Der vorliegende Fallbericht befasst sich mit einem 21 Jahre alten Vollwaisen, der sich wegen einer psychiatrischen Mehrfachdiagnose (schizoide Persönlichkeitsstörung; soziale Phobie; rezidivierende Depression, derzeit remittiert) in ärztlicher Behandlung befindet. In Absprache mit seinem langjährigen Hausarzt sollen nun Maßnahmen gesetzt werden, die ihn in seiner Studierfähigkeit unterstützen und fördern.
Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Nach einer Einführung in die theoretischen Grundlagen der gesetzten Maßnahmen wird die Falldarstellung mit einer ausführlichen Anamnese sowie einem Selbstbeurteilungs-Test (Inventar sozialer Kompetenzen) eröffnet. Im Fokus der horizontalen Verhaltensanalyse (SORC) steht eine belastende soziale Situation aus dem Alltag des Klienten. Ausführlich werden danach die durchgeführten Maßnahmen zur Stressbewältigung, zur Selbstmanagement-Kompetenz sowie die Interventionen zur sozialen Kompetenz und Selbstsicherheit dargestellt. Eine Evaluierung der Maßnahmen folgt ebenso. Die Arbeit schließt mit einer Reflexion und einem Fazit.
Die Arbeit stellt den Fall eines 21-jährigen Mannes (um den Datenschutz zu wahren, wähle ich das Pseudonym J. für ihn) vor, der aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur, einer defizitären sozialen Kompetenz und eines kritischen Lebensereignisses (Tod der Mutter) in eine psychische Krise geriet. Er hat vor einem halben Jahr begonnen, Betriebswirtschaftslehre an einer Universität in Süddeutschland zu studieren, und seine bisherigen Prüfungsergebnisse lassen den Fortgang des Studiums fraglich erscheinen.
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung
1 Einleitung
2 Theoretische Grundlagen der Interventionen
2.1 Zur Begrifflichkeit: Fähigkeit oder Kompetenz?
2.2 Methoden zur Problemanalyse und Auswahl der Maßnahmen
2.3 Methoden zur Einübung von (sozialen) Kompetenzen
3 Falldarstellung
3.1 Spontan berichtete Symptomatik und Problembeschreibung
3.2 Biografische Anamnese
3.3 Diagnosen nach ICD-10
3.4 Psychologische Diagnostik mittels ISK
3.5 Horizontale Verhaltensanalyse (SORC-Modell)
4 Interventionen zur Förderung der Studierfähigkeit
4.1 Maßnahmen zur Stressbewältigung
4.2 Vermittlung von Selbstmanagement-Kompetenz
4.3 Training der sozialen Kompetenzen
4.4 Evaluation der Interventionen
5 Diskussion
5.1 Reflexion
5.2 Fazit
Anhang A: Profilblatt Inventar sozialer Kompetenzen (ISK)
Anhang B: Horizontale Verhaltensanalyse (SORC-Modell)
Literaturverzeichnis
Selbstständigkeitserklärung
Zusammenfassung
Der vorliegende Fallbericht befasst sich mit einem 21 Jahre alten Vollwaisen, der sich wegen einer psychiatrischen Mehrfachdiagnose (schizoide Persönlichkeitsstörung; soziale Phobie; rezidivierende Depression, derzeit remittiert) in ärztlicher Behandlung befindet. In Absprache mit seinem langjährigen Hausarzt sollen nun Maßnahmen gesetzt werden, die ihn in seiner Studierfähigkeit unterstützen und fördern.
Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Nach einer Einführung in die theoretischen Grundlagen der gesetzten Maßnahmen wird die Falldarstellung mit einer ausführlichen Anamnese sowie einem Selbstbeurteilungs-Test (Inventar sozialer Kompetenzen) eröffnet. Im Fokus der horizontalen Verhaltensanalyse (SORC) steht eine belastende soziale Situation aus dem Alltag des Klienten. Ausführlich werden danach die durchgeführten Maßnahmen zur Stressbewältigung, zur Selbstmanagement-Kompetenz sowie die Interventionen zur sozialen Kompetenz und Selbstsicherheit dargestellt. Eine Evaluierung der Maßnahmen folgt ebenso. Die Arbeit schließt mit einer Reflexion und einem Fazit.
