Die Arbeit beschäftigt sich mit dem Selbstverständnis der Jugendverbände in Südwestafrika in den 1930er Jahren – insbesondere der Pfadfinder. Sie untersucht, welche Einflussfaktoren dieses Selbstverständnis prägten und macht deshalb Identifikationsfiguren und Projektionsflächen aus. Außerdem zieht sie Jugendverbände innerhalb Deutschlands zum Vergleich heran.
Mit dem Ersten Weltkrieg verlor Deutschland seine Kolonien. Rund die Hälfte der Siedler aus Südwestafrika – vornehmlich Beamte, Polizisten und Soldaten – wurden mit ihren Familien ausgewiesen. Die verbliebenen deutschen Siedler erlebten sich – bedingt durch die Mandatsherrschaft und den einhergehenden Macht- und Ansehensverlust – immer mehr als Solidargemeinschaft, Klassenunterschiede verschwanden. Ein ähnliches Moment entwickelte sich innerhalb Deutschlands durch die propagierte ›Volksgemeinschaft‹ in Reaktion auf den Kriegsverlust und die linksrheinische Besatzung. Unter den Nachfahren der ersten und zweiten Siedlergeneration, die ihr ›Vaterland‹ nur aus Erzählungen und Bildungs- und Verwandtschaftsbesuchen kannten, entwickelte sich ein neues Selbstverständnis, das zwischen Vaterlandsehnsucht und Treue zur südafrikanischen Heimat schwankte. Helmut Bley spricht von einer »doppelten Loyalität«.
Während die Jugendbünde in Deutschland zunächst nach Autonomie und einer eigenen, von den Erwachsenen unabhängigen Identität strebten und später ganz in der Identifikation mit dem ›Führer‹ aufgingen, erlebte die »Jugend über dem Meer« die Folgen der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Machtübernahme überwiegend aus der Ferne. Zwar existierten bereits in den späten 1920er Jahren Verbindungen zwischen der NSDAP in Deutschland und den deutschen Siedlern in Südwestafrika. Und ebenso trieb die Partei vor allem durch die sogenannten Kulturvereine in Südwestafrika Propaganda. Doch wurden NSDAP und HJ 1934 im Mandatsgebiet verboten und die jeweiligen Führer des Landes verwiesen. Für die Jugendlichen bedeutete dies einen neuen Identitätskonflikt. Nicht zuletzt deshalb, weil sie von der Mandatsregierung von nun an kritisch beäugt wurden. Die Pfadfinder, die sich bereits Ende der 1920er Jahre entwickelt hatten9, gewannen nun eine verstärkt identitätsstiftende Bedeutung.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Fragestellung und methodisches Vorgehen
1.2. Forschungsstand
2. Einordnung derQuellen
3. Jugend zwischen Weimar und NS-Zeit
3.1. Jugend im deutschen >Vaterland<
3.2. Jugend »über dem Meer«
4. Koloniale Wurzeln der Pfadfinder
5. Identifikationsfiguren und Projektionsflächen
5.1. Ahnenverehrung und Heldentum
5.2. Führerkult und Vaterlandsmotiv
5.3. Kameradschaft und Männlichkeitsideale
6. Fazit
6.1. Zusammenfassung
6.2. Ausblick
6. Literaturverzeichnis
7. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Mit dem Ersten Weltkrieg verlor Deutschland seine Kolonien. Rund die Hälfte der Siedler aus Südwestafrika - vornehmlich Beamte, Polizisten und Soldaten - wurden mit ihren Familien ausgewiesen.1 Die verbliebenen deutschen Siedler erlebten sich - bedingt durch die Mandatsherrschaft und den einhergehenden Macht- und Ansehensverlust - immer mehr als Solidargemeinschaft,2 Klassenunterschiede verschwanden. Ein ähnliches Moment entwickelte sich innerhalb Deutschlands durch die propagierte >Volksgemeinschaft< in Reaktion auf den Kriegsverlust und die linksrheinische Besatzung.3 Unter den Nachfahren der ersten und zweiten Siedlergeneration, die ihr >Vaterland< nur aus Erzählungen und Bildungs- und Verwandtschaftsbesuchen kannten4, entwickelte sich ein neues Selbstverständnis, das zwischen Vaterlandsehnsucht und Treue zur südafrikanischen Heimat schwankte. Helmut Bley spricht von einer »doppelten Loyalität«.5 Während die Jugendbünde in Deutschland zunächst nach Autonomie und einer eigenen, von den Erwachsenen unabhängigen Identität strebten6 und später ganz in der Identifikation mit dem >Führer< aufgingen, erlebte die »Jugend über dem Meer«7 die Folgen der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Machtübernahme überwiegend aus der Ferne. Zwar existierten bereits in den späten 1920er Jahren Verbindungen zwischen der NSDAP in Deutschland und den deutschen Siedlern in Südwestafrika. Und ebenso trieb die Partei vor allem durch die sogenannten Kulturvereine in Südwestafrika Propaganda. Doch wurden NSDAP und HJ 1934 im Mandatsgebiet verboten und die jeweiligen Führer des Landes verwiesen.8 Für die Jugendlichen bedeutete dies einen neuen Identitätskonflikt. Nicht zuletzt deshalb, weil sie von der Mandatsregierung von nun an kritisch beäugt wurden. Die Pfadfinder, die sich bereits Ende der 1920er Jahre entwickelt hatten9, gewannen nun eine verstärkt identitätsstiftende Bedeutung.
