die körperliche Integrität des Einzelnen dar.25 Damit sind bei M alle Voraussetzungen des klassischen Eingriffsbegriffs erfüllt. Dieser ist enger gefasst als der moderne Eingriffsbegriff.26 Eine Diskussion bzgl. seiner Anwendbarkeit kann daher dahinstehen. Somit ist ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 II S. 1 GG gegeben.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Dieser Eingriff könnte gerechtfertigt sein. Dazu müsste das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit einschränkbar sein und die Änderung des § 20 IfSG formell und materiell rechtmäßig sowie verfassungskonform anwendbar sein.27
a) Beschränkbarkeit des Rechts auf körperliche Unversehrtheit
Das Grundrecht müsste beschränkbar sein. Das Grundrecht enthält in Art. 2 II 3 als geschriebene Schranke ausdrücklich einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Dafür bedarf es eines förmlichen Parlamentsgesetzes. Dabei genügt es, dass eine Maßnahme durch Rechtsverordnung oder Verwaltungsakt angeordnet wird, wenn diese sich wiederum auf ein förmliches Gesetz stützen kann.28 Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit ist folglich einschränkbar.
b) Eingriffsgrundlage: § 20 IfSG
§ 20 IfSG könnte ein solches förmliches Gesetz sein, auf dessen Grundlage ein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit gerechtfertigt ist.
aa) Verfassungsmäßigkeit
Um als Eingriffsgrundlage zu dienen, müsste § 20 IfSG formell und materiell verfassungsgemäß sein.
(1) Formelle Verfassungsmäßigkeit
§ 20 IfSG müsste zunächst formell verfassungsgemäß sein.
(a) Gesetzgebungskompetenz
Der Bund müsste die Gesetzgebungskompetenz für die Änderung des § 20 IfSG gehabt haben. Die Gesetzgebungskompetenz liegt gem. Art. 70 I 1 bei den Ländern, es sei denn, sie ist dem Bund ausdrücklich zugewiesen. Im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung gem. Art. 72 I i.V.m. Art. 74 I kommen für die Bundeskompetenz Art. 74 I Nr. 7 (Öffentliche Fürsorge) und Nr. 19 (Maßnahmen gegen gemeingefährliche Krankheiten bei Mensch und Tier) in Betracht. Jedoch besteht bei einer gesetzlich vorgeschriebenen Impfpflicht ein stärkerer Sachzusammenhang zu Art. 74 I Nr. 19.29 Der Begriff Krankheit meint dabei Körperzustände, die vom Normalzustand abweichen und behandlungsbedürftig sind und/oder zur Arbeitsunfähigkeit führen.30 Übertragbar sind alle Infektionskrankheiten.31 Daraus folgt, dass das neuartige Virus eine übertragbare Krankheit in diesem Sinne ist. Fraglich ist zudem, ob von dem Wortlaut „Maßnahme gegen“ nur repressive oder auch präventive Regelungen zur Risikovorsorge umfasst sind. Der Wortlaut lässt dabei keinen eindeutigen Schluss zu, spricht aber eher für eine extensive, Präventivmaßnahmen umfassende, Auslegung.32 Dafür spricht auch eine historische Auslegung. So ersetzte der parlamentarische Rat die ursprüngliche Formulierung „Schutz von Menschen und Tieren gegen Krankheiten und Seuchen“ durch die aktuelle Formulierung, um auszuschließen, dass unter „Schutz“ ausschließlich Vorsorgemaßnahmen verstanden werden.33 Dafür sprich auch eine teleologische Auslegung. Eine Abgrenzung zwischen Verhütungs- und Bekämpfungsmaßnahmen ist im Einzelfall kaum möglich, wie sich exemplarisch in § 10 III BSeuchG zeigt.34 Hiernach werden Menschen mit Symptomen, die zu einer übertragbaren Krankheit führen können, zu einer Erduldung erforderlicher Untersuchungen verpflichtet. Diese können sowohl Verhütungs- als auch Bekämpfungsmaßnahmen darstellen.35 Folglich fallen auch Schutzimpfungen als Präventivmaßnahmen unter Art. 74 I Nr. 19. Dem Bund steht die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz zu.36 Geprüft werden muss daher, ob der Bundesgesetzgeber durch das IfSG von seiner Kompetenz bereits Gebrauch gemacht hat, wodurch für eine originäre Gesetzgebungskompetenz der Länder kein Raum sein würde.37 Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob ein Gesetz zur Regelung dieses Gebiets verabschiedet wurde. Vielmehr muss in einer „Gesamtwürdigung des betreffenden Normenbereichs“ überprüft werden, ob die Materie vom Bund erschöpfend und abschließend geregelt wurde.38 Dabei muss auf das Bundesgesetz selbst abgestellt werden.39 Für eine abschließende Regelung spricht zum einen, dass das IfSG neben speziellen Regelungen zum Infektionsschutz auch Generalklauseln enthält.40 Zudem regelt § 20 VI IfSG die Möglichkeit einer Anordnung von Schutzpflichtimpfungen. Für eine originäre Gesetzgebung des Landes ist folglich kein Raum mehr.41 Auch der Erlass einer Rechtsordnung durch die Landesregierung nach § 20 VII IfSG ist ausgeschlossen, da das BMG bereits von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht hat, § 20 VI IfSG.42 Die Länder könnten jedoch gem. Art. 80 IV aufgrund der bundesgesetzlichen Rechtsverordnungsermächtigung nach § 20 VII ein rechtsverordungsvertretendes Gesetz erlassen. Sie müssen sich dabei jedoch an den Ermächtigungsrahmen halten.43 Dieser erlaubt lediglich eine selektive Impfpflicht. E contrario kann eine generelle, das gesamte Bundesgebiet umfassende Impfpflicht nur durch den Bundesgesetzgeber erlassen werden.44 Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für eine Änderung des § 20 IfSG ist folglich zu bejahen.