1 Einleitung
Nach Holm-Hadulla (2001) klagen rund ein Viertel aller Studierenden in Deutschland über psychische Belastungen im Laufe ihres Studiums. Häufig leiden die Betroffenen unter einem mangelnden Selbstwertgefühl, depressiven Verstimmungen oder diffusen Ängsten. Auch Persönlichkeitsstörungen, Panikstörungen, soziale Phobien und Arbeitsstörungen wie die Prokrastination werden diagnostiziert. All diese Störungsbilder führen zu Einbußen in der persönlichen Lebensqualität und im Studienerfolg.
Die Arbeit stellt den Fall eines 21-jährigen Mannes (um den Datenschutz zu wahren, wähle ich das Pseudonym J. für ihn) vor, der aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur, einer defizitären sozialen Kompetenz und eines kritischen Lebensereignisses (Tod der Mutter) in eine psychische Krise geriet. Er hat vor einem halben Jahr begonnen, Betriebswirtschaftslehre an einer Universität in Süddeutschland zu studieren, und seine bisherigen Prüfungsergebnisse lassen den Fortgang des Studiums fraglich erscheinen.
Ich bin als Heilpraktiker, beschränkt auf das Gebiet der Psychotherapie, und als Coach und Trainer in eigener Praxis tätig. Die Klienten suchen mich selbst auf oder kommen auf Empfehlung zu mir. Der Hausarzt hat dem Klienten die Behandlung wegen „psychischer Schwierigkeiten im Studium“ empfohlen. Die insgesamt 24 Sitzungen und Übungen fanden in wöchentlichen Abständen statt, urlaubsbedingt gab es einmal eine längere Pause von drei Wochen. Das Training sozialer Kompetenzen (TSK) fand außerhalb der Praxis in der Fußgängerzone oder im öffentlich zugänglichen Raum (z.B. Park) einer Kleinstadt statt.
Die vorliegende Fallarbeit ist wie folgt gegliedert: Zunächst wird der theoretische Rahmen der Maßnahmen zur Förderung der Studierfähigkeit skizziert. Dabei wird auch der Begriff Studierfähigkeit definiert: Ist es eine Begabung, eine Fertigkeit oder eine Kompetenz? Anschließend werden Sozialisation sowie Biografie des Klienten beleuchtet sowie die vorliegenden medizinischen Vorbefunde zu J. kursorisch zusammengetragen. Es folgt die psychologische Diagnostik mittels des Inventars sozialer Kompetenzen (ISK) nach Kanning (2009) sowie die Darstellung der Interventionen bezüglich Selbstsicherheit und sozialer Kompetenz sowie der Vermittlung von Selbstmanagement-Fertigkeiten und Entspannungsverfahren.
2 Theoretische Grundlagen der Interventionen
2.1 Zur Begrifflichkeit: Fähigkeit oder Kompetenz?
Begabung alleine genügt für die Aufnahme eines Studiums nicht, man braucht dazu die Hochschulreife, Abitur genannt. Die Studierfähigkeit eines Menschen ist mehr als die Erlangung der Hochschulreife: Sie beschreibt einen Bildungskanon und bestimmte Schlüsselqualifikationen, etwa das Erlernen einer zweiten Fremdsprache (um nur eine beispielhaft zu nennen). Mit dem Begriff „Fähigkeit“ und auch mit dem Begriff „Fertigkeit“ ist das, was ein Studierender an Kompetenzen mitbringen muss, allerdings nur annähernd umrissen.
Auch der Begriff „Kompetenz“ wird oft missverständlich verwendet. „Der ist kompetent!“ heißt es oft in der Alltagssprache, was so viel heißt wie „Der kann das! Der weiß das!“. Kompetenz ist dabei weit mehr als Können und Wissen. Kompetenzen werden dem Individuum weder in die Wiege gelegt noch reifen sie in diesem quasi über Nacht heran. Daher ist die Psychologie auch vom Begriff „Begabung“ (weil sie als angeboren angesehen wird) abgekommen (Asendorpf & Neyer 2018).