1.1. Fragestellung und methodisches Vorgehen
Die Arbeit beschäftigt sich mit dem Selbstverständnis der Jugendverbände in Südwestafrika in den 1930er Jahren - insbesondere der Pfadfinder. Sie untersucht, welche Einflussfaktoren dieses Selbstverständnis prägten und macht deshalb Identifikationsfiguren und Projektionsflächen aus. Außerdem zieht sie Jugendverbände innerhalb Deutschlands zum Vergleich heran. Sie konzentriert sich auf die männlichen Pfadfinder und lässt etwa den kirchlichen Maidenbund und die Jugendgruppen des kolonialen Frauenbundes außen vor.
Als Primärquelle liegt zum ersten das Jahrbuch der deutschen Pfadfinder in Südwestafrika von 1939 (gedruckt 1938)10 vor, an dem sich Führerkult und Vaterlandsmotiv ablesen lassen. Zum zweiten eine Ausgabe von »Der Pfadfinder. Zeitschrift der deutschen Jugend von Südwestafrika« (1938)11, in der Jugendliche selbst zu Wort kommen. Zum dritten ein Sammelband ehemaliger Pfadfinder, der viele Originalquellen aus den 1930er Jahren enthält - etwa persönliche Aufzeichnungen oder aus der Retrospektive geschriebene Artikel der Jugendlichen.12 Und zum vierten ein Schreiben von der »Mittelstelle deutscher Jugend in Europa« in Berlin an Dr. Herrmann Kügler in Kiel zwecks der Suche nach einem Jugendpfleger in Südwestafrika vom Juni 1933.13 In diesem werden die Aufgaben eines Jugendpflegers beschrieben. Hieraus lassen sich Einflussmöglichkeiten Deutschlands ablesen.
1.2. Forschungsstand
Zur konkreten Situation der deutschen Pfadfinder in Südwestafrika (im Folgenden als Pfadfinder SWA bezeichnet) für den angegebenen Zeitraum liegt kaum Forschungsliteratur vor. Arbeiten zu kolonialen und kolonialrevisionistischen Jugendbewegungen (in Deutschland und in Südwestafrika) beschränken sich überwiegend auf die Zeit der Weimarer Republik. So untersuchen Susanne Heyn in ihrer Dissertation »Kolonial bewegte Jugend« (2018)14 und Oliver R. Schmidt in seiner Magisterarbeit »Was Deutschland mit Blut gewann, muss uns wieder gehören und dienen« (2008)15 die kolonialrevisionistische Jugend und zeigen Beziehungen zu Südwestafrika auf. Eine ergänzende Forschung liefert die Dissertation von Joachim Nöhre »Das Selbstverständnis der Weimarer Kolonialbewegung im Spiegel ihrer Zeitschriftenliteratur« (1998).16
Mit den oben genannten Forschungen schlägt die vorliegenden Arbeit eine Brücke zur eigenen Periode und zeigt Kontinuität und Wandel auf. Die Arbeit versucht, ihr Thema vorwiegend aus Primärquellen zu erschließen. Der weiteren Kontextualisierung dienen die Forschungen zu deutschen Pfadfindergruppen im Allgemeinen und die Literatur zur Lebenswirklichkeit der Namibia-Deutschen.