(b) Verfahren und Form
Ferner müssten Verfahren und Form erfüllt worden sein. Aus dem Sachverhalt geht hervor, dass das Verfahren ordnungsgemäß war. Die richtige Form einschließlich des Zitiergebots aus Art. 19 I 2 ist zu unterstellen.
(2) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Ferner müsste § 20 IfSG auch materiell verfassungsgemäß sein.
(a) Bestimmtheitsgrundsatz, Wesensgehaltsgarantie, Einzelfallgesetz
Verstöße gegen das sich aus dem Rechtsstaatsgebot (Art. 20 III) ableitende Bestimmtheitsgebot oder die Wesensgehaltsgarantie i.S.d. Art 19 II sind nicht ersichtlich. Es könnte jedoch ein Verstoß gegen das Verbot des Einzelfallgesetzes nach Art. 19 I 1 vorliegen. Schließlich werden im Gesetz zum einen nur Menschen von 3 bis 80 Jahren zum Impfen verpflichtet und zum anderen droht nur Beschäftigten in kritischer Infrastruktur im Falle einer Impfverweigerung ein Beschäftigungsverbot. Allerdings enthält Art. 19 I 1 letztlich eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes. Danach ist es dem Gesetzgeber verboten, aus einer Reihe gleichgelagerter Sachverhalte einen Fall herauszugreifen und zum Gegenstand einer Sonderregel zu machen.45 In beiden Fällen greift das Gesetz gerade nicht aus einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle einen einzelnen Fall oder eine bestimmte Gruppe heraus. Zum einen gilt die Impfpflicht für alle Personen gleichermaßen, bei denen nicht mit schweren Folgeschäden zu rechnen ist. Zum anderen gilt die Besonderheit des Beschäftigungsverbots für alle Beschäftigten in kritischer Infrastruktur. Das Gelten willkürlicher Sonderregeln innerhalb gleichgelagerter Fälle ist bei § 20 IfSG nicht ersichtlich. Mithin ist die Willkür einer gesetzlichen Einzelfallregelung, vor der Art 19 I 1 schützen will, hier nicht gegeben.
(b) Verhältnismäßigkeit
§ 20 IfSG müsste dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, also ein legitimes Ziel verfolgen, geeignet, erforderlich und angemessen sein. Kollidierende Verfassungsgüter setzen einander wechselseitige Grenzen; gefordert ist ein verhältnismäßiger Ausgleich, so dass beide Verfassungsgüter möglichst geschützt werden (Praktische Konkordanz).