Heutzutage gibt es verschiedene Definitionen von „Kompetenz“, etwa eine entwicklungspsychologische und eine motivationspsychologische. White (1959) hat den Begriff competence im Rahmen seiner Forschungsarbeiten zur Motivation in die Psychologie eingeführt. Dabei ging er davon aus, dass Menschen im Rahmen eines Selbstorganisationsprozesses ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten ständig weiterentwickeln bzw. an die Umwelt anpassen. Erpenbeck & v. Rosenstiel (2003) bauen auf Whites Vorarbeit auf, wenn sie diese Definition wählen: „Kompetenzen sind Selbstorganisationsdispositionen des gedanklichen und gegenständlichen Handelns.“ (Erpenbeck & v. Rosenstiel 2003, S. XI)
Bei der Ausbildung von Kompetenzen greifen die Menschen nach Lenbet (2004) auf ihre aktuelle Erkenntnisstruktur (Wissen), ihre geistigen Resultate von Wertungsprozessen (Werte) und ihr individuelles Realisierungsvermögen (Willen) zurück. Bei der Ausformung dieser Kompetenzen lassen sich nach Erpenbeck & Heyse (2007) und Erpenbeck & v. Rosenstiel (2003) vier so genannte Kompetenzklassen unterscheiden: personale, aktivitäts- und umsetzungsorientierte, fachlich-methodische und sozial-kommunikative Kompetenzen. Mit eben diesen Ausformungen von Kompetenzen befasst sich die hier vorliegende Fallarbeit.
Weil es in unserem Beispiel um den Fall eines Studenten mit Defiziten vor allem im Bereich sozialer Fertigkeiten geht, sollen an dieser Stelle die sozial-kommunikativen Kompetenzen (social skills) etwas näher beleuchtet werden. Diese definieren sich als „… Dispositionen, kommunikativ und kooperativ selbstorganisiert zu handeln, d.h. sich mit anderen kreativ auseinander- und zusammenzusetzen, sich gruppen- und beziehungsorientiert zu verhalten, um neue Pläne und Ziele zu entwickeln.“ (Lenbet 2004). Asendorpf & Neyer (2018) definieren soziale Kompetenz etwas unspezifischer als die Fähigkeit einer Person, zwischen Kooperationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit, zwischen Anpassungsfähigkeit und Durchsetzungsfähigkeit ein ausbalanciertes Verhältnis herzustellen. Sozial kompetent handelt demnach derjenige, der sowohl beziehungsfähig als auch durchsetzungsfähig ist. Kanning (2009, S. 22) beschreibt es so: „Das Individuum muss sich für seine eigenen Ziele einsetzen (Offensivität und Selbststeuerung), ohne die Ansprüche anderer Menschen aus dem Blick zu verlieren (Reflexibilität und soziale Orientierung).“
2.2 Methoden zur Problemanalyse und Auswahl der Maßnahmen
Bei der Auswahl und Planung der gesetzten Interventionen orientierte ich mich am Paradigma „Keine Behandlung ohne Diagnose“. Entsprechend nahm ich das Prozessmodell des Problemlösens (Bartling et al. 2016) und das Sieben-Phasen-Modell der Selbstmanagement-Therapie (Kanfer et al. 2012) als Grundlage. Wesentliche Elemente beider Modelle sind die psychologische Diagnostik (Selbstbeurteilungsinstrumente wie das ISK), die horizontale Verhaltensanalyse (SORC-Schema) und die Beschreibung des Verhaltens durch den Klienten (Anamnese, Exploration) selbst. Im Sinne einer Verlaufsdiagnostik konnten im Verlauf der 24 Sitzungen durch die Beobachtung des Verhaltens des Klienten (Rollenspiele im Training sozialer Kompetenzen) der genaue Ablauf und die Auswahl der Maßnahmen modifiziert und evaluiert werden.