Die Geschichte der Pfadfinder wird häufig im erziehungs- und politikwissenschaftlichen Kontext aufgegriffen. So beschäftigt sich der Erziehungswissenschaftler Wilfried Breyvogel mit den Pfadfindern als Teil der Jugendbewegung.17 Auch Matthias D. Witte hat sich dem Thema als (Mit)-Herausgeber mehrerer Sammelbände gewidmet. In »Pfadfinden. Eine globale Erziehungsund Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht« (2012)18 findet sich ein Beitrag von Arndt Weinrich, welcher die Schnittmengen und Differenzen zwischen der HJ und der Pfadfinderbewegung aufzeigt und deutlich macht, wie sich die Nationalsozialisten pfadfinderischer Erziehungsmethoden bedienten.19
Zur Lebenswelt der Namibia-Deutschen existieren eine Reihe kulturwissenschaftlicher, sozialgeschichtlicher und postkolonialer Forschungen. Martin Eberhardts »Zwischen Nationalsozialismus und Apartheid.« (2007)20 erklärt den Führerkult vieler Namibia-Deutscher - auch der Pfadfinder - in den 1930er und 40er Jahren und zeigt Verbindungen zwischen dem Nationalsozialismus und der südafrikanischen Apartheids-Politik.
Der Historiker Daniel Joseph Walthers schildert in »Creating Germans Abroad« (2002)21, wie sich die heterogenen Gruppen deutscher Auswanderer aus unterschiedlichen sozialen Klassen nach dem Ersten Weltkrieg als einheitliche ethnische Gruppe zu konstituieren bemühten. Dabei spielte der Nationalgedanke eine ebenso große Rolle wie die Abgrenzung von den Buren, die propagierte weiße Suprematie und die als typisch deutsch geltenden Werte Disziplin und Sparsamkeit.
Mit der deutschen Identitätsbildung in Namibia beschäftigt sich seit den 1990er Jahren die Ethnologin Brigitta Schmidt-Lauber - etwa in ihrer Mono- grafie »Die abhängigen Herren« (1993)22. Sie beschreibt, wie deutsche Siedler mit den verschiedenen Machtwechseln umgingen und die Symbolbegriffe »Heimat« und »Staatsbürgerschaft« zur Entwicklung und Aufrechterhaltung ihres Selbstverständnisses nutzten.
Schlussendlich bieten die Arbeiten Hennig Melbers einen umfassenden Blick auf Namibia und seine Ethnien.23 Seine Werke umspannen unterschiedliche Perioden in der Geschichte des Landes, lassen aber teilweise eine eigene politische Meinung durchblicken. Melber betätigte sich in den 1970er Jahren als politischer Aktivist für die Befreiungsbewegung der SWAPO Party of Namibia und war zwischen 1994 und 2000 Vorsitzender der Namibisch-Deutschen Stiftung für kulturelle Zusammenarbeit.24
2. EinordnungderQuellen
Die Zeitschrift »Der Pfadfinder« sowie das »Jahrbuch 1939 der Deutschen Pfadfinder von Südwestafrika« sind in der südafrikanischen Stadt (heute namibianische Hauptstadt) Windhuk geschrieben und gedruckt worden. Windhuk nahm in der Kolonisierungsgeschichte Südwestafrikas eine tragende Rolle ein, unter anderem als Schauplatz der Vernichtungskriege deutscher Soldaten gegen die Herero und Nama, von denen das öffentlich zur Schau gestellte Reiterdenkmal zeugt, das im Jahrbuch der Pfadfinder mit Stolz erwähnt wird. Überhaupt wirkt das Jahrbuch überwiegend patriotisch-pathetisch. Die Pfadfinder betonen ihre Treue zur deutschen Heimat und blicken mit Verehrung auf die >Kriegshelden< der Schutztruppen zurück. Bereits im Vorwort wird deutlich, zu welchem Zweck das Jahrbuch verlegt wurde. Neben der Betonung der Jugend und dem Aufruf, dem Ruf ebendieser zu folgen und sich der Gemeinschaft anzuschließen, steht hier:
»Gleichzeitig soll aber dies Jahrbuch auch die Erinnerung wachrufen an das, was Generationen vor uns leisteten. Sei es in der Entwicklungsgeschichte dieses Landes, im Weltkrieg, oder in der Nachkriegszeit. Wir, als deutsche Jugend fühlen uns durch Blut und Erinnerung mit der deutschen Geschichte und Gegenwart unlöslich verbunden. Es ist unsere stolzeste Pflicht, diese Erinnerung hochzuhalten und zu pflegen. Über alles Kleine hinweg leitet uns die große, klare und verbindende Idee: Die Fahne! UnserVolkstum!«25
Hier werden mehrere Topoi bedient: Die Pfadfinder blicken stolz auf die deutsche Siedlungsarbeit zurück - ein typischer Topos des weißen >Kultur- menschem, der zunächst ein Land erobert, dann erschließt und schließlich durch Missionierung und Bildung >hebt<. Außerdem werden hier bereits die >Blut-und-Boden<-Mentalität und die Vaterlandstreue deutlich - etwa im Fahnenmotiv.