(aa) Legitimer Zweck
Mit der Impfpflicht müsste ein legitimer Zweck verfolgt werden. Allgemeine Ziele (Volksgesundheit o.ä.) scheiden aufgrund ihres Abstraktionsgrades als Legitimationsrechtfertigung aus.46 Eine verpflichtende Impfung gegen die neue Seuche dient sowohl dem Schutz des Einzelnen, als auch der Gesamtheit aller vor der übertagbaren Krankheit durch Erreichung einer Herdenimmunität.47 Der Staat hat dabei eine sich aus Art 2 II 1 und Art. 1 I ergebende Schutzpflicht gegenüber der Gesamtheit der Bürger.48 Darunter fällt auch der Schutz vor Infektionskrankheiten.49 Dabei ist der Schutz des Einzelnen kein legitimes Ziel, da von staatlicher Seite aus keine Notwendigkeit besteht, den Einzelnen zu seiner eigenen Gesundheit zu zwingen.50 Bei dem neuartigen Virus handelt es sich um eine übertragbare Krankheit, sodass aufgrund der hohen Kontagiosität durch die Impfung auch ein Kollektivschutz zum Tragen kommt. Durch eine Immunisierung wird die Zirkulation des Erregers und damit die Ansteckungsgefahr für andere Personen verringert. Vor allem gewährleistet eine großflächige Impfung den Individualschutz von Angehörigen von Risikogruppen, bei denen eine Immunisierung kontraindiziert ist. Häufige Gründe sind dabei das Alter oder eine Unverträglichkeit des Impfstoffs.51 Bei dem neuartigen Virus wird diese Risikogruppe aus Kindern bis zum dritten Lebensjahr und Menschen über 80 gebildet, da bei ihnen eine Impfung zu einer Gefahr für ihr Leben oder die Gesundheit werden könnte und deshalb nicht durchgeführt werden kann. Unter der Berücksichtigung der dabei dem Gesetzgeber zugebilligten Einschätzungsprärogative dürfte deshalb mit dieser Impfpflicht ein legitimes Ziel verfolgt werden.52
(bb) Geeignetheit
Darüber hinaus müsste die in § 20 IfSG normierte Impfpflicht geeignet sein. Folglich muss das Gesetz in der Lage sein, das in ihm formulierte Ziel zu erreichen oder zumindest zu fördern.53 Befürchtet wird, dass ein gesetzlicher Impfzwang die Fronten der Impfgegner und Impfskeptiker nur verhärtet und dadurch die Impfbereitschaft sogar noch verringert und so kontraproduktiv die Impfquoten sinken würden.54 Die hohen Durchimpfungsraten und die dadurch eingedämmten Krankheitsfälle bewirken oft ein „Paradoxon wirksamer Prävention“55, bei dem ungerechtfertigter Weise nicht die Gefährdung durch die Krankheit, sondern die Gefährdung durch die Impfung in den Fokus gerückt wird. Hiergegen spricht allerdings die Aussage der nach § 20 II IfSG am RKI eingerichteten STIKO, wonach Impfungen zu den wirksamsten und wichtigsten präventiven medizinischen Maßnahmen zählen.56 Insbesondere lokal auftretende Seuchenausbrüche in einer weitestgehend unimmunisierten Bevölkerung, wie bspw. im Sommer in Bayern, könnten durch eine breite Immunität verhindert und die Zirkulation des Virus unterbrochen werden. Eine Geeignetheit der Impfpflicht ist somit zu bejahen.
(cc) Erforderlichkeit
Zudem müsste die Impfpflicht erforderlich sein. Die Erforderlichkeit derartiger Maßnahmen beurteilt sich daran, ob neben dem angestrebten Mittel zur Erreichung des legitimen Zwecks auch gleich wirksame, aber mildere Mittel zur Verfügung stehen.57 Hier gibt es zwei verschiedene Strömungen. Eine hält an einer partikularen Impfpflicht als milderes Mittel fest. Die andere greift hingegen auf Alternativen zur Pflicht als mildere Mittel zurück.