2.3 Methoden zur Einübung von (sozialen) Kompetenzen
Wie im folgenden Kapitel noch näher auszuführen sein wird, wies mein Klient in den fachlich-methodischen und den sozial-kommunikativen Kompetenzfeldern erkennbare Defizite auf. Diese wiederum führten in Anlehnung an die bedingungsanalytische Psychotherapie (Ullrich & de Muynck 1998) zu Verhaltensexzessen bzw. –defiziten. Gleichwohl können soziale und personale Kompetenzen durch Coaching, Training oder Beratung aufgebaut und gefördert werden (Lenbet 2004, Helbig-Lang & Klose 2011, Kanning 2015, Bartling et al. 2016).
Eine evidenzbasierte Methode in diesem Zusammenhang ist das Training sozialer Fertigkeiten, das sich aus der Verhaltenstherapie entlehnen lässt (analog zum Shaping): Dazu arbeitet der Therapeut mit dem Klient (Einzelsetting) oder den Klienten (Gruppensetting) in diversen Rollenspielen an den individuellen Schwierigkeiten und Problemen in sozialen Situationen. In einem Modelllauf wird vom Therapeuten bzw. von einem Gruppenteilnehmer ein Coping-Modell für eine bestimmte Situation angeboten, die der Klient daraufhin im Trainingslauf für sich übernehmen kann.
Eine evidenzbasierte Grundlage für das Einüben sozialer Kompetenzen stellt das Assertiveness-Training-Programm (ATP) dar, das Ullrich & de Muynck bereits in den 70er Jahren entwickelt und über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren weiterentwickelt haben (Ullrich & de Muynck 1998). Inzwischen wurde das ATP von anderen Autoren (u.a. Hinsch & Pfingsten 2015, Alsleben & Hand Hrsg. 2013, Güroff 2016) zum Training sozialer Kompetenzen (TSK) weiter- und fortentwickelt. In dieser Fallarbeit stütze ich mich vor allem auf das Trainingsprogramm TSK von Güroff (2016). Im Vordergrund stehen dabei verhaltensorientierte (v.a. Rollenspiele) und ressourcenorientierte Methoden.
3 Falldarstellung
Im vorliegenden Fall geht es um einen 21-jährigen Vollwaisen, bei dem eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert (F33.4), eine soziale Phobie (F40.1) und eine schizoide Persönlichkeitsstörung (F60.1) diagnostiziert worden ist. Die Diagnosen wurden von einem niedergelassenen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie erstellt. Hausärztlich wird der Klient seit vielen Jahren von einem Facharzt für Allgemeinmedizin betreut, zu dem er eine stabile und vertrauensvolle Beziehung aufgebaut hat. Dieser hat ihn wegen seiner Schwierigkeiten im Studium an mich weiterempfohlen. J. ist seit dem Tod seiner Mutter vor etwas mehr als einem Jahr Vollwaise.
Die biografische Anamnese, die psychologische Diagnostik und die Verhaltensanalyse nach dem SORK-Modell erfolgten durch mich.
3.1 Spontan berichtete Symptomatik und Problembeschreibung
J. berichtete, vor einem halben Jahr ein Studium der Betriebswirtschaftslehre aufgenommen zu haben. Sein Hausarzt, der ihn schon seit seiner Kinderzeit behandelt, habe ihn zu mir geschickt, weil er beim letzten Routinetermin (ein Impftermin) über seine Schwierigkeiten beim Studium geklagt habe. Er sei Vollwaise und habe kaum Freunde. Es könne ihm keiner helfen oder Tipps beim Studium geben. Seit einiger Zeit lebe er bei einer Familie in einem ländlich geprägten Ort mit rund 1.000 Einwohnern, rund 15 Kilometer außerhalb der Stadt, in der er studiere. Vermieter sei ein älteres Ehepaar im Ruhestand, dessen Sohn ein früherer Arbeitskollege von ihm sei. Gespräche mit der Familie, bei der er wohne, führe er ungern. Seine persönlichen Schwierigkeiten im Studium gehen anderen doch nichts an. Er fühle sich am wohlsten, wenn er alleine im Zimmer sei und etwas lesen oder Musik hören könne.