Auch der Geschichte der Pfadfinder ist ein Kapitel gewidmet.26 Nach eigenen Angaben hatten sich »die >Windhuker Pfadfinder [...] unter der Führung Pastor Schünemanns aus einem christlichen Verein entwickelt.« Diese erste Gruppe habe sich mit dem Jugendbund aus Swakopmund getroffen und sei dabei in Uniform aufgetreten, was die übrige Jugend motiviert habe, eigene Pfadfindergruppen zu gründen. Beim ersten Landestreffen in Omaruru 1928 seien einheitliche Richtlinien aufgestellt worden und Schünemann habe die zentrale Führung übernommen. Die Führung habe mehrmals gewechselt, 1934 habe man sich in der HJ zusammengeschlossen. Eine »machtvolle Kundgebung« von 1200 Jugendlichen am deutschen Jugendtag in Windhuk im gleichen Jahr habe »das Verbot der HJ und die Ausweisung des Landesjugendführers« (NSDAP-Funktionär Erich v. Loßnitzer) nach sich gezogen. 1935 sei schließlich der »Bund Deutscher Pfadfinder von Südwestafrika« gegründet worden. 1937 habe »die Mitgliederzahl Tausende« erreicht.
Bei dem Jahrbuch handelt es sich um einen Taschenkalender, der mit Gedichten, Erzählungen, Nachrufen / Laudatien und Tipps zum Lagerleben - wie beispielsweise einer Anleitung zum Packen von Tornistern - gespickt ist. Das Jahrbuch diente dazu, >wichtige< Gedenktage nicht zu verpassen und eine Identifikation mit den Idealen der Pfadfindergruppe zu schaffen. Außerdem konnten Lagererlebnisse protokolliert und ein eigener Familienstammbaum angelegt werden, der dem des Ariernachweises ähnelt. Generell gibt das Jahrbuch die nationalsozialistische Ideologie deutlich stärker wieder, als die anderen Quellen. Dies mag daran liegen, dass es ausschließlich privat genutztwurde und man somit keine Angst vor Missbilligung haben musste.
Die Zeitschrift »Der Pfadfinder« ist ein Sammelsurium an Artikeln unterschiedlicher Darstellungsform. Häufig zu finden sind Reportagen oder subjektive Erlebniserzählungen sowie Kommentare zum eigenen Selbstverständnis. Die Zeitschrift ruft auf beinahe jeder Seite zur Gemeinschaft auf und diskreditiert jene mit sanften aber mahnenden Worten, die sich ihr nicht anschließen oder ihren Werten nicht entsprechen wollen. In der Erstausgabe 1938 erklärt die Redaktion - die Deutschen Pfadfinder von Südwestafrika - ihre Statuten:
»>Der Pfadfinder treibt genau so wenig Politik wie die deutsche Jugend dieses Landes selbst [...]. Er dient der Organisation. Er soll Wissen vermitteln, Wege aufzeigen, Ziele setzen, mithelfen sie zu erreichen. Er soll Freund und Kamerad eines jeden deutschen Jungen und Mädels in unserem Lande sein. [...] Er soll jene Verbindungen mitschaffen helfen, die uns alle zu einer festen Gemeinschaft zusammenhält. [...] Und wenn das erst klein ist, was da steht, so wissen wir, daß das gut so ist, denn >der Mensch wächst mit seinen Aufgaben.<«27
Obwohl die Pfadfinder behaupten, dass sie mit ihrer Zeitschrift keine Politik machen wollten - eine Behauptung, die Martin Eberhardt widerlegt hat28 - hatte die Zeitschrift eine politische Dimension. Die Artikel sind zwar aus subjektiver Sicht geschrieben, lassen jedoch klare pädagogische und politische Leitlinien erkennen. Die Pfadfinder erklären ihr Ziel, den gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Zudem bekennen sie sich zu Tugenden wie Entschlossenheit, Willenskraft und Disziplin. Dies und die Tatsache, dass die meisten Artikel von den Jugendlichen selbst stammen, erinnern an die Selbstorganisation der Jugendbünde der Weimarer Republik in Deutschland29, sowie an die HJ, die ähnlich organisiert war.30 Nicht vergessen werden darf, dass bei dem Pfadfinderkonzept von Anfang an ein pädagogisches Moment mitschwingt und die Älteren den Jüngeren gegenüber die Funktion eines Erziehers einnehmen.