Bei den Befürwortern einer partikularen Impfpflicht gibt es zwei Ansätze. Beide basieren auf der in § 20 VI IfSG normierten Riegelungsimpfung. Der erste sieht einen weniger belastenden, gleich effizienten Eingriff darin, die Impfpflicht nur auf die Bevölkerung von lokal und akut betroffenen Orten zu begrenzen.58 Der zweite möchte die Impfpflicht für diejenigen Bevölkerungsschichten, die im Krankheitsfall ein hohes Risiko für schwere Verläufe haben.59 Gegen die erste Überlegung spricht ihre begrenzte Effektivität. Es gibt keine Möglichkeit diejenigen Personen auszusondern, die von einer Ansteckung bedroht sind und geimpft werden müssen.60 Zudem kann nicht genau prognostiziert werden, wo das Virus als nächstes auftritt. Gegen die zweite Überlegung spricht, dass eine Impfung einen abgeschwächten Krankheitsverlauf simulieren soll. Bei Menschen, die durch die Krankheit gefährdet sind, ist deshalb die Gefahr höher auch auf den Impfstoff empfindlich zu reagieren. Folglich haben sie oft eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit für bedenkliche Nebenwirkungen.61
Als Alternativen zur Impfpflicht werden zunächst finanzielle Abwägungen, wie das Erteilen von Boni durch Krankenkassen bei Impfungen, als milderes Mittel in Erwägung gezogen. Rechtspolitisch ist dieses Vorgehen allerdings als eher kritisch anzusehen. Zum einen wäre es Wasser auf die Mühlen der konsequenten Impfgegnerschaft. Sie würde von dieser Maßnahme wohl kaum erreicht werden.62 Im Gegenteil würde bei ihr der Eindruck verstärkt werden, dass es ohnehin nicht genügend Gründe für eine Impfung gäbe. Zum anderen würde der Herdenschutz vor allem auf dem Rücken finanziell Schwächerer erreicht, die sich durch Geldzahlungen stärker motivieren lassen.63
Denkbar wäre auch ein „emotionaler“ Ansatz. In concreto sind damit die in § 20 IfSG festgehaltenen Aufklärungs- und Informationskampagnen gemeint. Danach informieren Gesundheitsbehörden „die Bevölkerung zielgruppenspezifisch über die Bedeutung von Schutzimpfungen“.64 Allerdings dürften Informationen an sich speziell im Kontext der neuen Infektionskrankheit keinen allzu großen Effekt haben. Das Wissen über dieses Thema ist aufgrund der massiven Medienpräsenz weitestgehend verbreitet.65 Ein Mehrwert könnte allerdings durch eine emotionalisierte Vermittlung der Informationen geschaffen werden. So versuchte in der Vergangenheit die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) durch Kampagnen wie „Deutschland sucht den Impfpass“66 oder „Wir kommen der Grippe zuvor“67 an die freiwillige Impfbereitschaft der Bevölkerung zu appellieren. Zweck war beide Male eine Steigerung der Impfungen zu erreichen, um Risikogruppen besser zu schützen.68 Gegen diesen Ansatz sprechen allerdings vier Aspekte. Zum einen lassen sich über das Erfolgspotential keine statistischen Belege finden. Im Gegenteil wurden laut dem RKI weder ein nationales noch internationales Impfziel bei irgendeiner Art von Impfung erreicht.69 Auch wird zurecht die mangelnde Zeit angeführt, die eine umfangreiche Aufklärungskampagne unmöglich macht. Zum dritten ist es fraglich, ob genügend Menschen mit solchen Kampagnen zu einer Impfung bewegt werden können, sodass die für den Schutz Ungeimpfter notwendige Herdenimmunität erreicht werden kann. Es gibt zwar keine allgemeingültigen Werte, wie hoch die Immunität sein muss, um die Zirkulation eines Virus zu unterbrechen. Bei Influenza muss dafür jedoch eine Impfquote von 95% vorliegen. Die momentane Bereitschaft in der Bevölkerung, sich mit einem neuen Impfstoff behandeln zu lassen liegt bei 55%.70 Ob eine Impfquote von etwas mehr als 50% ausreicht, um eine Zirkulation des Virus zu unterbinden, ist mehr als fraglich. Zuletzt muss beachtet werden, dass die Abneigung der absoluten Impfgegnerschaft oft auf irrationalen, emotionalen oder religiösen Gründen fußt. Reine Überzeugungsarbeit wird bei ihnen wohl nur wenig ausrichten.71 Das deutet darauf hin, dass eine Impfkampagne kein gleich geeignetes milderes Mittel ist.
[...]
1 Art. sind vorbehaltlich anderweitiger Angaben solche des GG.
2 §§ sind vorbehaltlich anderweitiger Angaben solche des BVerfGG.
3 Es werden die üblichen Abkürzungen verwendet. (Vgl . Kirchner/Butz: Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache).
4 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 206.
5 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn.1229.
6 Ruppert, in: BVerfGG-Kommentar, § 90 Rn. 53.
7 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 204 - 205.
8 Schulze, in: Buschfort BVerfGG, § 93 Rn. 16.
9 Ebd.
10 Schlaich/Korioth, BVerfG, Rn. 238.
11 Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, § 35 Rn. 1321.
12 Meyer, in: Münch/Kunig, Art. 93 Rn. 60.
13 Michael/Morlok, Grundrechte, § 30 Rn. 935.
14 Epping, Grundrechte, Rn 371.
15 Papier/Krönke, Grundkurs, Rn 79.
16 Diese Ansicht ist umstritten. Befürwortend: Lang, in: Epping/Hillgruber, Art 2 Rn. 63a; Kern, in: Laufs/Uhlenbruck/Kern, § 50 Rn. 7; BVerfG, NJW 2017, 2982 Rn. 26. Der Streit ist jedoch von nachrangiger Bedeutung und hat außerdem keine Auswirkungen auf den Schwerpunkt der Hausarbeit. Er wird deshalb nicht geführt.