Er verspreche sich von mir in erster Linie konkret umsetzbare Tipps und Ideen für den weiteren Studienweg. Er wolle erfahren, wie man in bestimmten Situationen handelt und wie man einen Smalltalk mit anderen Menschen führt. Und er möchte auch insgesamt eine positivere Grundstimmung bekommen und weniger unter innerer Unruhe, Stress und Nervosität leiden. Diese fünf Punkte seien seine Hauptbeweggründe, warum er zu mir komme.
3.2 Biografische Anamnese
J. ist als Sohn einer Landwirtsfamilie aufgewachsen. Beide Elternteile, die inzwischen verstorben sind, waren alkoholabhängig und starke Raucher. Er hat eine fünf Jahre ältere Schwester, die mittelgradig geistig behindert, Mutistin und Autistin ist und in einem Behindertenheim lebt. Seit dem Tod der Mutter ist J. gesetzlicher Betreuer seiner Schwester.
J. berichtet, er sei weder im Kindergarten gewesen noch habe er Spielkameraden zuhause gehabt. Seine Schwester sei in einem Heim untergebracht gewesen, seit er sich erinnern könne. Er habe keinen Besuch anderer Kinder bekommen und auch selbst keine anderen Kinder besucht. Er habe als Vorschulkind viel Zeit vor dem Fernseher verbracht, er habe bis zu sechs Stunden pro Tag ferngesehen. Vor seinem alkoholkranken Vater habe er ständig Angst gehabt, weil dieser cholerisch und aggressiv gewesen sei und ihn oft beschimpft habe.
In der Grundschule und später auch in der Hauptschule habe er sich von den Klassenkameraden ausgegrenzt gefühlt. Er sei aufgrund seiner körperlichen Unterlegenheit immer wieder von ihnen gehänselt, demütigt und geschlagen worden. Er habe sich in allen Jahrgangsstufen gemobbt gefühlt, und er habe grundsätzlich die Außenseiter-Rolle besetzt. J. vermutet, dass es wohl daran liege, dass sein Vater im Ort als Alkoholiker bekannt gewesen sei.
Als Schulkind hätte er sich oft für seine Familie geschämt. Haus und Hof seien sehr chaotisch und verlottert gewesen. Geburtstagsfeiern mit anderen Kindern oder im Kreise der Verwandten habe es nicht gegeben. Weil er keine anderen Kinder zum Spielen eingeladen hätte (weil ihm die Unordnung und der Schmutz peinlich gewesen seien), sei er umgekehrt auch nicht von den anderen eingeladen worden. Er habe schon als Kind wahrgenommen, dass die Nachbarn, die Nachbarskinder und die Dorfbewohner über die Familie getratscht, gelästert und gelacht hätten.
Seinem Vater versuchte er als Kind aus dem Weg zu gehen, um seine Ruhe zu haben. Wenn der Vater ihn zur Arbeit auf dem Feld gerufen hätte, habe er ihm entgegnet, er müsse auf eine Schulaufgabe lernen oder seine Hausaufgaben machen. Sein Kinderzimmer habe sich im ersten Obergeschoß des Anwesens befunden und so sei er dann außerhalb der Reichweite des Vaters gewesen. Der „Ich muss lernen!“-Satz sei durchwegs vom Vater akzeptiert worden. Und so habe er diese Taktik auch bis zu dessen Tod vor zwei Jahren beibehalten.
Bis zum Ende der Schulzeit sei er von seiner Mutter gut versorgt worden, doch habe diese auch am Feld und auf dem Hof mitarbeiten müssen und insgesamt relativ wenig Zeit für ihn gehabt. Das Verhalten der Mutter ihm gegenüber beschreibt J. als brüsk. Sie habe ihn auch nicht in schulischer oder beruflicher Hinsicht unterstützen können, etwa durch Erklärungen, weil sie nur einen einfachen Bildungsabschluss gehabt hätte. An lobende Worte, aber auch an Tadel seitens der Mutter könne er sich nicht erinnern.