Bei den gesammelten Quellen aus dem 1987 erschienenen Band »Die Deutschen Pfadfinder in Südwestafrika« handelt es sich (laut Herausgeber) um Transkripte von Originalaufzeichnungen oder aus der Erinnerung wiedergegebenen Beschreibungen. Dies bestätigt die Tatsache, dass die Namen einiger Autoren auch in thematisch ähnlichen Quellen aus dieser Zeit auftauchen. Trotzdem kann man vermuten, dass nur jene Quellen abgedruckt wurden, die man selbst preisgeben wollte. Auch kann nicht beurteilt werden, ob und wie Textänderungen - z.B. in Form von Kürzungen - vorgenommen wurden. In ihrem Vorwort erklären die Herausgeber:
»Bei der Zufälligkeit der nach fünfzig Jahren verfügbaren Quellen lassen sich Lückenhaftigkeit und Überschneidungen schwer vermeiden, sodaß ein Gesamtbild in einigen Teilen unter-, in anderen überbelichtet erscheinen wird. Es versteht sich am Rande, daß eine Darstellung aus eigenen Aufzeichnungen und Erinnerungen in eigenerSache (pro domo)spricht.«31
3. Jugend zwischen Weimar und NS-Zeit
Schon zu Beginn der Weimarer Republik bekam >Jugend< Symbolcharakter. Wie Barbara Stambolis schreibt, verbanden vor allem die Parteien aus dem Mitte-Rechts-Spektrum die Hoffnung, die Jugend werde Deutschland zu einer neuen, stärkeren Identität verhelfen.32 Hintergründe waren der als Schmach empfundene Kriegsverlust und die Umkehr kolonialer Herrschaftsverhältnisse durch die Rheinlandbesetzung und den Verlust der Kolonialmachtstellung.
3.1. Jugend im deutschen >Vaterland<
Der Weltkrieg und seine Folgen hatten auch das Selbstverständnis der Jugendlichen verändert. Detlev Peukert nennt sie deshalb die »überflüssige Generation«. Sie hatte durch die Weltwirtschaftskrise mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen.33 Zudem waren sie in den meisten Fällen ohne Vater aufgewachsen, der im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft genommen worden war. Winfried Speitkamp erklärt, wie das »vaterlose Aufwachsen« dazu führte, dass die Jugendlichen das patriarchalische und autoritäre Erziehungsmodell hinterfragten.34 Gründe hierfür waren einerseits die hohe Arbeitslosigkeit und die scheinbare Machtlosigkeit der Politiker, andererseits die Emanzipation der Frauen und die Traumatisierung der Männer, die als Kriegsverlierer zurückkehrt waren. Der Funktionsverlust der Kernfamilie mündete in Orientierungslosigkeit und emotionaler Unsicherheit der Jugendlichen. Diejenigen, die trotz Krise eine Arbeit fanden, erfuhren aufgrund der neuen gewerblich-technisierten Arbeitswelt und der Modernisierung auch ein neues Selbstverständnis durch mehr soziokulturelle Unabhängigkeit und materielle Sicherheit, die wiederum zu mehr Konsum und zum Aufstieg der Massenkultur führten.35
Teile der Jugend bemängelten diesen »Kulturverfall« der Massengesellschaft und sahen darin »Undeutsches«.36 Ähnlich wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich junge Romantiker von der Industrialisierung abwandten, schlossen sich nun vor allem Wandervögel und Pfadfinder in selbstständig organisierten Ringen, Bünden und Orden der sogenannten hündischen Jugend zusammen. Eine besondere Stellung nahm dabei der Bund Deutscher Kolonialpfadfinder ein, der an alten Expansions- und Großmachtsvorstellungen festhielt.37 Speitkamp bezeichnet die Bünde als Subkulturen, die sich jenseits der Erwachsenen und der etablierten Gesellschaft organisierten.38
Jugend wurde aber auch durch politisch wirkende Institutionen und Verbände, wie der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) beeinflusst, die - vor allem in der Anfangszeit der Weimarer Republik - kolonialrevisionistische Propaganda machten und mit dem Rohstoff- bzw. Absatzmarkt- und dem Lebensraummotiv argumentierten.39
Schmidt hat unter anderem die Kolonialjugend in der Weimarer Republik untersucht, die in der Zeitschrift »Jambo« für ihre Ideale warb. Auch hier zeigen sich Kolonialrevisionismus und Gemeinschaftsgeist:
»Unsere koloniale Jugendarbeit muß zu einer wahren, starken Bewegung werden, die aus der Jugend herauskommt und von ihr getragen ist. [...] Es kommt nicht auf die Masse der Mitglieder an, sondern auf den Wert, der durch ihre Mitarbeit bestimmt wird. [...] Unser ständiges Ziel muss sein: Wir müssen eine Macht werden!«40
Die Jugend in der Weimarer Republik war also sowohl durch bislang noch nie dagewesene Autonomie, als auch Identitätssuche gekennzeichnet, die wiederum politische Einflussnahme von außen ermöglichte. So kann auch der Erfolg der HJ ab den 1930er Jahren erklärt werden. Wie bei der Bündischen Jugend war auch bei der HJ ein zentrales Element die Selbstorganisation. Sie wirkte als Bindeglied über soziale Grenzen hinaus. Die ehrenamtlichen Führer und Führerinnen waren selbst noch Jugendliche und in der Regal nur etwa zwei Jahre älter, als die von ihnen geführte Gruppe.41 Massenveranstaltungen, insbesondere Auftritte Adolf Hitlers, halfen den Jugendlichen, sich selbst als wichtiges Glied eines großen Ganzen zu sehen.42 Der Führerkult war ein Element, das die Jugend in Deutschland mit den Pfadfindern SWA teilte. Letzteren diente er wahrscheinlich noch stärker zur Orientierung und Identitätsbildung als »Deutsche«.