17 BVerfGE 56, 54.
18 Ipsen, Staatsr. II, Rn. 257.
19 Sacksofsky/Nowak, JuS 2015, S. 1012.
20 Siehe S. 3 dieses Gutachtens.
21 Schmidt, in: Erfurter Kommentar, Art. 2 Rn. 102.
22 BVerfGE 128, 282 (300).
23 BVerfGE 105, 279 (300); Kingreen/Poscher, Staatsr. II, § 6 Rn. 292.
24 Trapp, Impfzwang, S. 7.
25 Walus, Pandemie, S. 128.
26 Kingreen/Poscher, Staatsr. II, § 6 Rn. 293.
27 Sodan, in: Sodan, GG, Art. 1 Rn 60.
28 Kunig, in: Münch/Kunig, GG Art. 2 Rn. 82.
29 Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 74 Rn. 213.
30 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 74 Rn. 49.; BSGE, NJW 1975, 2267.
31 BVerfGE, NJW 1970, 532.
32 BVerfGE 57, 139 (159, 161 f.); BVerfGE 106, 62 (134).
33 Steinau-Steinrück, Bekämpfung von Infektionskrankheiten, S. 62.
34 Sacksofsky/Nowak, JuS 2015, 1007 (1009).
35 Seewald, NJW 1988, 2921, (2924 f.).
36 Seiler, in: Epping/Hillgruber Art. 74. Rn 70.
37 Sacksofsky/Nowak, JuS 2015, 1007 (1010).
38 BVerfGE, NJW 1952, 737; BVerfGE, NJW 1985, 371; BVerfGE, NJW 1999, 841.
39 BVerfGE, NJW 2004, 750; BVerfGE NJW, 1999, 833.
40 Steinau-Steinrück, Bekämpfung von Infektionskrankheiten, S. 65.
41 Sacksofsky/Nowak, JuS 2015, 1007 (1010).
42 Ebd.
43 Uhle, in: Maunz/Dürig, Art. 71, Rn. 38.
44 Ebd.
45 BVerfGE 85, 360 (374); BVerfGE 134, 33 (88 f.).
46 Zuck, Impfzwang, ZRP 2017, S. 118 (120).
47 Heininger, Risiken von Infektionskrankheiten, S. 1132.
48 BVerfGE 46, 160 (165).
49 BVerfG, 1 BvL 8/15; BVerfGE 142, 313 Rn. 68 ff.
50 Trapp, Impfzwang, S. 12; Di Fabio in: Maunz/Dürig, Art. 2 II, Rn. 52.
51 Heininger, Risiken von Infektionskrankheiten, S. 1133.
52 Deutscher Bundestag, WD 3 – 3000 – 019/26, S. 4.
53 BVerfGE 30, 292 (316).
54 Stebner/Bothe, Impfzwang, S. 288.
55 Meyer/Reiter, Impfgegner und Impfskeptiker, S. 1186.
56 RKI, Epid. Bull. 2015/Nr. 34, S. 327.
57 BVerfGE 30, 292 (316).
58 Wedlich, Nationale Präventionsmaßnahmen, S. 37.
59 RKI, Epid. Bull. 2018/Nr. 50, S. 541.
60 Wedlich, Nationale Präventionsmaßnahmen, S. 50.
61 Schaks/Krahnert, Impfpflicht, S. 861.
62 Wolff, Demokratie im Ausnahmezustand, S. 2.
63 Ebd.
64 Bundesärztekammer, Stellungnahme zum Gesetzesentwurf BT-Drs. 19/13452, S. 3.
65 Wolff, Demokratie im Ausnahmezustand, S. 2.
66 BZgA, https://www.impfen-info.de/impfpass.html, abgerufen am 15. 09. 2020.
67 BZgA, https://www.impfen-info.de/grippeimpfung.html, abgerufen am 15. 09. 2020.
68 BZgA, https://www.impfen-info.de/grippeimpfung.html, abgerufen am 15. 09. 2020.
69 RKI, Epid. Bull. 2020/Nr. 32/33, S. 9.
70 Universität Heidelberg, Pressemitteilung Nr. 58/2020 vom 23.06.2020, https://www.uni-heidelberg.de/de/newsroom/anti-corona-massnahmen-grosse-mehrheit-haelt-sich-die-vorgaben, abgerufen am 30. 09. 2020.
71 Meyer/Reiter, Impfgegner und Impfskeptiker, S. 1185.