Die gesamte Kindheit beschreibt J. im Rückblick als sehr bedrückend und unglücklich. Nestwärme und Liebe unter den Familienmitgliedern habe er keine gespürt. Im Gegenteil: Zwischen seinen Eltern habe es immer nur Ärger, Krach und Streitereien gegeben. Gemeinsame Urlaube, Ausflüge oder sonstige Aktivitäten (Kino, Theater, Sport etc.) habe es nie gegeben. Sehr sporadisch, etwa an Festtagen, habe die Verwandtschaft mal am Hof vorbeigeschaut. Die Großeltern mütterlicherseits wie väterlicherseits seien schon verstorben, als er noch ein sehr kleines Kind gewesen wäre. Zur Dorfgemeinschaft und zu den Nachbarn habe es nur spärlichen Kontakt gegeben. Die Eltern seien in keinem Verein Mitglied gewesen. Auf dem elterlichen Landwirtschaftsbetrieb habe es auch drei Katzen gegeben. J. sei ihnen jedoch aus dem Weg gegangen, weil er an Neurodermitis gelitten habe.
Er habe die Schulzeit zunächst mit dem qualifizierten Hauptschulabschluss („Quali“ genannt) abgeschlossen. Nach dem Quali habe er an einem Grundausbildungs-Lehrgang „Büro/ EDV“ teilgenommen. Anschließend habe er eine dreijährige Ausbildung zum Bürokaufmann absolviert und in der Berufsfachschule für Büroberufe den mittleren Bildungsabschluss nachgeholt. Nach weiteren zwei Jahren an der Berufsoberschule (Wirtschaftszweig) habe er begonnen, Betriebswirtschaftslehre zu studieren.
Das Verhältnis zwischen J. und seinem Vater sei bis zuletzt angespannt gewesen; der Vater sei ihm stets rechthaberisch, sehr ungeduldig und cholerisch aufgetreten. Der Vater habe das, was J. in schulischer oder beruflicher Hinsicht gemacht habe, nur immer schlecht geredet. Es habe kein Lob und keine Aufmunterung gegeben. Besonders, wenn der Vater stark betrunken gewesen sei. J. habe dann zwar keine Schläge kassiert (wie gelegentlich seine Mutter), aber er habe viele Tobsuchtsanfälle, Wutausbrüche und Beleidigungen aushalten müssen. Als sein Vater mit 60 Jahren an einem Speiseröhrenkrebs gestorben sei, habe J. nicht groß um ihn getrauert.
Seine Mutter habe sich zumindest für seinen beruflichen Werdegang und seinen Plan, ein Studium aufzunehmen, interessiert. Sie sei mit 61 Jahren an einer Lungenembolie oder an einem Herzinfarkt verstorben, die genaue Todesursache habe nicht festgestellt werden können. Er wäre einige Wochen traurig gewesen, aber nun habe er sich wieder gefangen. In den ersten Wochen nach dem Tod hätten ihm vor allem zwei ehemalige Arbeitskollegen geholfen. In letzter Zeit habe er jedoch keine große Lust mehr, sie zu treffen, und umgekehrt meldeten sich diese auch nicht mehr so oft bei ihm.
3.3 Diagnosen nach ICD-10
Der behandelnde Arzt hat bei J. eine schizoide Persönlichkeitsstörung (F 60.1), eine soziale Phobie (F 40.1) und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert (F 33.4.), diagnostiziert. Insbesondere die Schizoidie, aber auch die soziale Ängstlichkeit, werden als Folge konstitutioneller Faktoren und sozialer Erfahrungen (emotionale und soziale Deprivation) schon in der späten Kindheit oder Adoleszenz erworben (Dilling & Freyberger 2006). Nachstehend gebe ich die wichtigsten Symptome der drei Störungsbilder wider.