3.2. Jugend »über dem Meer«
»Wir wollen eine Jugend, die über alles Kleine hinwegsieht und immer nur das Große erkennt. Unsere Erfolge beweisen uns, daßwiraufdem richtigen Weg sind.«43
Diese Worte von Willi Ahrens - Landesjugendführer der Pfadfinder und Verfechter der nationalsozialistischen Ideologie, auch wenn er versuchte, dies nach außen zu verbergen44 - fassen zusammen, wie sich die Pfadfinder SWA in ihrem Selbstverständnis begriffen: Als Gemeinschaftsorganisation, die Großes vor hat und keinen Zweifel hegt, dies auch zu erreichen. Damit unterscheidet sich die Jugendbewegung in ihrer - oft an nationalistischen Kriterien ausgerichteten - Vermessenheit kaum von jener im >Vaterland<. Zentrale Themen waren Kameradschaft, Entdeckungserlebnis und Vaterlandstreue. Gera- de weil man in einem »weiten, freien Lande« lebe, fühle man sich »der gemeinschaftlichen Aufgabe [...] doppelt verpflichtet.«45 Ein Appell aus »Der Pfadfinder« an jene, die sich noch nicht vom Gemeinschaftsgeist hatten anstecken lassen, wirbt mit folgender Argumentation:
»Mein lieber Freund, was du das von Freiheit piepe, schnuppe usw. sagst - merkst du nicht, daß du damit noch im vergangenen Jahrhundert lebst? Hast du geträumt? Lebst du nicht in der Zeit und in der Gemeinschaft, oder hast du nur so durch die Welt gedöst? Du willst deine Freiheit in diesem Lande, deine Sonne, du willst in Ruhe gelassen sein? Für uns heißt Freiheit hier: Verantwortung!«46
Der Sammelband »Die Deutschen Pfadfinder in Südwestafrika« beschreibt, wie Verantwortung innerhalb der Pfadfindergemeinschaft verstanden wurde. Stolz erzählen mehrere Jugendliche vom Ausbau eines Jugendheims an der »Sturmvogelbucht«. Eduard Storm schreibt:
»Was war nun eigentlich los in Sturmvogelbucht? Mit Sonntagen läßt sich doch sicher etwas anderes anfangen [...]- aber bestimmt nichts Besseres. Da haben wir aus einer alten Baracke, die da jahrelang unbenutzt und baufällig im Gelände stand, ein hübsches, schmuckes Heim für die deutsche Jugend gebaut.«47
Sein Kamerad R. Kratz berichtet in allen Einzelheiten, wie die kleinen Kameraden Sand aus dem Haus schaufelten, während die Älteren das Dach neu deckten. Auch von dem »starkem Südwestwind« habe man sich nicht abhalten lassen und alles sei »ruck - zuck« gegangen. Tischlerlehrling H. Schönau schreibt, wie er aus alten Zierleisten neue Latten zimmerte.48
Das Gefühl, dass alles, was man tat, der Gemeinschaft zugute kam, trug sicher zu diesem Arbeitseifer bei. »Der Pfadfinder« schreibt:
»Denn jeder Mensch ist ein wertvoller Teil der Gemeinschaft, der Verantwortung tragen kann: sei ihm das Gefühl dafür angeboren oder anerzogen. Bei dauernder Schulung durch andere, doch aber vor allen Dingen auch von sich selbst aus, können sie das Verantwortungsgefühl erwerben; so daß es ihnen in Fleisch und Blut übergeht. Doch guter ausdauernder Wille ist dazu nötig. Und den können wir bestimmt mitbringen, wenn es heißt: Trage die Verantwortung mit Verantwortungsgefühl«49
Hier wird deutlich, dass es trotz aller Sinn- und Identitätssuche nicht um Individualität ging, denn selbst jener, dem das geforderte Gefühl von Verantwortung nicht angeboren sei, könne sie anerzogen bekommen, bis es ihm »in Fleisch und Blut übergeht.«
[...]
1 SCHMIDT-LAUBER, Brigitta, Die abhängigen Herren. Deutsche Identität in Namibia, LIT Verlag, Münster 1997
2 Ebd. S. 70
3 Als Überblick: WILDT, Michael, Die Ungleichheit des Volkes. 'Volksgemeinschaft' in der politischen Kommunikation der Weimarer Republik in: WILDT(Hg.); BAJOHR (Hg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Geschichte des Nationalsozialismus, Fischer Verlag Taschenbuch, Frankfurt 2009 (S. 24-40)
4 HEYN, Susanne, Kolonial Bewegte Jugend. Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Südwestafrika zur Zeit der Weimarer Republik, aus der Reihe Histoire, Bd.133, transcript Verlag, Bielefeld 2018 (S. 11 f.)
5 BLEY, Helmut, Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914, Leibniz Verlag Hamburg 1968 (S. 240)
6 HEYN, Kolonial bewegte Jugend (S. 39)
7 Die sogenannte »Jugend über dem Meere« war ein vielgenutzter Begriff in kolonialrevisionistischen Kreisen und in der Jugendbewegung der Weimarer Republik und der frühen NS-Zeit.
8 SCHMIDT-LAUBER, Abhängige Herren (S. 74 f.)
9 Deutsche Pfadfinder von Südwestafrika (Hg.), Jahrbuch 1939 der Deutschen Pfadfinder von Südwestafrika, Verlag John Meinert Ltd, Windhuk 1938, Deutsche Nationalbibliothek, Archiv Leipzig, ZA 26853 (S79)
10 Bibliographische Angaben auf S. 1
11 Der Pfadfinder. Zeitschrift der deutschen Jugend von Südwestafrika, H 8 vom 10.09.1938, Verlag John Meinert Ltd., Windhuk, ADJB Bestand Z Nr. Z/100/2718
12 Die Deutschen Pfadfinder in Südwestafrika. Von ihren Anfängen bis zum Jahre 1939, herausgegeben im Selbstverlag in Gemeinschaftsarbeit ehemaliger Pfadfinder und Pfadfinderinnen, Druckerei John Meinert Ltd. Windhuk 1987
13 »Aufgaben eines deutschen Jugendpflegers in Südwestafrika«. Schreiben von der Mittelstelle deutscher Jugend in Europa in Berlin an Dr. Hermann Kügler in Kiel vom 15.6.1933, AdJB Bestand A187 Nr. 25
14 Bibliographische Angaben auf S. 1
15 SCHMIDT, Oliver R., "Was Deutschland mit Blut gewann, muss uns wieder gehören und dienen!". Kolonialismus und Jugend in der Weimarer Republik, Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2008
16 NÖHRE, Joachim, Das Selbstverständnis der Weimarer Kolonialbewegung im Spiegel ihrer Zeitschriftenliteratur, Uni Press Hochschulschriften Bd. 103, LIT Verlag, Münster 1998
17 Zu nennen ist hier unter anderem ein interessanter Sammelband, der sich mit Pfadfinderinnen beschäfltigt und in Teilen auch die NS-Zeit und die Eingliederung der Pfadfinderinnenverbände in den BDM thematisiert.: BREYVOGEL, Wilfried (Hg.); BREMER, Helmut (Hg.), Die Pfadfinderinnen in der deutschen Jugendkultur. Von der Gründung über die Eingliederung in den BDM zu Kodedukation und Genderdebatte, Springer VS, Wiesbaden 2020. Außerdem interessant: BREYVOGEL, Wilfried (Hg.), Pfadfinderische Beziehungskonflikte und Interaktionsstile. Vom Scoutismus über die hündische Zeit bis zur Missbrauchsdebatte, Springer VS, Wiesbaden 2017
18 WITTE, Matthias D. (Hg.), Pfadfinden weltweit. Die Internationalität der Pfadfindergemeinschaft in der Diskussion, Springer VS, Wiesbaden 2015
19 WEINRICH, Arndt, Hitler-Jugend und Pfadfinderbewegung. Schnittmengen und Differenzen am Beispiel des Langemarck-Gedenkens, in: CONZE (Hg.); WITTE (Hg.), Pfadfinden. Eine globale Erziehungs- und Bildungsidee aus interdisziplinärer Sicht, Springer VS, Wiesbaden 2012 (S. 53 - 66)