F 60.1 Schizoide Persönlichkeitsstörung
J. berichtet von Störungen in der Affektivität, im Wahrnehmen, Denken und in den Beziehungen zu anderen seit seiner Kindheit. Als Kind zog er sich auf sein Zimmer zurück und beschäftigte sich vor allem mit sich selbst, er schämte sich für seine Familie und lud keine Kinder zu sich ein. Er bevorzugte es, alleine für sich zu spielen, war in keinem Sportverein Mitglied und hatte in der Vorschul- und Schulzeit keine engen Freunde.
Im Gespräch macht er einen kalten, unnahbaren Eindruck, nimmt nicht wahr, wenn andere Menschen den Kontakt zu ihm suchen, hat keinen Wunsch nach engen/ intimen Beziehungen, hat kein Interesse an sexuellen Erfahrungen, findet nur wenige Tätigkeiten spannend und interessant, denkt, dass er die Gesellschaft anderer nicht braucht, ist gleichgültig gegenüber Lob oder Kritik und bevorzugt Tätigkeiten, die er alleine ausüben kann. Darüber hinaus hat J. kein Gespür für geltende soziale Normen und Konventionen.
F 40.1 Sozialphobie J. fürchtet, im Zentrum der Aufmerksamkeit anderer zu stehen oder sich in bestimmten Situationen peinlich oder erniedrigend verhalten zu können. Daher ist er bestrebt, solche Situationen zu vermeiden. Dieses Vermeidungsverhalten beruht nicht auf Wahn- und Zwangsgedanken und es tritt nicht generell gegenüber anderen Menschen auf. Es beschränkt sich vielmehr auf bestimmte soziale Situationen. In den gefürchteten Situationen berichtet J. von massiven körperlichen Symptomen (z.B. Erröten, Zittern, Angst zu erbrechen).
F 33.4 Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert J. hat seit seiner Kindheit immer wieder unter depressiven Verstimmungen gelitten, die länger als zwei Wochen anhielten. In diesen Phasen verliert er das Interesse an Aktivitäten, die normalerweise angenehm für ihn waren. Außerdem ist er in diesen Phasen sehr ermüdbar oder antriebslos. Hinzu kommt dann ein Verlust des Selbstwertgefühls bzw. des Selbstvertrauens. Manche Episoden erstrecken sich auch über mehr als zwei Wochen, etwa über einen Monat. Dazwischen gibt es immer wieder symptomfreie Intervalle von mindestens zwei Monaten. Aktuell besteht bei J. keine depressive Symptomatik.
Der Ausschluss einer somatischen Grunderkrankung (z.B. Schilddrüse, Tumoren) oder einer neurologischen Erkrankung (z.B. Apoplex, Schädel-Hirn-Trauma) ist durch J.s Hausarzt erfolgt. Alle Routineparameter (inkl. Schilddrüsen- und Leberparameter) waren unauffällig.
3.4 Psychologische Diagnostik mittels ISK
Das Inventar sozialer Kompetenzen (ISK) erfasst in seiner Langversion mit 108 Items 17 allgemeine soziale Kompetenzen (so genannte Primärskalen), die sich zu vier übergeordneten Sekundärskalen gruppieren lassen: Soziale Orientierung, Offensivität, Selbststeuerung und Reflexibilität. Diese psychologische Diagnostik in Form einer Selbstbeurteilung wurde von mir ausgewertet und anschließend dessen Ergebnisse (Punktwertsummen, Stanine, Prozentränge) in ein Profilblatt (Anlage A) übertragen. Es zeigt bei J. eine gravierende Abweichung von der Norm bei der Sekundärskala Soziale Orientierung sowie eine erhebliche Abweichung von den Normen bei den Sekundärskalen Offensivität und Reflexibilität (vgl. Anlage A). Lediglich der Stanine-Wert für die Sekundärskala Selbststeuerung (3) gilt als statistisch durchschnittlicher Wert (Kanning 2009). Daher sollen die drei erstgenannten Sekundärskalen mit ihren „Auffälligkeiten“ an dieser Stelle etwas genauer unter die Lupe genommen werden.
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