20 EBERHARDT, Martin, Zwischen Nationalsozialismus und Apartheid. Die deutsche Bevölkerungsgruppe Südwestafrikas 1915-1965, LIT Verlag, Münster 2007
21 WALTHER, Daniel Joseph, Creating Germans Abroad. Cultural Policies and National Identity in Namibia, Ohio University Press, Ohio 2002
22 Bibliographische Angaben auf S. 1
23 Als Beispiel und Quellensammlung: MELBER, Henning (Hg.), In Treue fest, Südwest. Eine ideologiekritische Dokumentation von der Eroberung Namibias über die deutsche Fremdherrschaft bis zur Kolonialapologie der Gegenwart, Reihe: Edition Südliches Afrika, Bd. 19, ISSA Verlag, Bonn 1984
24 Zur Biographie: https://de.wikipedia.ora/wiki/Hennina Melber, aufgerufen am 26.12.2020, zuletzt aktualisiert am 30.9.2020
25 Jahrbuch Pfadfinder, Vorwort (S.7), Autor: Willi Ahrens
26 Alle Informationen dieses Absatzes aus: Ebd. S. 79
27 Der Pfadfinder, 1. Jahr, Folge 1 vom 5.2.1938 (Titelseite), zitiert nach Deutsche Pfadfinder in Südwestafrika (S. 154)
28 Über die Politik der Pfadfinder schreibt EBERHARDT, Zwischen Nationalsozialismus und Apartheid (S. 293 f.)
29 Zur Selbstführung der hündischen Jugend siehe SPEITKAMP, Winfried, Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 1998 (S. 184)
30 Zur Selbstführung der HJ siehe MILLER-KIPP, Gisela, "Verführerische" Offerte. Herrschaftsfunktion und politische Psychologie der Hitler-Jugend in: WAGNER (Verantw.), Zwischen Verfolgung und "Volksgemeinschaft". Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus, aus der Reihe: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung, Wallstein Verlag, Göttingen 2020 (S. 27)
31 Die Deutschen Pfadfinder in Südwestafrika (Vorwort)
32 STAMBOLIS, Barbara, Mythos Jugend - Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Wochenschau Verlag, Schwalbach im Taunus 2003 (S. 13 u. 21)
33 PEUKERT, Detlev J. K., Alltagsleben und Generationserfahrungen von Jugendlichen in der Zwischenkriegszeit in: DOWE, Dieter (Hg.), Jugendprotest und Generationenkonflikt in Europa im 20. Jahrhundert. Deutschland, England, Frankreich und Italien im Vergleich, Verlag Neue Gesellschaft, Köln 1986 (S. 143)
34 SPEITKAMP, Jugend in der Neuzeit (S. 169)
35 HEYN, Kolonial bewegte Jugend (S. 38)
36 PEUKERT, Detlev J.K., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, edition suhrkamp, Frankfurt 1987 (S. 98 f.)
37 An den Zeitschriften der Kolonialpfadfinder lassen sich Selbstverständis und politische Einstellung ablesen. Zu nennen sind hier unter anderem die Zeitschriften »Der Kolonialspäher. Jugenblätter des Bundes Deutscher Kolonialpfadfinder«, »Kreuz und Lilie. Jugendzeitschrft des Deutschen Kolonialpfadfinder-Bundes« und »Jambo. Koloniale Monatschrift der jungen Deutschen«
38 SPEITKAMP, Jugend in der Neuzeit (S. 184)
39 NÖHRE, Selbstverständnis der Weimarer Kolonialbewegung (S. 93-113)
40 Jambo 3 (1926), S. 86 zitiert nach SCHMIDT, Oliver, Kolonialismus und Jugend in der Weimarer Republik (S. 75)
41 MILLER-KIPP, »Verführerische« Offerte (S. 26 f.)
42 Ebd. (S. 29)
43 Jahrbuch (S. 7), Autor: Willi Ahrens
44 EBERHARDT, Zwischen Nationalsozialismus und Apartheid (S. 293 f.)
45 Der Pfadfinder, 1. Jahr, Folge 8 vom 10.9.1938 (Titelseite)
46 Der Pfadfinder, 1. Jahr, Folge 8 vom 10.9.1938 (Titelseite)
47 Die Deutschen Pfadfinder von Südwestafrika (S. 80)
48 Ebd. (S. 80 f.)
49 Der Pfadfinder, 1. Jahr, Folge 8 vom 10.9..1938 (S. 7)